Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Nach den Bomben wird es Prozesse regnen"

Die Macht des Weltrechts. Von Andreas Fischer-Lescano

Die diplomatischen Bemühungen der USA um eine Einschränkung der Jurisdiktion des ständigen Internationalen Strafgerichtshofs wurden am 13. Juli 2002 mit der Resolution 1422 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen gekrönt. Der Sicherheitsrat schützte so US-amerikanische Staatsangehörige für zunächst ein Jahr vor der Strafverfolgung durch den Strafgerichtshof und was die einen als Sieg der Vernunft feierten, manifestierte für andere, dass das Weltrecht nicht mehr sei als ein hegemonial traktiertes Recht, dessen Gerichtsinstitutionen dem politischen Souverän zwar öffentliche Schauplätze zur Siegerjustiz böten, aber alles andere als unabhängig agierten: Milosevic, Pinochet, Alfredo Astiz - stets waren und sind es scheinbar geschlagene, politisch schwache Nationen wie Jugoslawien, Chile und Argentinien, deren politische Führungsriegen mit Prozessen konfrontiert werden, während andererseits bspw. für das Jugoslawientribunal die Möglichkeit von Kriegsverbrechen der NATO-Staaten im Kosovo-Konflikt für a priori ausgeschlossen gilt.

Idealistische Realisten

Hat aber die Weltpolitik tatsächlich über die normativen Ideale des egalitären Idealismus gesiegt? Ist mit der Resolution 1422, der Mission Enduring Freedom und dem Krieg gegen den Irak die Pax Americana Realität geworden, wie Robert Kagan nicht müde wird zu provozieren? Kontrafaktische, rechtspezifistische Ideen in der Tradition Immanuel Kants diskriminierte er jedenfalls unlängst als die "romantisierender Softies" (Hans Arnold) und seine realpolitisch motivierte Position hat eine Welle der Empörung unter alteuropäischen Intellektuellen und Völkerrechtlern provoziert. Auch das kann man natürlich als Realpolitiker wieder als typisch ohnmächtigen Gutmenschenreflex charakterisieren und inhaltlich weitgehend ignorieren. Es entsteht dann ein perpetuum mobile von realistischer Kritik und idealistischer Gegenkritik, das vor allem dadurch beeindruckt, dass die weltrechtlichen Realitäten völlig ignoriert werden: Wer sagt, das ius gentium hätte nichts zu sagen und die "silence du droit" ermögliche der Weltpolitik partialabsolutistisches Agieren, gibt so auch nur ein autobiografisches Zeugnis eigenen hegemonialen Idealismus', denn tatsächlich war die Aufmerksamkeit für dieses angeblich so schwache Recht nie größer, war dieses Recht nie stärker als heute und waren die Aussichten nie realistischer, dass einer globalen öffentlichen Empörung Tausender Menschen in Europa und Amerika auch gerichtliche Operationen folgen werden.

Realistische Idealisten

Die unterschiedlichsten Rechtfertigungsmuster wurden von George W. Bush vor der UNO im September 2001 und von den im Irak kriegsführenden Parteien bemüht, um den Gewalteinsatz zu rechtfertigen. Der Kampf gegen den Terrorismus sei eine legale Selbstverteidigungsaktion, was für Afghanistan und Irak gleichermaßen gelte. Weitere Rechtfertigungsgründe wurden nachgeliefert und als Donald Rumsfeld die politischen Ziele der USA im Irak damit beschrieb, dass es (a) um das Auffinden und Zerstören verbotener Massenvernichtungswaffen gehe, (b) um einen präventiven Verteidigungsschlag gegen einen Bedroher des Weltfriedens und der USA, (c) um eine Befreiung der irakischen Bevölkerung und (d) um die Durchsetzung von Resolutionen des UN-Sicherheitsrates (insbesondere Resolution 1441), fuhr er ein rhetorisches Arsenal auf, das per Präzisionssteuerung darauf abzielte, die einzigen beiden Ausnahmen des Gewaltverbotes im Völkerrecht für das eigene Handeln in Anspruch zu nehmen: Die Verteidigung (1.) der eigenen Sicherheit und (2.) des Weltfriedens, der natürlich ein positiver Frieden sei und die Gewährleistung auch der Menschenrechte im Irak beinhalte.

