"Es war Frevel, eine Obszönität" / 'It was an outrage, an obscenity'
Eine Reportage vom Kriegsschauplatz im Irak /A Report from the 'Battlefield' Iraq
Im Folgenden dokumentieren wir eine Reportage des britischen Journalisten Robert Fisk, die er vor kurzem für den "Independent" geschrieben hat.
Von Robert Fisk
Es war ein Frevel, eine Obszönität. Jene abgetrennte Hand (am
Griff?) der Metalltür, der Schlammbrei aus Blut u. Dreck, der
über die Straße lief, menschliche Gehirnmassen in einer Garage;
in einem noch immer rauchenden Auto das verkohlte Skelett einer
irakischen Mutter u. ihrer drei kleinen Kinder. Zwei Raketen,
abgefeuert durch einen amerikanischen Jet, haben diese irakischen
Zivilisten getötet - ich schätze es sind mehr als 20 Tote: in
Stücke gerissen vor ihrer "Befreiung" durch jene Nation, die sie
jetzt de facto ums Leben gebracht hat. Wer könnte wohl die Traute
haben, dies als 'Kollateralschaden' zu bezeichnen?
Als der Pilot durch den dichten Sandsturm Anflug nahm, war die Abu-
Taleb-Straße dicht bevölkert mit Fußgängern u. Fahrzeugen. Gestern
Morgen hatte der Sturm Nord-Bagdad in einen Schleier aus rotem u.
gelbem Staub gehüllt, vermischt mit Regen. Das Viertel zeugt von
erbärmlicher Armut. Hier leben vorwiegend Schia-Muslime - die Art
Leute (Schiiten), von denen die Herren Bush u. Blair so optimistisch
glauben, sie würden sich gegen Präsident Saddam Hussein erheben.
Hier findet man vor allem öldurchtränkte Autowerkstätten, übervöl-
kerte Wohnungen u. billige Cafés. Jeder, mit dem ich spreche, hörte
das Flugzeug kommen. Ein Mann, noch völlig geschockt vom Anblick
der enthaupteten Leichen, bringt immer nur dieselben Worte hervor:
"Donner, Blitz". Dann drückt er die Augen so fest zu, dass sich die
Muskeln zwischen den Augen kräuseln.
Wie soll man über ein derart horrendes Ereignis schreiben? Am
angebrachtesten wäre wohl die Verlesung der medizinischen Berichte.
Aber die Zahl der Toten wird wohl bis auf fast 30 steigen. Jeden Tag
erleben die Irakis diese Dinge. Warum also nicht gleich die Wahrheit
schreiben, die volle Wahrheit, über das, was die Leute hier ständig
zu sehen bekommen? Als ich gestern an diesem Ort des Massakers unterwegs war, drängte sich mir eine zweite Frage auf: Wenn es schon hier
in Bagdad so schlimm ist, wie wird es erst in Basra u. Nasiriyah
sein oder in Kerbala? Wieviele Zivilisten sterben dort - anonym, ohne
dass darüber berichtet wird? An diesen Orten sind keine Reporter, die
Zeugnis ablegen könnten vom Leid der Menschen.
Abu Hassan u. Malek Hammoud bereiteten gerade das Mittagessen für
ihre Gäste im Nasser-Restaurant im Norden der Abu-Taleb-Straße vor.
Die Rakete schlug neben der Straße nach Westen ein, die Explosion
riss die komplette Café-Front weg. Beide Männer - 48, der andere
erst 18 - wurden in Stücke gerissen u. getötet. Ihr Kollege führt
mich jetzt durch die Trümmer. "Das hier ist alles, was von ihnen
übrig ist" - und dabei hält er mir eine bluttropfende Ofenpfanne
hin. Mindestens 15 Autos gingen in Flammen auf, viele ihrer Insassen
starben im Feuer. Ein paar Männer rüttelten verzweifelt an sämtlichen
Türen eines in Flammen stehenden Wagens. Der Wagen liegt mitten auf
der Straße - auf dem Dach. Es war dieselbe Rakete. Hilflos müssen
die Männer mitansehen, wie die Frau im Innern mit ihren 3 Kindern
bei lebendigen Leibe verbrennt.
