Wiener Atomenergiebehörde: Keine unmittelbare Gefahr durch Bagdad
IAEA-Sprecherin Fleming widerspricht US-Präsident Bush
Von Martin Schwarz, Wien
Der folgende Bericht aus Wien, dem Sitz der IAEA, erschien am 10. September in der Tageszeitung "Neues Deutschland". Wir dokumentieren wesentliche Teile daraus. Weiter unten eine Information über die IAEA.
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Um die Kriegspläne gegen den Irak zu rechtfertigen, bedienten sich jetzt
mehrere Repräsentanten der US-amerikanischen Regierung angeblicher Beweise,
die von der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) in Wien über das
irakische Atomwaffenprogramm gesammelt worden sein sollen. Während seines
Treffens mit dem britischen Premierminister Tony Blair in Camp David etwa
berief sich USA-Präsident George W. Bush auf einen Bericht der IAEA aus dem
Jahre 1991, der davor gewarnt haben soll, dass der Irak »binnen sechs
Monaten« in der Lage sei, einen atomaren Sprengkopf herzustellen.
Gegenüber »Neues Deutschland« widerspricht IAEA-Vertreterin Melissa Fleming
dieser Darstellung: »Bush bezieht sich auf einen Bericht unserer
Organisation aus dem Jahr 1991, was mich sehr wundert, denn einen solchen
Bericht hat es damals nicht gegeben.« Nach Aussagen von Fleming könnte sich
der USA-Präsident auf Interviews eines ehemaligen US-amerikanischen
IAEA-Mitarbeiters berufen haben, der damals in mehreren Zeitungen
einschlägige Vermutungen über die Entwicklung des irakischen
Atomwaffenprogramms geäußert hatte: »Richard Kay, so hieß der Mitarbeiter,
war aber nur sehr kurze Zeit bei uns, deshalb wissen wir nicht, woher er
seine Erkenntnisse haben soll«, so die IAEA-Sprecherin.
Inspektoren der Atomenergiebehörde hatten zwischen 1991 und 1997 die
irakischen Atomanlagen besucht und jene Objekte vollständig zerstört, die
eventuell zum Aufbau eines militärischen Programms geeignet sein könnten.
Zwar warf Saddam Hussein 1997 die IAEA-Experten aus dem Land, doch die
Gefahr eines atomaren Erstschlages durch Irak war vorerst gebannt: »Wenn
Saddam Hussein in den letzten fünf Jahren tatsächlich ein Atomwaffenprogramm
hätte aufbauen wollen, hätte er wieder von Null beginnen müssen«, betont
Fleming gegenüber dieser Zeitung. In einem detaillierten Bericht der IAEA
für den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1997 wird
erläutert, dass Saddam Husseins Atomwaffenträume wohl noch lange nicht
Realität werden würden, weil einfach die Anlagen nicht mehr funktionsfähig
seien.
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Auch Dick Cheney stimmte am Wochenende in den Nuklear-Kanon ein. Gegenüber
dem Fernsehsender CBS meinte der USA-Vizepräsident, der Irak brauche nur
noch einige Jahre, um ein funktionsfähiges atomares Waffenarsenal vorweisen
zu können. Dabei berief sich Cheney auf Geheimdienstinformationen, wonach
Bagdad versucht habe, sich Aluminiumröhren zu beschaffen, die für die
Aufbereitung waffenfähigen Urans notwendig seien. Dazu wollte sich die
IAEA-Sprecherin nicht äußern. Gleichzeitig schloss sie aber weitgehend aus,
dass Irak aus dem Ausland mit waffenfähigem radioaktiven Material beliefert
worden sei: »Unsere Inspektoren überprüfen wirklich jedes Gramm radioaktiven
Materials, das irgendwohin geliefert worden ist. Wir haben keinerlei
Informationen darüber, dass Irak in den letzten Jahren spaltbares Material
erhalten hat, welches zum Bau einer Nuklearwaffe missbraucht werden könnte«,
erklärte Fleming. In der nächsten Woche tagt in Wien die Generalversammlung
der IAEA. Die Washingtoner Nuklear-Theorien werden dabei Thema sein.
IAEA-Lexikon
Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) mit Sitz in Wien wurde 1957 im
Rahmen des Systems der Vereinten Nationen gegründet. Ihr gehören heute 127
Staaten an. Die IAEA überwacht sowohl die friedliche Nutzung der Atomenergie
als auch die Einhaltung des Atomwaffensperrvertrages. Immer wieder hat die
Behörde zum freiwilligen Verzicht auf Nukleartests aufgerufen und sich für
ein schnellstmögliches globales Verbot zur Herstellung von spaltbarem
Material für Kernwaffen (Cut-off) stark gemacht. Sie arbeitet Richtlinien
und Empfehlungen für Reaktorsicherheit und Strahlenschutz aus, hilft
Entwicklungsländern, Sicherungsmaßnahmen insbesondere im Rahmen des
Nichtverbreitungsvertrags durchzuführen, um der Abzweigung von Spaltmaterial
für Atomwaffen oder sonstige Nuklearsprengkörper vorzubeugen, widmet sich
der weltweiten Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Kernforschung und
Kerntechnik. Die IAEA dient so als Kontrollinstrument, darf aber selbst
keine Sanktionen verhängen. Die Behörde betreibt Laboratorien in Seibersdorf
bei Wien und in Monaco. Organe der IAEA sind die jährlich tagende
Generalkonferenz aller Mitgliedstaaten und der 35 Mitglieder umfassende
Gouverneursrat. Generaldirektor ist seit November 1997 Mohamed Elbaradei.
Die Bundesrepublik ist seit 1972 ständig im Gouverneursrat vertreten.
Aus: ND, 10. September 2002
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