Schon ein nur oberflächlicher Blick zeigt, dass alles, was der Hegemon und seine Koalition der Willigen im Hinblick auf den Irak-Krieg kommunizierten, ein einziges Ziel hatte: Den Einsatz von Gewalt im Irak zu recht(sic!)fertigen: Die Genfer Konventionen wurden natürlich eingehalten. Die Präzisionswaffen der Alliierten trafen keine Zivilisten. Der Gesamteinsatz bewegte sich im Rahmen geltenden Rechts, da nicht ein Aggressionskrieg geführt worden sei sondern ein Verteidigungskrieg. Kein Verantwortlicher hätte in lächelnder Arroganz behauptet, an das Verbot des Angriffskrieges nicht gebunden zu sein. Keiner der Politstrategen hätte die Genfer Konventionen für obsolet erklären. Die generellen Regeln des Völkerrechts wurden vielmehr täglich und von allen Beteiligten bemüht.

Symbolischer Rechtsmissbrauch

Das Problem ist also offensichtlich ein anderes, eines des symbolischen Rechtsmissbrauchs: Alle Akteure berufen sich auf das Völkerrecht und bloße Rechtsbehauptungen sind von der tatsächlichen Rechtsgeltung nur schwer zu trennen. Hunderttausenden Friedensaktivisten (die sich natürlich auf das Völkerrecht beriefen) standen perfekt an den Rechtserwartungen der Weltgesellschaft ausgerichtete mediale Kommunikationsarmeen der Militärstrategen gegenüber, die auf US-Seite die Bombenschläge als Präzisionseingriffe feierten und live von den Schlachtfeldern die Einhaltung der Genfer Konventionen kommunizierten, bzw. auf Irakischer Seite das Gegenteil zu belegen vorgaben.

Nicht die Schwäche des Weltrechts sollte daher Anlass zur Sorge sein, sondern das Verhältnis von genereller Geltung der Norm und ihrer Anwendung bzw. der Entscheidung von Prinzipienkollisionen im konkreten Fall. Denn an der Geltung der Völkerrechtssätze besteht kein Zweifel. Dieser kommt erst dann auf, wenn man konkret fragt, ob die Sicherheitsresolution 1441 tatsächlich die Rechtsgrundlage eines Militärschlages sein kann, wo doch die darin angedrohten "ernsthaften Konsequenzen" von der üblichen Gewalt-Mandatierungs-Formel "alle erforderlichen Maßnahmen anzuwenden" nicht unerheblich abweicht. Und die Zweifel an der Rechtmäßigkeit werden verstärkt, da der Irak alles andere getan hatte, als mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen zu drohen und da die Menschenrechte im Irak vielleicht in noch stärkerem Ausmaß als durch das Hussein-Regime durch das von den Vereinten Nationen implementierte Embargo verletzt wurden, das zahlreiche Völkerrechtler, unter ihnen Bernhard Graefrath, Norman Paech und Marc Bossuyt, gar als systematischen Völkermord qualifizierten und über das Denis Halliday bei seinem Rücktritt vom Amt des UN Koordinators für UN Hilfsprogramme sagte: "Wir sind dabei ein ganzes Volk zu zerstören. Es ist so simpel wie schrecklich. Es ist illegal und unmoralisch."

Eigenzeit des Rechts

Doch wer soll diese Zweifelsfragen entscheiden? "Kein Recht ohne Gericht" schrieb Hans Kelsen einst und man könnte versucht sein, die Schwäche des Weltrechts aus dem Mangel an Weltrichtern zu schließen. Doch auch hier gilt, dass die Realisten ihre Polemiken ohne Realitätsbezug formulieren. Denn dass es noch keine Prozesse gegeben hat, heißt nicht, dass es keine geben wird, sondern heißt, dass die Eigenzeit des Rechts eine langsame ist, dass Prozesse auch im nationalen Recht Jahre dauern, dass das Weltrecht Jahrzehnte gebraucht hat, um dann u.a. im spanischen Richter Baltasar Garzon jemanden zu finden, der Männer wie den chilenischen Ex-Diktator Pinochet und den ehemaligen Außenminister der USA Henry Kissinger gleichermaßen rechtlich zu verfolgen bereit ist.

