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Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung

Aus dem Irak-Bericht 2002 von amnesty international

Vorbemerkung
Im Jahresbericht 2002 von amnesty international (ai) finden sich zahlreiche Hinweise darauf, dass im Irak Menschenrechte nicht sehr viel gelten. Wir dokumentieren im Folgenden Auszüge aus dem Bericht, weisen aber gleichzeitig darauf hin, dass noch so viele Menschenrechtsverletzungen im Irak (oder in jedem anderen Land) keinen Krieg rechtfertigen. Ähnlich sieht das übrigens ai selbst, das sich im September in einer Presseerklärung gegen die Instrumentalisierung ihres Berichts durch den US-Präsidenten verwahrt. In der Presseerklärung vom 16. September 2002 hieß es:


amnesty international (ai) wirft der US-amerikanischen Regierung vor, ihre Berichte zu missbrauchen, um einen möglichen Krieg gegen den Irak zu rechtfertigen. In seiner Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen am vergangenen Donnerstag erwähnte US-Präsident George Bush schwere Menschenrechtsverletzungen an der irakischen Bevölkerung. Das während der Bush-Rede verteilte Pressematerial des Weißen Hauses bezieht sich dabei unter anderem mehrfach auf ai-Berichte zum Irak der vergangenen Jahre.

"Einmal mehr wird die Menschenrechtsbilanz eines Landes selektiv gehandhabt und damit für politische Zwecke missbraucht ", kritisiert Barbara Lochbihler, Generalsekretärin der deutschen Sektion von amnesty international. "Weder die USA noch andere westliche Regierungen haben sich während des Kriegs zwischen Irak und Iran für die Untersuchungen von amnesty international über die Menschenrechtssituation im Irak interessiert", sagte Frau Lochbihler. "Auch im Zusammenhang der Giftgasangriffe auf die kurdische Stadt Halabja im Jahr 1988 ist die ai-Kampagne zu Gunsten der unbewaffneten Zivilbevölkerung völlig ignoriert worden. Jetzt soll ein Krieg mit diesen Berichten gerechtfertigt werden."

Ein Angriff auf den Irak wird immer wahrscheinlicher, obwohl schon jetzt feststeht, dass die irakische Zivilbevölkerung und ihre grundlegenden Rechte drastisch darunter leiden werden. "Alle Maßnahmen, die die aktuelle humanitäre und menschenrechtliche Krise im Irak lösen wollen, müssen das Leben und die Sicherheit der Zivilbevölkerung als oberstes Ziel haben", fordert die deutsche ai-Generalsekretärin. Vorangegangene bewaffnete Interventionen in der Golfregion haben gezeigt, dass getötete Zivilisten nur allzu oft als "akzeptable Verluste" betrachtet wurden.

amnesty international befürchtet, dass ein Angriff auf den Irak eine Massenflucht auslösen und Tausende Personen zu Flüchtlingen machen wird. Die Zerstörung von Infrastruktur könnte angesichts des Mangels an Medikamenten und Nahrungsmitteln eine humanitäre Krise auslösen.

Ähnlich äußerte sich Barbara Lochbihler auch auf dem Irak-Kongress am 1. Dezember in Berlin. Die Medien haben dies indessen kaum zur Kenntnis genommen. Der Tenor der Berichterstattung über den Kongress war: Hier sei einseitig gegen die USA Stellung bezogen worden und die Untaten von Saddam Hussein seien nicht zur Sprache gekommen. Offenbar übersteigt es das Vorstellungsvermögen mancher Berichterstatter, dass man ein Regime scharf kritisieren kann, ohne gleich gegen es Krieg führen zu wollen.

Im Folgenden also Auszüge aus dem Länderbericht Irak des ai-Jahresberichts 2002. Der Berichtszeitraum bezieht sich auf das Jahr 2001. Die Jahresberichte von ai erscheinen jährlich aus als Fischer-Taschenbuch.


