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Völkerwanderung in Irak

Nach sieben Jahren Krieg und Besatzung sind im Innern des Zweistromlandes Millionen Menschen auf der Flucht. Ihre Lage ist katastrophal

Von Karin Leukefeld *

Der anhaltende politische Machtkampf im Irak wirkt sich verheerend auf die Bevölkerung aus. Sieben Jahre nach der völkerrechtswidrigen Invasion und Besetzung des Zweistromlands und dem Sturz der alten Regierung leben heute Hunderttausende Menschen als Vertriebene im eigenen Land, die so genannten »Inlandsvertriebenen« (internally displaced persons, IDP).

Internationale Hilfsorganisationen sind sich nicht einig, wie viele Inlandsvertriebene es im Irak gibt. Während das UN-Hilfswerk für Flüchtlinge (UNHCR) von 1,5 Millionen Menschen spricht und die Internationale Organisation für Migration (IOM) eine Zahl von 1,9 Millionen nennt, ist in einem aktuellen Bericht des Norwegischen Flüchtlingsrates (NRC) die Rede von 2,8 Millionen, die ohne Aussicht auf eine Lösung ihrer deprimierenden Situation unter schwierigsten Bedingungen leben. Die Zahl geht aus einer Untersuchung des NRC-Zentrums zur Beobachtung der Lage von Inlandsvertriebenen hervor, das seit Jahren Statistiken und Berichte über diese vergessenen Flüchtlinge zusammenträgt und auswertet. Bei einer geschätzten Bevölkerungszahl von 28 Millionen, gilt damit jeder zehnte Iraker als vertrieben. Nach Angaben des irakischen Roten Halbmonds sind mehr als 82 Prozent der Inlandsvertriebenen alte Menschen, alleinstehende Frauen und Kinder unter 12 Jahren.

Viele in Slums

Die Zahlen sind Schätzungen, so NRC, und basieren auf Berichten des irakischen Ministeriums für Vertreibung und Migration, der Kurdischen Regionalregierung, des UN-Flüchtlingshilfswerks sowie der Internationalen Organisation für Migration. Während zwischen 1968 und 2003 etwa 1,2 Millionen Menschen im Irak vertrieben wurden und zwischen 2003 und 2005 weitere 200000, kamen seit Februar 2006 (seit dem Anschlag auf die Goldene Moschee in Samarra) 1,5 Millionen weitere Inlandsvertriebene hinzu. Viele melden sich gar nicht, andere werden mehrmals vertrieben. Wieder andere leben bei Verwandten oder Freunden und sind nicht als IDP registriert. Gleichzeitig muß man davon ausgehen, daß die Vertriebenenzahlen je nach Region aus politischen oder auch finanziellen Gründen manipuliert werden.

Die Unterkünfte der Inlandsvertriebenen sind unsicher, ungesund und illegal, viele leben in Slums am Rande der irakischen Großstädte. Es fehlt an Sicherheit, Nahrungsmitteln, Gesundheitsversorgung, es fehlt an sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen. Es fehlt an Bildung und Arbeit, Familien sind oft auseinandergerissen und wissen nichts von einander, Kinder mußten ihre gewohnte Umgebung verlassen, sprechen eventuell die Sprache ihrer neuen Umgebung nicht (kurdische Autonomieregion), alle leiden unter psycho-sozialem Streß. Es gibt keinen Rechtsschutz, bei der Flucht gingen oft wichtige Dokumente verloren. Oft bewegen die Inlandsvertriebenen sich von einem Ort zum nächsten, nicht zuletzt wegen Spannungen in den Gemeinden, wo sie Zuflucht suchen. Manche verstecken sich auch. Etwa 60 Prozent der Inlandsvertriebenen wenden sich nicht an staatliche Stellen, weil ihnen Dokumente fehlen, sie kein Geld für entstehende Kosten haben oder weil sie den staatlichen Strukturen nicht vertrauen. Arbeits- und Geldmangel treibt oder zwingt alleinstehende Frauen und Mädchen häufig in die Prostitution.

Fehlende Mittel

Während es unter dem früheren Regime gezielte Umsiedlungen und Vertreibungen in strategisch wichtigen Gebieten im Süden und Norden des Landes gab (südirakische Sumpfgebiete, kurdischer Norden), traf es unmittelbar nach der Invasion 2003 zunächst Wissenschaftler, Ärzte, Professoren, frühere Politiker und/oder Militärs. Sie flohen vor Mord- oder Entführungsdrohungen von einem Stadtteil in einen anderen, viele gingen in eine andere Region oder verließen den Irak schließlich ganz. Palästinenser, die seit 1948 im Irak lebten, wurden bedroht, arabische Iraker und Turkmenen, die in Mosul oder Kirkuk lebten, wurden von Kurden vertrieben, nahezu im ganzen Land wurden Christen bedroht und flohen. Nach dem Anschlag auf die Al-Askari-Moschee in Samarra im Februar 2006 bedrohten sunnitische Milizen schiitische Milizen und umgekehrt, Hilfsorganisationen verzeichneten geradezu eine Völkerwanderung im Irak. Anhaltende Machtkämpfe in den Provinzen Niniveh und Ta’min, die an die kurdische Autonomieregion grenzen und von der kurdischen Regionalregierung beansprucht werden, fordern Opfer unter Jesiden und religiösen Minderheiten der assyrischen und anderer Christen, Shabak und Sabäer/Mandäer.

