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Friedensforscher: Ein Präventivkrieg gegen den Irak wäre ungerechtfertigt und schädlich

Eine Stellungnahme des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg

Nachfolgende Stellungnahme gaben die unterzeichnenden Wissenschaftler am 23. September 2002 an die Öffentlichkeit. Die Internetadresse des Instituts lautet: www.ifsh.de


Geht vom Irak eine akute Bedrohung aus?

Seit Januar diesen Jahres wiederholen Vertreter der amerikanischen Administration mit unterschiedlichen Begründungen und in wechselnder Intensität die Ankündigung eines militärischen Vorgehens gegen den Irak. Die derzeitige Argumentation, vorgetragen von verschiedenen hochrangigen Amtsträgern, geht von der Überzeugung aus, dass die irakische Führung versuche, die Verfügung über nukleare Waffen zu erlangen. Bis ein tatsächlicher Einsatz solcher Waffen gegen die Vereinigten Staaten den Verdacht erweise, könne man jedoch nicht warten. Deshalb sei ein vorheriger Regimewechsel unabdingbar. Darunter wird der Sturz bzw. die Beseitigung Saddam Husseins verstanden.

Dem entgegen bestätigen in den jüngsten Tagen getroffene Feststellungen unabhängiger Institutionen und Persönlichkeiten die Behauptung einer akuten Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen in der Hand Bagdads nicht:
  • Die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) in Wien erklärt, dass ihr keine neueren Informationen über ein irakisches Atomprogramm vorliegen.
  • Das Londoner Institut für Strategische Studien (IISS) zieht in einer Studie den Schluss, dass der Irak zur Herstellung nuklearer Waffen nur in der Lage ist, wenn es ihm gelingt, spaltbares Material aus dem Ausland zu erhalten.
  • Das Carnegie Endowment for International Peace in Washington verweist auf das Fehlen jeglicher Trägermittel interkontinentaler Reichweite für Massenvernichtungswaffen.
  • Der ehemalige amerikanische UN-Waffeninspekteur Scott Ritter bezweifelt, dass der Irak gegenwärtig die Fähigkeit besitzt, einsetzbare Massenvernichtungswaffen herzustellen.
  • Der designierte Leiter der neuen UN-Waffenkontrollkommission, der Schwede Hans Blix, teilt diese Zweifel.
  • Sein Vorgänger, der Australier Richard Buttler, vertritt die Auffassung, dass die irakische Führung möglicherweise noch vorhandene Massenvernichtungswaffen allenfalls zur Sicherung ihrer eigenen Existenz, nicht aber für terroristische Anschläge nutzen würde.

Hat die jüngste Bush-Rede die Kriegsgefahr verringert?

Vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen hat der amerikanische Präsident am Donnerstag vergangener Woche die Weltorganisation und das durch sie repräsentierte System internationaler Sicherheit seiner Wertschätzung versichert. Er werde mit ihr zusammenarbeiten, um ihren Beschlüssen zur Geltung zu verhelfen. Der Eindruck der Abkehr vom unilateralistischen Kurs und der Hinwendung zu einer gemeinschaftlichen Politik entstand. In den zurückliegenden Monaten hatte sich UN-Generalsekretär Annan in mehreren Gesprächsrunden mit dem irakischen Außenminister Sabri bemüht, die Wiederzulassung der 1998 abgebrochenen Vor-Ort-Inspektionen von Waffendepots und Produktionsanlagen auf dem Verhand-lungsweg zu erreichen.

Die Rede Bushs wäre missverstanden, würde sie als amerikanische Bereitschaftserklärung gedeutet, sich wieder der Autorität der Vereinten Nationen unterzuordnen. Im Gegenteil ist die Regierung in Washington keinen Fingerbreit von ihren bisherigen Ankündigungen gegenüber dem Irak abgerückt - weder von der Zielsetzung des Regimewechsels, noch von der Strategie der gewaltsamen Erzwingung. Dazu Präsident Bush: "Wir werden mit dem UN-Sicherheitsrat an den notwendigen Resolutionen arbeiten. Aber an den Absichten der Vereinigten Staaten sollten keine Zweifel bestehen. Die Resolutionen des UN-Sicherheitsrates werden umgesetzt - oder ein Vorgehen gegen den Irak wird unvermeidlich. Ein Regime, das seine Legitimität verloren hat, wird auch seine Macht verlieren."

