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Afghanistan überschattet Irak-Abzug

Erstmals stehen mehr USA-Truppen am Hindukusch als im Zweistromland

Von Reiner Oschmann *

Erstmals seit Beginn des von Washington unter fadenscheinigem Vorwand, mit fehlenden Beweisen und katastrophalen Ergebnissen vom Zaun gebrochenen Irak-Krieges vor gut sieben Jahren stehen jetzt mehr USA-Truppen in Afghanistan als an Euphrat und Tigris. Das widerspiegelt weniger eine entschlossene Rückzugspolitik in Irak als eine militärische Eskalation am Hindukusch.

Nach Angaben des Pentagons und des Vizepräsidenten Joseph Biden, der mit der Durchsetzung des angekündigten Truppenrückzugs aus Irak beauftragt ist, stehen derzeit noch immer 92 000 US-amerikanische Soldaten im Zweistromland und bereits 94 000 in Afghanistan. Dort soll die Zahl um weitere mindestens 30000 wachsen. Auf dem Höhepunkt des Irak-Krieges, in den Jahren 2006/07, waren bis zu 172 000 US-Amerikaner in dem arabischen Land stationiert.

Erst vor wenigen Tagen hat der Senat in Washington mit Zweidrittelmehrheit, zu der in diesem Fall auch die oppositionellen Republikaner beitrugen, weitere fast 60 Milliarden Dollar für die Fortsetzung der Kriege in Afghanistan und Irak bewilligt. Eine Einigung über neue Schutzmaßnahmen für die Langzeitarbeitslosen in den USA kam demgegenüber vorerst nicht zustande.

In Irak rückt unterdessen die Einlösung eines Versprechens Barack Obamas heran: der Abzug aller Kampftruppen. Seine Zusicherung aus dem Vorjahr sieht eine Reduzierung der US-amerikanischen Truppen von jetzt 92 000 auf 50 000 bis Ende August vor; bis Ende 2011 sollen auch die letzten US-amerikanischen Militärs das Land verlassen haben. Im Gegenzug sollen laut Washingtoner Angaben bereits vor Ende dieses Sommers über 100 000 GI's in Afghanistan stationiert sein.

»Zwischen beiden Kriegen bestehen viele Zusammenhänge, und die Tatsache, dass wir nur eine Armee besitzen, ist lediglich einer von ihnen. Wir verfügen einfach nicht über genügend Truppen, um alles zu erledigen, was wir vorhaben«, zitiert die »Washington Post« den Präsidenten des »Center for a New American Security«, John Nagl, der selbst als Offizier in Irak war.

Die USA geraten mit ihrer gleichzeitigen Kriegsführung auf unterschiedlichen Kriegsschauplätzen mehr und mehr in eine imperiale Überforderungssituation. Auch darin besteht ein Zusammenhang der Invasionen in Irak und Afghanistan. Nagl räumte das mit den Worten ein: »Der Abzug aus Irak ist nicht allein eine Frage der Einhaltung eines Versprechens, sondern auch eine Übung, die den Streitkräften Gelegenheit gibt, Luft zu holen.« Da in Irak drei Monate nach der Parlamentswahl noch immer keine Regierung steht, gibt es Stimmen, die auch den Abzugsplan gefährdet sehen. Vizepräsident Biden erklärte vor wenigen Tagen in einem langen Interview im Weißen Haus: »Es wird schwierig und hart werden, und es wird Hochs und Tiefs geben. Doch ich glaube, das Endergebnis wird so aussehen, dass wir in der Lage sein werden, unsere Verpflichtung (zum Abzug -- R.O.) einzuhalten.« Nach Rückzug ohne Wenn und Aber klingt das nicht. Eher nach einer Vorbereitung der Öffentlichkeit darauf, dass der Krieg in Afghanistan ausgeweitet und der Rückzug aus Irak nicht wie angekündigt erfolgen wird.

Ohnehin lässt sich eine Truppenreduzierung auf 50000 Soldaten in Irak nicht einfach als Abzug »verkaufen«. Obama machte vor wenigen Tagen an der Militärakademie in West Point, wo er die neue Sicherheitsdoktrin der USA verkündete, keinen Hehl daraus, dass die US-amerikanischen Interessen an Irak auch mit dem schrittweisen Truppenabbau nicht beendet sein werden. »Eine starke zivile Präsenz der USA wird für die Iraker dazu beitragen, politischen und wirtschaftlichen Fortschritt zu erringen.« Dass Obama, immer stärker gezeichnet von den Folgen der heimischen Ölkatastrophe am Golf von Mexiko, dabei auch an irakisches Erdöl und Erdgas und seine künftige günstige Nutzung durch die USA denkt, ist gewiss keine denunzierende Unterstellung.

* Aus: Neues Deutschland, 2. Juni 2010


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