Die zweite Rakete schlug genau in die Straße nach Osten ein.
Metallteile fuhren in die Körper dreier Männer, die gerade vor
einem Betonwohnblock standen - auf dessen Außenmauer die Marmor-
worte: 'Dies ist Gottes Besitz'. Der Hausmeister des Gebäudes,
Hishem Danoon, war sofort zum Eingang geeilt, als die massive
Explosion ertönte. "Dort drüben fand ich Ta'ar, in Stücke gerissen",
sagt er. Ich sehe, dass Ta'ars Kopf fehlt. "Und dort ist seine Hand" -
eine Gruppe junger Männer und eine Frau führen mich auf die Straße.
Dort erwartet mich eine Szene wie aus einem Horrorfilm: Ta'ars Hand,
am Handgelenk abgetrennt, seine 4 Finger u. der Daumen um ein Stück
Dachmetall gekrallt. Genau im selben Moment wie Ta'ar muss auch
sein junger Kollege Sermed gestorben sein. Dessen Gehirn - in einer
chaotisch blassrotgrauen Masse - liegt aufgehäuft ein paar Schritte
weiter hinter einem ausgebrannten Wagenwrack. Beide Männer waren
Angestellte von Hausmanager Danoon - ebenso wie der dritte Tote, ein
Türsteher. Im Gespräch mit den Lebenden, gewinnen die Toten allmählich
ihre Identität zurück. Da ist der Besitzer eines Elektrogeschäfts,
den es hinter seiner Ladentheke getroffen hat. Es war die gleiche
Rakete, die Ta'ar, Sermed u. den Türsteher in Stücke riss. Und sie
tötete auch jenes junge Mädchen, das an der Zentralreservation stand
u. gerade über die Straße wollte. Sie tötete einen Lastwagenfahrer
(ihn traf es wenige Fuß neben der Raketen-Einschlagsstelle). Und die
Rakete tötete auch jenen Bettler, der regelmäßig zu Danoon kam u. um
Brot bettelte; gerade wollte er wieder gehen, als die Rakete zischend
durch den Sandsturm geflogen kam u. sein Leben auslöschte.
Die britisch-amerikanischen Truppen (vonwegen "Koalition', alles
Unsinn) in Katar haben eine Untersuchung (des Vorfalls) angekündigt.
Die irakische Regierung - die einzige Partei, die etwas von dem
Blutbad haben könnte, nämlich einen Propagada-Effekt -, hat natürlich
erklärt, sie hätte nichts damit zu tun. Ursprünglich wurde von ihr
die Opferzahl mit nur 14 Toten angegeben.
Aber was könnte das eigentliche Ziel der Raketen gewesen sein? Einige
Iraker sagen, weniger als eine Meile von der Abu-Taleb-Straße entfernt
liege ein (irakisches) Militärlager. Ich konnte das Lager allerdings
nicht finden. Andere vermuten, man könnte es auf das Hauptquartier
der lokalen Feuerwehr abgesehen haben, aber die 'Feuerwehr' als 'militärisches Ziel' - unglaubwürdig. Fest steht jedenfalls, weniger als
eine Stunde vorher hatte es einen Angriff auf ein weiter nördlich
gelegenes Militärlager gegeben. Ich war gerade daran vorbeigefahren,
als 2 Raketen in die Basis einschlugen u. explodierten. Irakische
Soldaten kamen aus den Toren gerannt, liefen am Straßenrand entlang -
sie rannten um ihr Leben. Kurz darauf waren 2 weitere Explosionen zu
hören: Es waren jene Raketen, die in der Abu-Taleb-Straße einschlugen.