IRAK

Zahlreiche Menschen, unter ihnen mögliche gewaltlose politische Gefangene und Offiziere der Armee, die im Verdacht standen, den Sturz der Regierung geplant zu haben, wurden hingerichtet. Eine Vielzahl von vermeintlichen Regierungsgegnern, darunter Menschen, die der Verbindung zu Oppositionsgruppen im Exil verdächtigt wurden, hat man festgenommen. Das Schicksal und der Verbleib der meisten im Berichtszeitraum oder in früheren Jahren verhafteten Personen blieb ungeklärt. Mehrere Menschen wurden nach grob unfairen Prozessen von Sondergerichten zu langen Freiheitsstrafen verurteilt. Folterungen und Misshandlungen an politischen Gefangenen und anderen Häftlingen kamen systematisch zur Anwendung. Die beiden kurdischen Parteien, die Irakisch-Kurdistan kontrollierten, nahmen gewaltlose politische Gefangene in Haft, während bewaffnete politische Gruppen Berichten zufolge für Entführungen und Tötungen verantwortlich zeichneten.

Hintergrundinformationen
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Im April verabschiedete die UN-Menschenrechtskommission in Genf eine Resolution, in der sie »die systematischen, weit verbreiteten und extrem schweren Verletzungen der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts durch die Regierung des Irak« entschieden verurteilte, »die zu einer alles durchdringenden Repression und Unterdrückung geführt haben, die auf breit angelegter Diskriminierung und weit verbreitetem Terror beruhen«. Die Kommission verlängerte das Mandat des UN-Sonderberichterstatters über den Irak für ein weiteres Jahr.

Im Verlauf des Berichtsjahres forderten nach vorliegenden Meldungen Luftangriffe der US-amerikanischen und der britischen Streitkräfte gegen irakische Ziele in den »Flugverbotszonen« weitere Menschenleben unter der Zivilbevölkerung. Zum ersten Mal seit über zwei Jahren bombardierten die US-amerikanischen und britischen Streitkräfte im Februar außerhalb der »Flugverbotszonen« Ziele in Bagdad. Laut Angaben der irakischen Regierung fielen diesen Angriffen ein Mann und eine Frau zum Opfer, und über 20 Menschen wurden verletzt. US-Regierungsbeamte erklärten, die Angriffe seien zur Vergeltung für erhöhte irakische Aktivitäten gegen alliierte Flugzeuge in den »Flugverbotszonen« erfolgt und gegen irakische Radar- und Kommandozentralen gerichtet gewesen. Die irakische Regierung gab hingegen an, dass am 19. Juni 23 Menschen getötet und elf verwundet worden seien, als US-amerikanische und britische Kampfflugzeuge einen Fußballplatz in Tel Afr, westlich von Mosul im Norden Iraks, angriffen. US-Regierungsvertreter stritten diese Behauptung ab ...

Todesstrafe

Nach wie vor wurde die Todesstrafe extensiv angewandt. Im November erließ der Revolutionäre Kommandorat, das höchste Exekutivorgan im Land, ein Dekret zur Einführung der Todesstrafe für die Tatbestände der Prostitution, der Homosexualität, des Inzests und der Vergewaltigung. In diesem Erlass hieß es ferner, dass diejenigen, die für schuldig befunden werden, für Zwecke der Prostitution Unterkunft gewährt zu haben, durch das Schwert hinzurichten sind. Berichten zufolge wurden innerhalb der vergangenen zwei Jahre Frauen und Männer wegen angeblicher Prostitution beziehungsweise Zuhälterei geköpft. Dies geschah üblicherweise ohne Gerichtsverfahren und manchmal aus politischen Gründen.

Zahlreiche Menschen, unter ihnen möglicherweise gewaltlose politische Gefangene, wurden hingerichtet. Zu den Opfern zählten Offiziere, die im Verdacht standen, eine Verschwörung zum Sturz der Regierung geschmiedet zu haben oder Kontakte zu Oppositionsgruppen im Ausland zu unterhalten, sowie vermeintliche politische Oppositionelle, insbesondere Schiiten, die regierungsfeindlicher Aktivitäten verdächtigt wurden.

Im März wurden die drei Luftwaffenoffiziere Sa'eed 'Abd al-Majid 'Abd al-Ilah, Fawzi Hamed al-'Ubaidi und Fares Ahmad al-'Alwan durch ein Erschießungskommando exekutiert.

Ebenfalls im März wurde der Armeeoffizier Generalmajor Tariq Sa'dun hingerichtet, weil er die Regierung kritisiert haben soll.

