Die Türkei und der amerikanische Krieg gegen den Irak
Ein Interview mit Noam Chomsky
Das folgende Interview mit dem bekannten amerikanischen Linguisten und Sozialwissenschaftler Noam Chomsky wurd noch während des Irakkrieges veröffentlicht.
1. Die Türkei wird bitter dafür kritisiert, dass sie uns nicht
erlaubt, ihr Territorium als Aufmarschgebiet für unsere Truppen
zu nutzen und von dort aus eine zweite Front gegen den Irak zu
eröffnen. Es gibt sogar einige Menschen, die sagen, dass eine
höhere Zahl amerikanischer und britischer SoldatInnen wegen des
türkischen Verhaltens stürben. Wie reagierten sie auf solche
Behauptungen und wie beurteilten sie den türkischen Standpunkt
bis heute? War die Ablehnung des Parlaments ein Zufall oder
spiegelt sie ein neues Zeitalter türkischer Demokratie wieder?
Die Kritik an der Türkei ist tatsächlich sehr bitter, gleichzeitig
aber auch sehr aufschlußreich. Die türkische Regierung hat die
Position von über 90 Prozent der Bevölkerung übernommen. Gemäß dem
früheren Botschafter und heutigen Elder Statesman Morris Abramowitz
bescheinigt dies den Mangel an "demokratischer Glaubwürdigkeit".
Die Regierung "folgt der Bevölkerung", schreibt er, anstatt den
Anweisungen aus Washington und Texas nachzukommen. Dies sei völlig
inakzeptabel. Die von ihm vertretene Ansicht entspricht der gängigen
Haltung.
Die Türkei gibt den USA allerdings eine Nachhilfestunde in Demokratie.
Und das wird als kriminell betrachtet. M. kann die Beweg- und Hinter-
gründe diskutieren, aber die Tatsachen sind hervorstechend eindeutig
und werden zudem noch dramatisch durch die Reaktion der USA bei ähn-
lichen Verbrechen an anderen Orten unterstrichen. Deutschland und
Frankreich werden ebenso bitter mit derselben Begründung verurteilt
während Italien, Spanien, Ungarn und andere als das "Neue Europa"
gepriesen werden, weil ihre Führungen den amerikanischen Anordnungen
entgegen dem Willen ihrer Bevölkerungen, der annähernd so stark ist
wie in der Türkei, Folge leisteten.
Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals solch eine Demonstration
intensiven Hasses gegen Demokratie bei Teilen der amerikanischen
Eliten (und in gewissen Ausmaß auch in Großbritannien) gesehen habe.
2. Sie haben lange Zeit dafür gestritten, dass der grundlegende
Anstand des amerikanischen Volkes und nicht die Leichensäcke halfen,
den Vietnamkrieg zu beenden. Was wird benötigt, um diesen Krieg zu
stoppen? Was treibt die andauernde Unterstützung für Präsident Bush
an?
Die öffentlich Stimmung in den Vereinigten Staaten ist kompliziert. Es
sollte im Hinterkopf behalten werden, dass im letzten September eine
riesige Medienkampagne der Regierung begann, die die U.S. Bevölkerung
auf einen anderen Planeten versetzt, solange das Thema "Irak" behandelt
wird. Iraks Nachbarn und der Großteil der restlichen Welt verachten
Saddam Hussein zu Recht. Aber sie fürchten ihn nicht. In den USA,
und allein in den USA, betrachtet die Mehrheit der Bevölkerung den
Irak - seit dem September 2002 - als eine ernsthafte und gegenwärtige
Bedrohung für die Sicherheit der Vereinigten Staaten. Dies war im
Grunde der Wortlaut der Resolution des Kongresses, mit der den USA
der Gebrauch der Streitkräfte im Oktober 2002 autorisiert (genehmigt)
wurde. Nach dem Anschlag am 11. September hat niemand den Irak
verantwortlich gemacht. Im Dezember glaubten dies allerdings schon
knapp die Hälfte des Volkes. Mittlerweile scheint es aber, dass eine
beträchtliche Mehrheit dem Irak nicht nur den Anschlag zuschreibt und
glaubt, dass Iraki in den Flugzeugen gewesen sind, die das World Trade
Center zerstörten, sondern auch, dass Saddam Hussein weitere solcher
Angriffe ausführt, wenn er nicht sofort gestoppt wird. Beweise für
all das gibt es nicht und die Behauptungen sind von Geheimdiensten
und den führenden SpezialistInnen auf diesem Gebiet widerlegt worden.