Die dem Irak zu setzenden Fristen und anzudrohenden Schritte, so der Präsident am Tag nach seinem Auftritt in New York, sollen "nicht erst in Monaten, sondern in Tagen oder Wochen" beschlossen werden. Dem Ultimatum der Vereinten Nationen an den Irak geht das Ultimatum der USA an die Vereinten Nationen voran.

Mit fünf Forderungen konfrontiert die Bush-Rede das Regime in Bagdad. Es soll:
  • alle Massenvernichtungswaffen zerstören,
  • jegliche Unterstützung des Terrorismus unterlassen,
  • die Verfolgung der Zivilbevölkerung beenden,
  • alle Vermissten aus dem Golfkrieg freilassen,
  • jeden Handel außerhalb des Programms "Öl für Nahrung" einstellen.
Es sind Forderungen, die ihrer teils vagen, teils maximalistischen Formulierung wegen nicht überprüft werden können, was umgekehrt heißt: Forderungen, deren Missachtung sich unwiderlegbar behaupten lässt. Sie eignen sich folglich zur Begründung von Gegenmaßnahmen beliebiger Art. Auffälligerweise findet sich die konkrete und verifizierungsfähige Forderung nach Fortsetzung der Waffeninspektionen nicht darunter.

Gibt es eine Alternative zum militärischen Vorgehen?

Seit zwölf Jahren unterliegt der Irak einem einschneidenden Finanz- und Handelsembargo. Dessen verheerende Folgen bekommen nicht Saddam Hussein und sein engeres Herrschaftspersonal zu spüren, wohl aber die übrigen 18 Millionen Iraker. Der einst wohlhabende Ölstaat liegt heute in der Spitzengruppe der Länder mit unverhältnismäßig hoher Säuglings- und Kindersterblichkeit. Die Unterorganisationen der Vereinten Nationen führen den Missstand auf sanktionsbedingte Ernährungsmängel und unzureichende medizinische Versorgung zurück.

Im Norden und Süden des Landes sind fast die Hälfte des irakischen Territoriums vom übri-gen Staatsgebiet faktisch abgetrennt. Regelmäßig bombardieren amerikanische und britische Kampfflugzeuge rechtswidrig Ziele im Irak.

Die bis heute fortgeltenden Wirtschaftssanktionen wurden 1990 als Antwort der internationalen Gemeinschaft auf die bewaffnete Aggression des Irak gegen das Nachbarland Kuwait verhängt. Sie wurden 1991 über das Kriegsende hinaus verlängert, diesmal um den Entwaffnungsauflagen an die irakischen Streitkräfte Nachdruck zu verleihen. Den Zusammenhang zwischen dem Sanktionsregime und der Erfüllung von Abrüstungsverpflichtungen bekräftigen mehrere Irak-Resolutionen der Vereinten Nationen.

Es trifft nicht zu, dass die derzeitige Regierung in Bagdad die begründete Forderung nach weiteren Waffeninspektionen mit einem verstockten Nein beantwortet. Sie hatte sich bisher lediglich geweigert, diese Frage losgelöst von jener der Wirtschaftssanktionen zu behandeln. Was genau sie tun muss, um auf eine Lockerung und schließliche Aufhebung der ökonomischen und militärischen Strangulierung hoffen zu können, würde auch jede andere irakische Regierung wissen wollen. Die Wiederaufnahme von Rüstungskontrollen durch die Vereinten Nationen mit Zusagen für Sanktionserleichterungen bei erfüllten Abrüstungsauflagen zu verknüpfen, ist mithin keine unbillige Vorbedingung. Unbillig ist vielmehr die Forderung nach "bedingungsloser" Wiederzulassung der Waffeninspekteure.

UN-Generalsekretär Annan, der am selben Tag wie der amerikanische Präsident vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen sprach (hier geht es zur Rede von Kofi Annan), hat auf die Verbindung der beiden Problemkomplexe ausdrücklich hingewiesen. Sein Lösungsansatz ist offensichtlich ein grundlegend anderer als der des Mannes im Weißen Haus. Er setzt auf eine umfassende Regelung der Irak-Frage mit politischen Mitteln. Sie muss allen Seiten gewährleisten, was ihnen zusteht: dem Irak die schrittweise Rückgliederung in das internationale System, seinen Nachbarn Sicherheit, auch vor ihm.