Im Mai fand in Bagdad die Exekution der beiden moslemischen Geistlichen 'Abd al-Sattar 'Abd al-Ibrahim al-Musawi und Ahmad al-Hashemi statt, Berichten zufolge weil sie öffentlich die Regierung beschuldigt hatten, hinter dem Mord an Ayatollah Mohammad Sadeq al-Sadr im Jahr 1999 zu stecken. Beide waren nach vorliegenden Meldungen Ende 2000 festgenommen worden.

Im Juli wurden die beiden Rechtsanwälte Mohammad 'Abd al-Razzaq al-Hadithi und Karim al-Shammari dem Vernehmen nach von einem Sondergericht wegen angeblicher regierungsfeindlicher Aktivitäten zum Tode verurteilt. Beide gehörten zu einer Gruppe von Anwälten, die im Juni wegen der Verteilung von Flugblättern verhört worden waren, die Kritik an der mangelnden Unabhängigkeit der Justiz enthalten hatten. Ob die Urteile vollstreckt worden sind, entzog sich der Kenntnis von amnesty international.

Im Oktober wurden 23 politische Gefangene, hauptsächlich Schiiten, Berichten zufolge im Abu-Ghraib-Gefängnis hingerichtet. Drei von ihnen, 'Abd al-Hamid Naji Taleb, Riyadh Fathi Jassem und Fares Talal Hatem, sollen beschuldigt worden sein, im Juni in Saddam City in Bagdad einen Sicherheitsoffizier ermordet zu haben.

Festnahmen und Haft ohne Kontakt zur Außenwelt

Während des Berichtsjahres wurden zahlreiche Menschen festgenommen, weil man sie regierungsfeindlicher Aktivitäten verdächtigte, oder einfach nur wegen ihrer verwandtschaftlichen Beziehung zu Personen, nach denen die Behörden fahndeten. Viele von ihnen wurden ohne Anklageerhebung oder Gerichtsverhandlung und ohne Kontakt zur Außenwelt in Haft gehalten.
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Im August wurden 22 Personen wegen angeblicher regierungsfeindlicher Aktivitäten in Ramadi und Kut festgenommen. Zum Ende des Berichtsjahres lagen noch immer keine Informationen über ihr weiteres Schicksal und ihren Verbleib vor.

Lange Haftstrafen nach unfairen Gerichtsverfahren

Nach wie vor entsprachen Prozesse vor Sondergerichten, die stets unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfanden, nicht den international anerkannten Standards der Fairness. Bei den Richtern handelte es sich um Militäroffiziere oder zivile Beamte, denen es an einer adäquaten juristischen Ausbildung und der erforderlichen Unabhängigkeit mangelte. Der Zugang zu den von der Regierung ernannten Anwälten war nach wie vor stark eingeschränkt und gelegentlich auf den Verhandlungstag beschränkt.
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Folterungen und Misshandlungen

Politische Gefangene und Häftlinge wurden systematischen Folterungen unterworfen. Die Körper von Hinrichtungsopfern wiesen vielfach Spuren von Folterungen auf. Zu den üblichen physischen Foltermethoden gehörten Elektroschocks oder Verbrennungen mit Zigaretten an verschiedenen Körperteilen, das Ausreißen der Fingernägel, Vergewaltigung, das Aufhängen an den Gelenken über lange Zeiträume hinweg, entweder an einem Deckenventilator oder an einer horizontalen Stange, Schläge mit Kabeln, Schläuchen oder Metallstangen und Schläge auf die Fußsohlen (falaqa). Außerdem wurden Gefangene mit Vergewaltigung bedroht und Scheinhinrichtungen unterworfen. Sie kamen in Zellen, in denen sie die Schreie von anderen Folteropfern hören konnten, und wurden vorsätzlich am Schlafen gehindert.

Im März wurde 'Abd al-Wahad al-Rifa'i, ein 58-jähriger Lehrer im Ruhestand, durch den Strang hingerichtet, nachdem er über einen Zeitraum von zwei Jahren ohne Anklageerhebung oder Prozess im Gefängnis eingesessen hatte. Man hatte ihn verdächtigt, durch seinen im Ausland lebenden Bruder mit der Opposition in Verbindung zu stehen. ...

Im Juli haben Angehörige der Feda'iyye Saddam, einer 1994 durch 'Uday Saddam Hussein, den ältesten Sohn des Staatspräsidenten, gebildeten Miliz, Berichten zufolge den beiden der Verleumdung des Präsidenten beschuldigten Männern Zaher al-Zuhairi und Fares Kadhem 'Akla die Zunge herausgeschnitten. Die Amputationen fanden auf einem öffentlichen Platz in Diwaniya City südlich von Bagdad statt.