Seit den Wahlen im März 2010 war der Irak ohne Regierung und durch politisches Gerangel weitgehend gelähmt. Die mit den großen Parteien verbundenen Milizen trugen den Machtkampf in vielen Fällen gewaltsam aus, was von politisch Verantwortlichen fast umgehend als »Terror der Baath Partei« oder von »Al Kaida« verurteilt wurde und in jedem Fall zu neuer Vertreibung und Flucht führte. Weder die alte Regierung noch die politischen Parteien kümmerten sich um elementare Dienste für die Vertriebenen, um deren Sicherheit, geschweige denn darum, ihre Rückkehr zu ermöglichen, heißt es in dem Bericht des Norwegischen Flüchtlingsrates. Die kurdische Regionalregierung gewährt fast ausschließlich bedrohten irakischen Christen Zuflucht.

Präsidiale Anordnungen und ein Regierungsprogramm (2008) sollen Schutz, Integration und/oder Rückkehr der Vertriebenen regeln, wurden aber bis heute nicht gesetzlich verankert. Ein weitgehend machtloses Parlamentskomitee wurde eingerichtet, 2008 stellte die Regierung 210 Millionen US-Dollar für die Inlandsvertriebenen zur Verfügung, ein Jahr später waren es nur noch 42 Millionen US-Dollar. 2010 lag der Haushaltsposten immerhin bei 170 Millionen, doch sind die Außenstellen des Ministeriums für Vertreibung und Migration, die die Anordnungen umsetzen sollen, laut NRC schlecht organisiert und korrupt. Es fehle ihnen an Mitteln, Befugnissen und Eigeninitiative, heißt es in dem Bericht. Wie das ganze Land zerbrechen auch die staatlichen Strukturen unter anhaltendem Machtkampf und der damit einhergehenden religiös-politischen Spaltung Iraks.

www.internal-displacement.org

* Aus: junge Welt, 31. Dezember 2010

Definitionen: Flüchtlinge im eigenen Land

Als Inlandsvertriebene (internally displaced persons, kurz IDP) bezeichnet man »Personen oder Gruppen von Personen, die gezwungen wurden aus ihren Wohnungen, Häusern oder Orten zu fliehen oder diese zu verlassen, wo sie bisher lebten«, heißt es bei den Vereinten Nationen. Diese Bestimmung ist allerdings, anders als bei der Definition von Flüchtlingen, mit keiner staatlichen Verpflichtung verbunden. Grund für ihre Flucht sind »bewaffnete Konflikte, Gewalt, Verletzung der Menschenrechte, natürliche oder von Menschen gemachte Katastrophen«, heißt es weiter. Inlandsflüchtlinge werden diese Unglücklichen genannt, weil sie innerhalb ihrer Heimat auf der Flucht sind und nie eine internationale Grenze überquerten.

Mit ihrer Flucht verlieren diese Menschen nicht nur ihr Hab und Gut, Haus und Hof, sondern auch Schulen für die Kinder, medizinische Versorgung, Arbeitsplätze, Anschluß an öffentliche Dienste wie Strom- und Wasserversorgung und nachbarschaftliche Unterstützung. Sie lassen auch die Gräber ihrer Vorfahren zurück. Als Folgen treten massive physische, sozio-ökonomische und psychische Schäden bei den Menschen auf, die vollkommen schutz- und ziellos unterwegs sind. Anders als Flüchtlinge, die ihr Heimatland verlassen haben, stehen Inlandsvertriebene offiziell zwar unter dem Schutz ihrer Regierung oder nationaler Behörden, die sind im Irak allerdings durch politischen Machtkampf und religiöse Spaltung weitgehend gelähmt.

Von den 2,8 Millionen Inlandsvertriebenen leben bis zu 250000 in der irakischen Hauptstadt Bagdad, deren jahrhundertealte gemischte soziale und ethnisch-religiöse Bevölkerungsstruktur sich in den letzten sieben Jahren weitgehend aufgelöst hat. In den Provinzen Najaf, Basra, Missan, Kerbala, Kut, Ramadi, Falluja, Salahadin, Kirkuk, Erbil und Dohuk sind jeweils bis zu 50000 Inlandsvertriebene registriert. In den restlichen Provinzen leben bis zu 20000 Inlandsvertriebene. Nur in ohnehin weitgehend unbewohnbaren Wüstengebieten wie Muthanna und Al-Rutba oder in den nördlichen Gebirgsregionen an der kurdisch-irakisch-iranischen Grenze, wurden nicht mehr als etwa 2000 Inlandsvertriebene gezählt. (kl)




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