Und auch für George W. Bush, Tony Blair und die übrigen Willigen ist der Kampf an der Rechtsfront unberechenbar: Die Forderungen an ein Tätigwerden der Generalversammlung der Vereinten Nationen nehmen zu und es erscheint nicht undenkbar, dass diese Institution ein Rechtsgutachten durch den Internationalen Gerichtshof über die Rechtmäßigkeit des Militäreinsatzes im Irak anfordern könnte. Die größte Gefahr für die Politstrategen der Alliierten und ihre Soldaten droht aber von nationalen und internationalen Straf- und Zivilgerichten. Wie im Fall des Kosovokrieges, der die deutschen Gerichte u.a. wegen Restitutionsforderungen gegen die Bundesrepublik bis heute beschäftigt, werden schon bald nationale Gerichte über völkerrechtliche Fragen zu entscheiden haben. Und auch der ständige Internationale Strafgerichtshof wird, das kündigten britische und spanische Anwaltsvereinigungen schon vor geraumer Zeit an, sich mit Klagen gegen Tony Blair und José María Aznar auseinandersetzen müssen. Auch wenn es im Hinblick auf den eingeschränkten Jurisdiktionsbereich dieses Gerichts schwierig werden wird und man gegen US-Bürger nur vorgehen kann, wenn die Delikte vom Territorium eines Mitgliedstaates des Statutes aus begangen wurden, wenn also bspw. von deutschem Territorium aus Angriffe erfolgten: Selbst US-amerikanische Akteure der Weltpolitik sind vor dieser Institution des Weltrechts nicht sicher. Denn die als historischer Sieg der amerikanischen Diplomatie gefeierte Resolution 1422 des Sicherheitsrates vom 13. Juli 2002 greift nur, wenn es sich um einen "Vorfall durch Handlungen oder Unterlassungen im Zusammenhang mit von den UN eingesetzten oder genehmigten Einsätzen" handelt. Eine Untersuchung oder gar eine Strafverfolgung durch den Internationalen Strafgerichtshof ist darum auch für US-Staatsangehörige in Sachen des Militärangriffs auf den Irak nicht ausgeschlossen, da es sich hier gerade nicht um einen von den UN mandatierten Einsatz handelt.

Bevorstehende Prozesse

Eines ist daher sicher: Nach den Bomben wird es Prozesse regnen. Damit drohte die Regierung Bush den Stützen des Irakischen Regimes und unter anderem rechtliche Maßnahmen forderten auch diejenigen auf den Straßen Europas und Amerikas, die den Krieg für illegal und die Opfer unter der Irakischen Zivilbevölkerung nicht nur für Kollateralschäden hielten. Das Weltrecht wird schon bald in nationalen und internationalen Prozessen über die derzeit Kriegsführenden zu Gericht sitzen. Tatsächlich war dieses Recht nie stärker als heute und tatsächlich wird es, so ist ganz real-ideal-istisch zu hoffen, für das emanzipative Ideal genutzt werden können. Denn, so schreibt der Heidelberger Rechtsphilosoph Friedrich Müller, "Norm- und besonders Verfassungstexte setzt man, mit unaufrichtigem Vorverständnis konzipiert, letztlich nicht ungestraft. Sie können zurückschlagen."

* Frankfurt am Main/Florenz

Diesen Text hat uns der Autor freundlicherweise zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt. Er wurde gleichfalls veröffentlicht (unter dem Titel "Die Macht des Weltrechts") im Feuilleton der Frankfurter Rundschau vom 15. April 2003.


Zurück zur Irak-Seite

Zur Seite "Völkerrecht"

Zurück zur Homepage