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Versperrte Türen

4,5 Millionen Iraker sind auf der Flucht. Die Bereitschaft zur Hilfe geht international immer weiter zurück

Von Karin Leukefeld *

Im Jahr 2003 erhielten 1425 Iraker die Zusage, sich in einem Drittland niederzulassen, im Jahr 2006 waren es nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) nur 404. Deutlicher läßt sich die »Hilfe« der Internationalen Gemeinschaft für die bedrängten Iraker nicht beschreiben: Man schließt die Türen vor Menschen, die freiwillig ihre Heimat nie verlassen hätten. In dem am Montag veröffentlichten Bericht »Millionen auf der Flucht, die irakische Flüchtlingskrise«, kritisiert Amnesty International nicht nur die fehlende Bereitschaft zur Hilfe, sondern daß einige Staaten sogar Iraker zwingen würden, in ihre Heimat zurückzukehren, Hilfe für Asylbewerber streiche und den Flüchtlingsstatus für manche Iraker sogar widerrufe. Damit ist auch Deutschland gemeint, das mehr als 18000 Irakern ihren Flüchtlingsstatus in den vergangenen Monaten wieder aberkannt hat.

Rund 4,5 Millionen Iraker sind heute auf der Flucht. Etwa 1,4 Millionen leben in Syrien und 750000 in Jordanien. Nach Amman will nun auch Damaskus die Einreisebestimmungen für Iraker verschärfen. Amnesty International schätzt, daß derzeit durchschnittlich 2000 Iraker täglich ihre Heimat verlassen. Im Libanon leben etwa 40000 irakische Flüchtlinge, ihr Status ist weitgehend ungeklärt. Viele kommen aus Syrien mit organisierten Bustouren. Wenn ihre Aufenthaltserlaubnis in Syrien ausgelaufen ist, reisen sie kurz aus und wieder ein, um einen neuen Einreisestempel vorlegen zu können, mit dem sie erneut eine Aufenthaltserlaubnis erhalten. Viele Flüchtlinge leben so schon seit Jahren. Weil ihre Lage in Syrien wirtschaftlich sehr schlecht ist, nutzen manche die Busreisen, um in Libanon unterzutauchen. So erklärt sich die große Diskrepanz in den offiziellen Zahlen für irakische Flüchtlinge in Libanon. Nur knapp 8000 sind beim UNHCR registriert, die anderen leben in der Illegalität. Anfang September besuchte eine Vertreterin der Füchtlingswerks libanesische Gefängnisse, in denen Iraker einsitzen. In Roumieh, dem größten Gefängnis Libanons, sprach die ­UNHCR-Mitarbeiterin Erika Fel­ler mit einigen der etwa 400 Inhaftierten, die vom UN-Organisation betreut werden, die meisten sind irakische Abschiebehäftlinge. Für sie gibt es keine Aussicht auf Freilassung, es sei denn, sie stimmen einer Abschiebung in den Irak zu.

Dort ist die Lage nicht besser. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) registrierte nun einen sprunghaften Anstieg von Inlandsvertreibungen um mehr als 200 Prozent. Von Februar 2006 bis August 2007 sei die Zahl der vertriebenen Familien landesweit auf 282672 angestiegen, so das IKRK. Das seien rund 1930946 Personen. Die meisten Vertriebenen gebe es in Bagdad und den nordirakischen Provinzen Ninova und Salahaddin. Die Internationale Organisation für Migration, IOM, eine mit der UNO assoziierte Flüchtlingsorganisation, spricht sogar von 2,25 Millionen Inlandsvertriebenen in Irak.

Diese organisieren sich zunehmend in Selbsthilfegruppen, wie vertriebene Familien in Bagdad aus dem Stadtteil Saydiya. Vor wenigen Tagen demonstrierten 400 von ihnen vor der »Grünen Zone«, dem Sitz von US-Botschaft und irakischer Regierung. »Saydiya ist heute besetzt von bewaffneten Kriminellen«, sagte Ali Al Amiri, ein Sprecher der Vertriebenen. »Sie drohen mit Mord und Entführung und spielen mit dem Leben der 50000 Einwohner dort, Schiiten, Sunniten, Christen, arm und reich.« In den letzten 18 Monaten seien 4730 Familien aus Saydiya vertrieben worden, so Amiri weiter, etwa 23650 Personen. Fast 2000 Menschen wurden ermordet. Die Demonstranten forderten die Regierung auf, mit Soldaten, Polizei und den US-amerikanischen Besatzungstruppen, Saydiya zu sichern, damit die Familien in ihre Häuser zurückkehren könnten.

* Aus: junge Welt, 27. September 2007


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