Natürlich konnte der Pilot, der gestern diese unschuldigen Menschen
tötete, seine Opfer nicht sehen. Die Piloten verlassen sich heutzutage
bei ihrem Beschuss auf computergestützte Koordinaten. Ohnedies hätte
der Sandsturm den Blick auf die Straße behindert. Ein Freund des toten
Malek Hammouds fragt mich, wie die Amerikaner nur so leichtfertig
mit dem Leben derer umgehen können, die sie doch angeblich befreien
wollen. Er zeigt wenig Interesse für die Geheimnisse der Flugkunst und auch nicht an Waffenabschussystemen. Warum auch, wo Derartiges sich
in Bagdad fast schon jeden Tag ereignet. Erst 3 Tage ist es her, als
eine komplette 9-köpfige Familie in ihrem Haus nahe Stadtzentrum ausgelöscht wurde. Vor 2 Tagen wurde eine ganze Busladung Zivilisten -
so Berichte - auf einer Straße südlich von Bagdad getötet. Und erst
gestern erfuhren die Iraker die Identität von 5 zivilen Busreisenden,
deren syrischer Bus am Wochenende nahe der irakischen Grenze von amerikanischen Flugzeugen angegriffen wurde.
Die Wahrheit ist schlicht: nirgends in Bagdad ist man mehr sicher.
Und je enger Briten u. Amerikaner ihren Belagerungsring um die Stadt
ziehen - in den nächsten Tagen, Stunden - desto mehr wird sich diese
simple Tatsache bewahrheiten, desto mehr wird Blut fließen. Natürlich
könnte man sich auf den moralischen Standpunkt stellen u. Gründe
finden, warum all diese Menschen sterben mussten u. müssen. Sie
sterben aufgrund des 11. Septembers, so könnte man argumentieren
oder wegen Saddams "Massenvernichtungswaffen", wegen Menschenrechtsverletzungen oder weil es uns sosehr am Herzen liegt, sie alle zu
"befreien". Und bringen wir jetzt bitte nichts durcheinander vonwegen
Öl. Aber auf eins zumindest könnte ich wetten: auch diese Toten wird
man letztendlich Präsident Saddam in die Schuhe schieben. Und keine
Rede von jenem Piloten - natürlich nicht.
Übersetzt von: Andrea Noll
Orginalartikel: "It Was An Outrage An Obscenity"
http://www.zmag.de/article/article.php?id=534
'It was an outrage, an obscenity'
By Robert Fisk
It was an outrage, an obscenity. The severed hand
on the metal door, the swamp of blood and mud across
the road, the human brains inside a garage, the
incinerated, skeletal remains of an Iraqi mother and
her three small children in their still-smouldering
car.
Two missiles from an American jet killed them all - by
my estimate, more than 20 Iraqi civilians, torn to
pieces before they could be 'liberated' by the nation
that destroyed their lives. Who dares, I ask myself, to
call this 'collateral damage'? Abu Taleb Street was
packed with pedestrians and motorists when the American
pilot approached through the dense sandstorm that
covered northern Baghdad in a cloak of red and yellow
dust and rain yesterday morning.
It's a dirt-poor neighbourhood, of mostly Shia Muslims,
the same people whom Messrs Bush and Blair still fondly
hope will rise up against President Saddam Hussein, a
place of oil-sodden car-repair shops, overcrowded
apartments and cheap cafes. Everyone I spoke to heard
the plane. One man, so shocked by the headless corpses
he had just seen, could say only two words. "Roar,
flash," he kept saying and then closed his eyes so
tight that the muscles rippled between them.
How should one record so terrible an event? Perhaps a
medical report would be more appropriate. But the final
death toll is expected to be near to 30 and Iraqis are
now witnessing these awful things each day; so there is
no reason why the truth, all the truth, of what they
see should not be told.
For another question occurred to me as I walked through
this place of massacre yesterday. If this is what we
are seeing in Baghdad, what is happening in Basra and
Nasiriyah and Kerbala? How many civilians are dying
there too, anonymously, indeed unrecorded, because
there are no reporters to be witness to their
suffering?
