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Blutiges Chaos in Irak

Hintergrund ist ein regionaler Machtkampf zwischen Saudi-Arabien und Iran

Von Karin Leukefeld *

Bei zwei Anschlägen auf Regierungsgebäude in Fallujah, westlich von Bagdad, sind am Montagmorgen mindestens zwei Polizeibeamte getötet worden. Vier Personen sollen verletzt worden sein. In der örtlichen Elektrizitätsbehörde sollen die Angreifer sich mit 15 Geiseln verschanzt haben.

Die Angriffe vom Montag galten einer Polizeiwache und der Elektrizitätsbehörde in der westirakischen Stadt. Angeblich soll ein Selbstmordattentäter den Weg in das Polizeigebäude frei gebombt haben, berichteten irakische und ausländische Medien. Ähnlich sei ein zweiter Mann in der Elektrizitätsbehörde vorgegangen. Anschließend seien die Gebäude von drei Seiten mit Mörsergranaten und Gewehrfeuer durchsiebt worden, innerhalb der Gebäude eröffneten die Angreifer das Feuer auf die Menschen. Der Sprecher des irakischen Innenministeriums, Brigadegeneral Saad Maan, sagte in Bagdad, dass Sicherheitskräfte „fünf Selbstmordattentäter“ in Fallujah getötet hätten.

Am Vortag (Sonntag) war es zu einem ähnlichen Angriff auf Regierungsgebäude in Rawa gekommen, einer Stadt nördlich von Fallujah. Dort sollen ebenfalls die Polizeiwache sowie ein Kontrollpunkt der Armee und ein Büro der Gemeindeverwaltung angegriffen worden sein. Mindestens acht Personen wurden dabei getötet, drei von ihnen gehörten dem Gemeinderat der Stadt an.

Zwar kommt es immer wieder zu Angriffen auf staatliche Einrichtungen im Irak, Ziel der meisten Anschläge sind allerdings Moscheen, Cafés oder Märkte und töten Zivilisten. Bei einer Sitzung der europäischen Geheimdienste und INTCEN, der Geheimdienstbehörde des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) wiesen EU-Diplomaten Anfang Oktober bereits auf die gefährliche Lage im Irak hin. Aus dem Protokoll eines INTCEN-Treffens (9. Oktober 2013) an die Bundesregierung, das mit dem Vermerk „Nur für den Dienstgebrauch“ versehen ist und das jw vorliegt geht hervor, dass EU-Diplomaten sich große Sorgen über die Entwicklung im Irak machen. EAD-Vertreter hätten „um mehr Aufmerksamkeit für die sich zuspitzende Situation“ im Zweistromland gebeten, heißt es in der Korrespondenz. Die irakische „Regierung treffe falsche Maßnahmen“. Militärische Präsenz zu verstärken helfe nicht, die irakische Regierung müsse die „Bevölkerung für sich gewinnen, indem auf die vorgetragenen Sorgen und Forderungen insbesondere der Sunniten“ eingegangen werde, fasst das Protokoll zusammen. „9 von 10 Anschlägen seien gegen Schiiten gerichtet.“

Mit 979 Toten (UN) war der September in diesem Jahr der mörderischste Monat für die Iraker. Im August hatte die UN 804 Tote gezählt. Im Oktober sind demnach mehr als 490 Menschen bei Anschlägen getötet worden. Basierend auf Angaben der offiziellen Sicherheitskräfte und von Krankenhäusern, die von amerikanischen, kanadischen und irakischen Wissenschaftlern ausgewertet wurden, sollen seit Anfang 2013 mehr als 5200 Menschen getötet worden sein. Seit Beginn der von den USA geführten Invasion in den Irak 2003 wurden demnach eine halbe Millionen Iraker getötet.

Am Sonntag waren bei einem Terroranschlag auf eine Teestube in der Hauptstadt Bagdad 55 Menschen ums Leben gekommen. Landesweit starben an diesem Tag mindestens 77 Menschen. Am Tag davor waren bei einer Explosion vor einer Eisdiele in Bagdad 12 Personen getötet worden. Tags zuvor wurden in Sinjar, einem traditionell von irakischen Jesiden bewohnten Gebiet in der Provinz Mossul, eine Mutter und ihre drei Söhne von Scharfschützen in ihrer Wohnung erschossen. In Bakuba, nördlich von Bagdad kamen bei verschiedenen Gefechten mindestens drei Menschen ums Leben. In Mossul wurden Angehörige der Schabak, einer religiösen Minderheit getötet.

Die Internetplattform „Irak Body Count“ gibt die Zahl der Toten in der vergangenen Woche (14. - 20. Oktober 2013) mit 228 an.

Hintergrund der anhaltenden Gewaltwelle, die im Irak zuletzt 2008 ähnliche hohe Opferzahlen gefordert hatte, ist ein regionaler Machtkampf Saudi Arabiens mit dem Iran. Als Instrument dieses geopolitischen Konflikts dient die Religion, über die sich in den tiefgläubigen muslimischen Gesellschaften emotional rasch Anhänger mobilisieren lassen.

Als „Hüter der heiligen Stätten von Mekka und Medina“ beansprucht das saudische Königshaus die Führung der Muslime und sieht in der Islamischen Revolution im Iran einen Konkurrenten. Iran hatte nach der US-Invasion im Irak seinen Einfluss im Zweistromland ausweiten können. Während in Saudi Arabien eine wahabitisch-sunnitische Strömung des Islam herrscht, folgt der Iran der schiitisch-islamischen Strömung. Der Streit um die Nachfolge des Propheten Mohammad geht zurück auf das 7. Jahrhundert und hatte ursprünglich wirtschaftliche Gründe. Die sunnitisch-islamische Strömung setzte sich durch, die Schiiten bildeten in den arabischen Gesellschaften die Unterschicht.

Die aktuelle Zunahme der Gewalt im Irak hat einen direkten Bezug zu dem Krieg in Syrien, den Islamistische Kampfverbände aus dem Irak – ausgestattet mit Geld aus Saudi Arabien und anderen Golfstaaten – nutzen wollen, um ein Islamisches Khalifat im Irak und Syrien zu errichten. Weil die Regierung in Bagdad jeder militärischen „Lösung“ im Nachbarland eine Absage erteilt hat, wird der Irak mit einer massiven Anschlagswelle überrollt. Berechtigte Kritik an der irakischen Innenpolitik, die weite Teile der Gesellschaft aus politischen Prozessen ausschließt, dient den Geldgebern der Attentäter als Vorwand für die gewaltsame Destabilisierung des Landes.

* Dieser Artikel erschien gekürzt in: junge Welt, Dienstag, 22. Oktober 2013 ("Terror im Irak")


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