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Blutiger Tag in Irak: Über 100 Menschen starben

27 Terroranschläge in 18 Städten *

Am blutigsten Tag in Irak seit mehr als zwei Jahren sind bei einer Serie von Anschlägen mindestens 107 Menschen getötet worden, weitere 216 seien durch eine Attentatsserie in Bagdad und nördlich der Hauptstadt verletzt worden, teilten die Behörden am Montag mit. Demnach wurden 27 Anschläge in 18 Städten verübt.

Der schwerste Anschlag ereignete sich nach Angaben von Ärzten in Tadschi, 25 Kilometer nördlich von Bagdad. Bei einer Reihe von Explosionen wurden dort mindestens 42 Menschen getötet und 40 verletzt. Ein Bewohner sagte, er habe ein unbekanntes Auto gesehen und die Polizei verständigt. Die sei von einer Autobombe ausgegangen. Als die Bewohner im Umkreis in Sicherheit gebracht werden sollten und ihre Häuser verließen, sei die Bombe explodiert. Unter den Trümmern suchten Menschen nach ihren Angehörigen.

Unter den Opfern der Anschlagsserie waren auch zahlreiche Soldaten und Polizisten. Allein beim Angriff auf eine Militärbasis in Dhuluijah, 90 Kilometer nördlich von Bagdad, wurden 15 Soldaten getötet und zwei weitere verletzt, wie aus Armee und Innenministerium verlautete. In der Provinz Dijala nordöstlich von Bagdad attackierten die Angreifer Kontrollpunkte von Armee und Polizei. Bei den Bombenexplosionen starben elf Menschen, darunter Mitglieder der Sicherheitskräfte.

Weitere Anschläge gab es in den nördlich von Bagdad gelegenen Städten Saadijah, Chan Beni Saad, Kirkuk, Tus Churmatu, Dibis und Dudschail. In der irakischen Hauptstadt wurden zwei Menschen nach Angaben von Sicherheitsbeamten und Medizinern durch die Explosion von Autobomben in den Vierteln Husseinijah und Jarmuk getötet. In der Schiitenhochburg Sadr City im Zentrum der Hauptstadt starben zwölf Menschen bei der Explosion einer Autobombe.

Zu den Angriffen bekannte sich zunächst niemand.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 24. Juli 2012


Terror in Nahost eskaliert

Blutige Glaubenskonflikte zwischen Sunniten und Schiiten im Irak wie in Syrien.

Von Werner Pirker **


Nicht nur in Syrien, auch im Irak eskaliert der Terror. Eine Serie von Anschlägen hat den Montag im Zweistromland zum bisher blutigsten Tag gemacht. Innerhalb weniger Stunden detonierten Sprengsätze in rund einem Dutzend irakischer Städte. Über 100 Menschen kamen ums Leben, mehr als 260 wurden verletzt. Die Angriffe richteten sich meistens gegen Einrichtungen der Sicherheitskräfte und Regierungsgebäude. Aber auch Wohngebäude waren Ziel der Anschläge.

Allein in der zwanzig Kilometer von Bagdad entfernten Stadt Tadschi detonierten sechs Sprengsätze. Als Rettungskräfte zum Einsatzort geeilt seien, habe ein Selbstmordattentäter seinen Sprengstoffgürtel gezündet und elf Polizisten mit in den Tod gerissen, berichten Agenturen. Detonationen wurden auch aus den Bagdader Schiitenvierteln und aus Kirkuk gemeldet, wo fünf Autobomben explodierten.

Die Terroroffensive war am Samstag auf einer Website der Gruppe »Islamischer Staat im Irak«, die als Al-Aaida-Ableger gilt, angekündigt worden. Als Ziele der Operation wurden die Befreiung inhaftierter Mitglieder und die Rückkehr der Organisation in ihre einstigen Hochburgen genannt. Die irakischen Sicherheitsbehörden machen Al-Qaida für die Anschlagsserie verantwortlich. Die Gruppe versuche, den Irak an den Rand eines Krieges zwischen Schiiten und Sunniten zu treiben, heißt es. »Sie wollen, daß die Lage so schlimm wird wie in Syrien.«

Die Schiiten waren bis zum Einmarsch der US-Truppen und ihrer Alliierten die unterprivilegierte Mehrheit der irakischen Bevölkerung, während die Sunniten traditionell die Machtelite im Lande stellten. Der irakische Widerstand gegen das Besatzungsregime entwickelte sich dann auch überwiegend im »sunnitischen Dreieck«. Der noch unter der Bush-Administration erfolgte Strategiewechsel beinhaltete die Einbeziehung von Sunnitenmilizen in die amerikanische Befriedungspolitik und damit die Neutralisierung des sunnitischen Widerstandes. Umgekehrt nahm der Iran als die Hauptmacht der Schia zunehmend Einfluß auf die schiitisch dominierte irakische Führung.

Syrien wiederum hat eine sunnitische Bevölkerungsmehrheit. Die Machtelite aber wird von der schiitischen Sekte der Alawiten gebildet. Da der syrische Aufstand inzwischen zunehmend Züge eines Rachefeldzuges der Sunniten gegen die Minderheiten (Alawiten, Drusen und Christen) angenommen hat, ist er zu einem idealen Betätigungsfeld für wahabitisch-islamistische Terrorbanden geworden.

Verkehrte Welt: Der von den US-Truppen einem Regimewechsel unterzogene Irak fühlt sich mittlerweile mehr der schiitischen Allianz, auch »Achse des Widerstandes« genannt, als der westlichen Wertegemeinschaft verbunden. Die von den Golfmonarchien aufgerüsteten ehemaligen antiamerikanischen Widerstandskämpfer dagegen sind nun gemeinsam mit den westlichen Warlords um einen Regimewechsel in Damaskus bemüht. Es ist freilich davon auszugehen, daß die Westmächte das Unternehmen »Regime change« nicht allein den Aufständischen überlassen wollen. Die starke islamistische Präsenz innerhalb des Anti-Assad-Lagers könnte sogar einen Vorwand dafür liefern, der selbstauferlegten »Schutzverantwortung« schnellstmöglich nachzukommen, um das Land – wie es dann heißen wird – sowohl von Assad als auch von Al-Qaida zu befreien.

Auch der von der syrischen Regierung inzwischen bestätigte Besitz von chemischen Waffen könnte als Kriegsvorwand genutzt werden. Aus Damaskus heißt es dazu, daß Chemiewaffen nur bei Angriffen von außen, nicht aber gegen die Rebellen eingesetzt werden sollen. (mit dapd/AFP/Reuters)

** Aus: junge Welt, Dienstag, 24. Juli 2012


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