Welche politischen Maßnahmen verdienen Unterstützung?

1. Die UN-Resolution 687 von 1991 gilt fort. Sie verpflichtet den Irak zur Duldung der Überwachung seiner Rüstungstätigkeit durch Vor-Ort-Inspektionen und andere technische Mittel. Sie muss bis auf weiteres ein Element der Gesamtlösung des Irak-Problems bleiben. Die Europäische Union sollte sich mit einem europäischen Inspektionsteam daran beteiligen oder selbst die Führung der Mission übernehmen.

2. In Ziffer 14 bestimmt dieselbe Resolution, dass die dem Irak erteilten Abrüstungs- und Kontrollauflagen Schritte darstellen zum Ziel einer von Massenvernichtungswaffen samt zugehöriger Trägermittel freien Zone im Mittleren Osten. Die Aufrechterhaltung der amerikanischen Militärpräsenz in der Region über das Ende des Golfkriegs hinaus hat dazu beigetragen, das Vorhaben zu unterlaufen. Es bedarf der Reaktivierung. Eine von der Europäischen Union vorgeschlagene und vorbereitete Konferenz über regionale Rüstungsbegrenzung wäre ein Anfang.

3. Abrüstung und Rüstungskontrolle sind in den vergangenen Jahren konzeptionell entwertet worden. Wer anderen Staaten die Beseitigung seiner Massenvernichtungswaffen abverlangt, muss sich selbst an die für alle geltenden Regime halten. Das Desiderat konsequenter und genereller Ächtung von Massenvernichtungswaffen steht und fällt mit der allseitigen Umsetzung und Vervollständigung zentraler Vertragswerke wie dem - gekündigten - ABM-Vertrag, dem Vollständigen Kernteststoppvertrag, dem Nichtverbreitungsvertrag sowie den Abkommen über das Verbot von B- und C-Waffen.

4. Die auch nach dem den Einlenken Saddam Husseins in der Inspektionsfrage fortbestehen-de Angriffsdrohung gegen den Irak wird im Kontext des "Krieges gegen den Terrorismus" propagiert. Zu den gravierendsten Nebenfolgen der militärisch verengten Auseinanderset-zung mit Terrorgewalt gehört die Verrohung der internationalen Politik. Jeder rechtswidrige Übergriff, den ein antiterroristisches Motiv bemäntelt, kann inzwischen auf Nachsicht oder gar Billigung zählen. Russland bombardiert das Pankisi-Tal im souveränen Nachbarland Georgien. Israel nimmt die arabische Bevölkerung der Westbank und des Gaza-Streifens in Geiselhaft. Pakistan und Indien bedienen sich wechselseitig terroristischer Praktiken, um eigene Anhänger zu unterstützen und die des Kontrahenten zu schwächen. In allen drei Krisenregionen - Tschetschenien, Palästina, Kaschmir - ist die Suche nach einer politischen Konfliktlösung praktisch zum Erliegen gekommen. Dabei wäre nichts geeigneter, den Nährboden terroristischer Auflehnung dauerhaft zu beseitigen, als das Ende der langandauernden Bürgerkriege.

5. Der nächste Golfkrieg ist noch längst nicht abgesagt. Die Bundesregierung hat entschieden, sich daran weder mit Soldaten noch mit Geldleistungen zu beteiligen. Sie sollte sich diese Entscheidung von niemandem abhandeln lassen. Der Griff zu den Waffen ist zulässig zur Abwehr einer gewaltsamen Aggression. Anders als im Sommer 1990 begeht der Irak keine militärische Aggression. Er wäre mit Aussicht auf Erfolg dazu wahrscheinlich nicht einmal imstande. Ohne die ernsthafte Ausschöpfung aller gegebenen politischen Lösungsmöglichkeiten wäre der Griff zu den Waffen ein Akt der Willkür. Jede Regierung, die daran mitwirkt, sei es durch militärischen Beistand, logistische Hilfe oder politische Unterstützung, übernimmt Mitverantwortung. Für die Folgen, für die Opfer, für die Toten.

Dieter S. Lutz
Reinhard Mutz
Götz Neuneck



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