Irakisch-Kurdistan

In den beiden von kurdischen politischen Parteien kontrollierten Provinzen im Norden Iraks wurde in dem von der Patriotischen Union von Kurdistan (Patriotic Union of Kurdistan – PUK) kontrollierten Gebiet im Januar eine neue Regierung gebildet. Der ehemalige Ministerpräsident Kosrat Rassul trat aus Gesundheitsgründen zurück und wurde durch Barham Ahmad Salih ersetzt. In dem von der Demokratischen Partei von Kurdistan (Kurdistan Democratic Party – KDP) kontrollierten Gebiet fanden im Mai Kommunalwahlen statt. Die KDP gewann Berichten zufolge alle Sitze.

Vor den Büros der Vereinten Nationen und internationaler Nichtregierungsorganisationen in Irakisch-Kurdistan explodierten mehrmals Bomben, die beträchtlichen Sachschaden verursachten. Kurdische Funktionäre machten die irakischen Sicherheitsdienste für diese Bombenanschläge verantwortlich.
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Politisch motivierte Festnahmen

Im April wurde Youkhana Yalda Khaie, ein 32-jähriger assyrischer Christ und Grundbesitzer aus dem Gebiet um Duhok, durch die KDP festgenommen. Er wurde in Einzelhaft gehalten, ihm wurden die Augen verbunden, und er soll gefoltert worden sein, bevor man ihn im September freiließ. Die KDP beschuldigte ihn, Verbindungen zur Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), einer türkischen Oppositionsgruppe, unterhalten zu haben. Seine Familie gab jedoch an, dass der tatsächliche Grund für seine Festnahme gewesen sei, sein Land zu enteignen und ihn daran zu hindern, Gelder für den Bau einer Kirche zu sammeln.

Im Juni wurden fünf Mitglieder der Irakischen Kommunistischen Arbeiterpartei (Iraqi Workers' Communist Party – IWCP) – Karwan Najm al-Din, Kamran Hussain, Falah Ahmad, Ribwar Jalil und Alan Najm al-Din – von den Behörden in Sulaymania, das von der PUK kontrolliert wird, festgenommen. Sie hatten angeblich ohne Genehmigung eine Zeitungsredaktion eröffnet. Alle fünf kamen Ende Juli ohne Anklage wieder frei.

Hashim Zebari, ein Journalist der unabhängigen kurdischen Zeitung Hawlati, und zwei weitere Personen wurden im Juli in Dohuk in dem von der KDP kontrollierten Gebiet festgenommen. Die drei wurden ohne Angabe von Gründen mehrere Wochen in Haft gehalten und anschließend wieder auf freien Fuß gesetzt.

Tötungen und Entführungen durch bewaffnete Gruppen

Im Februar wurde Faranso Hariri, der Gouverneur von Arbil und Mitglied des Zentralkomitees der KDP, durch unbekannte Personen erschossen, während er in Arbil mit dem Auto unterwegs war. Zahlreiche Menschen wurden in Zusammenhang mit diesem Mord festgenommen und verhört. Die KDP machte später bewaffnete Islamisten, die der Islamischen Einheitsbewegung von Kurdistan angehörten und die sich später Jund al-Islam angeschlossen haben sollen, für den Mord verantwortlich.

Dr. Ribwar 'Omar Nouri, der Direktor eines Krankenhauses in Halabdscha, wurde am 22. September von bewaffneten Mitgliedern der Jund al-Islam entführt, um auf die PUK Druck auszuüben, ein inhaftiertes Mitglied der Jund al-Islam freizulassen. Dr. Nouri kam 20 Tage später frei, nachdem die PUK der Forderung entsprochen hatte.

Bistun Muhye al-Din Hama Sharif wurde am 5. September durch Mitglieder der Jund al-Islam entführt. Er wurde drei Tage lang festgehalten und Berichten zufolge gefoltert, bevor man ihn wieder freiließ. Als Grund für seine Entführung wurde seine Mitgliedschaft in einer links gerichteten politischen Gruppe angegeben.

Auszüge aus: ai Jahresbericht 2002


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