Es ist eine ewirklich spektakuläre Errungenschaft der Propaganda -
eine Errungenschaft, die denjenigen, die heute in Washington
herrschen, übrigens sehr bekannt ist. Sie sind größtenteils recycelte
Bestandteile der Reagan Administration aus den 80er Jahren. Sie
schafften es, die politische Macht wieder an sich zu reißen, obwohl
die Öffentlichkeit ihre Politik, die ziemlich schmerzhaft für die
Mehrheit gewesen ist, damals stark ablehnte. Es gelang ihnen indem
sie regelmäßig mit Behauptungen, die noch absurder waren als ihre
heutigen, den Panikknopf drückten: Nicaragua ist eine Bedrohung für
die amerikanische Sicherheit, die Russen werden uns von einer Airbase
auf Grenada bombardieren, etc..
Streichen sie den Angstfaktor und die USA beurteilen den Krieg gegen
den Irak eventuell genauso wie der Rest der Welt: mit überwältigender
Mißbilligung.
Im Fall von Vietnam brauchte es Jahre bis sich die Öffentlichkeit
gegen den Krieg wandte - aus Prinzip, nicht wie die ausgebildeten
Eliten und die Geschäftswelt, die letztendlich den Krieg zwar auch
ablehnten, aber aus "pragmatischen Gründen": er war schlichtweg
zu teuer für die USA. Die Situation ist im Moment aufgrund des
Zivilisationseffekts der öffentlichen Bewegungen der letzten 40
Jahre weitaus besser. Aber sie bleibt nichtsdestotrotz schwierig.
3. Stellt dieser Krieg wirklich den Wendepunkt für die internationalen
Beziehungen dar? Versuchen die Bush-Leute tatsächlich die Welt neu zu
gestalten und welche Auswirkungen wird sein Ausgang, wie immer sie ihn
auch einschätzen, auf die israelisch-palästinensische Frage haben?
Sie haben mit der nationalen Sicherheitsstrategie (National Security
Strategy) im September sehr deutlich bekannt gegeben, dass sie
beabsichtigen, die Welt mit Hilfe des Militärs zu kontrollieren und
jedwede potentielle Herausforderung im Keim zu ersticken. Es ist
vernünftig, anzunehmen, dass die Etablierung des "Präventivkrieg-
prinzips", das gemäß der Sicherheitsstrategie als Norm überall
verfolgt werden kann, Teil der Motivation für den Angriff auf den
Irak gewesen ist. Die Pläne haben enormen Widerstand und Angst auf
der ganzen Welt, und unter der außenpolitischen Elite zu Hause,
hervorgerufen. Ja, es ist wahr, einige befürworten sie. Unter ihnen
befinden sich sowohl die Ultra-Rechten als auch große Teile der
christlich-fundamentalen Bewegungen in den USA und einige andere.
Osama bin Laden muss entzückt sein, wenn er denn noch immer lebt:
das Ergebnis übertrifft seine kühnsten Träume. Innerhalb eines Jahres
haben es Bush und seine Verbündeten erfolgreich bewerkstelligt, die
gefürchtetste und die meist gehassteste politische Führung auf der
ganzen Welt zu werden, wie es internationale Meinungsumfragen sehr
eindeutig belegen. Wenn diesen Personen erlaubt wird, ihren Plänen
weiterhin nachzugehen, dann sieht die Zukunft verhängnisvoll aus.
Für die PalästinenserInnen sind die Resultate ein vollendetes Desaster.
Bush und Powell sprechen von ihrer "Vision", aber sie hüten sich
davor, sie näher zu beschreiben. Ein wenig können wir zumindest aus
ihren Maßnahmen zur Unterstützung ihres beliebtesten Klienten, dem
offiziellen "Mann des Friedens", Ariel Scharon, ermitteln. Bush und
Powell bekundeten mehrfach öffentlich, dass Israel mit den Siedlungs-
projekten in den besetzten Gebieten fortfahren könne bis in ungewisser
Zukunft, wenn sich die U.S. Regierung dazu entschließt, die Palästi-
nenserInnen "Fortschritte" erzielt hätten.
Zwei Drittel der amerikanischen Bevölkerung unterstützen die lang-
jährige internationale Übereinkunft zugunsten einer Zwei- Staaten-
Lösung in den international anerkannten Grenzen (vor dem Juni 1967)
anhand kleiner und gemeinsamer Abkommen. Die U.S. Regierung hat
sich einem solchen Ergebnis 25 Jahre lang verwehrt und verwehrt sich
auch heute noch. Die Tatsachen sind, obgleich sie nicht kontrovers
ausfallen, kaum in den Vereinigten Staaten bekannt. Die Bush Admi-
nistration ist in dieser Hinsicht sogar noch über die Haltung ihrer
Vorgängerinnen hinaus gegangen. Abgesehen von den vagen Ansprachen
über "Visionen" und "Träume", existiert - unglücklicherweise -
nichts, das darauf hindeutete, dass dieses Engagement umgesetzt
wird. Auch an diesem Punkt muss noch eine Menge Arbeit erledigt
werden.
Übersetzt von: Christian Stache
Quelle: ZNet 03.04.2003
Orginalartikel: "Turkey and The US War On Iraq"
http://www.zmag.de/article/article.php?id=593
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