Abu Hassan and Malek Hammoud were preparing lunch for
customers at the Nasser restaurant on the north side of
Abu Taleb Street. The missile that killed them landed
next to the westbound carriageway, its blast tearing
away the front of the cafe and cutting the two men -
the first 48, the second only 18 - to pieces. A fellow
worker led me through the rubble. "This is all that is
left of them now," he said, holding out before me an
oven pan dripping with blood.
At least 15 cars burst into flames, burning many of
their occupants to death. Several men tore desperately
at the doors of another flame-shrouded car in the
centre of the street that had been flipped upside down
by the same missile. They were forced to watch
helplessly as the woman and her three children inside
were cremated alive in front of them. The second
missile hit neatly on the eastbound carriageway,
sending shards of metal into three men standing outside
a concrete apartment block with the words, "This is
God's possession" written in marble on the outside
wall.
The building's manager, Hishem Danoon, ran to the
doorway as soon as he heard the massive explosion. "I
found Ta'ar in pieces over there," he told me. His head
was blown off. "That's his hand." A group of young men
and a woman took me into the street and there, a scene
from any horror film, was Ta'ar's hand, cut off at the
wrist, his four fingers and thumb grasping a piece of
iron roofing. His young colleague, Sermed, died the
same instant. His brains lay piled a few feet away, a
pale red and grey mess behind a burnt car. Both men
worked for Danoon. So did a doorman who was also
killed.
As each survivor talked, the dead regained their
identities. There was the electrical shop-owner killed
behind his counter by the same missile that cut down
Ta'ar and Sermed and the doorman, and the young girl
standing on the central reservation, trying to cross
the road, and the truck driver who was only feet from
the point of impact and the beggar who regularly called
to see Mr Danoon for bread and who was just leaving
when the missiles came screaming through the sandstorm
to destroy him.
In Qatar, the Anglo-American forces - let's forget this
nonsense about "coalition" - announced an inquiry. The
Iraqi government, who are the only ones to benefit from
the propaganda value of such a bloodbath, naturally
denounced the slaughter, which they initially put at 14
dead. So what was the real target? Some Iraqis said
there was a military encampment less than a mile from
the street, though I couldn't find it. Others talked
about a local fire brigade headquarters, but the fire
brigade can hardly be described as a military target.
Certainly, there had been an attack less than an hour
earlier on a military camp further north. I was driving
past the base when two rockets exploded and I saw Iraqi
soldiers running for their lives out of the gates and
along the side of the highway. Then I heard two more
explosions; these were the missiles that hit Abu Taleb
Street.
Of course, the pilot who killed the innocent yesterday
could not see his victims. Pilots fire through
computer-aligned co-ordinates, and the sandstorm would
have hidden the street from his vision. But when one of
Malek Hammoud's friends asked me how the Americans
could so blithely kill those they claimed to want to
liberate, he didn't want to learn about the science of
avionics or weapons delivery systems.
And why should he? For this is happening almost every
day in Baghdad. Three days ago, an entire family of
nine was wiped out in their home near the centre of the
city. A busload of civilian passengers were reportedly
killed on a road south of Baghdad two days ago. Only
yesterday were Iraqis learning the identity of five
civilian passengers slaughtered on a Syrian bus that
was attacked by American aircraft close to the Iraqi
border at the weekend.
The truth is that nowhere is safe in Baghdad, and as
the Americans and British close their siege in the next
few days or hours, that simple message will become ever
more real and ever more bloody.
We may put on the hairshirt of morality in explaining
why these people should die. They died because of 11
September, we may say, because of President Saddam's
"weapons of mass destruction", because of human rights
abuses, because of our desperate desire to "liberate"
them all. Let us not confuse the issue with oil. Either
way, I'll bet we are told President Saddam is
ultimately responsible for their deaths. We shan't
mention the pilot, of course.
The Independent, March 27, 2003
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