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"Bloß keine Marschmusik"

Konstantin Wecker gibt Auskunft über eine viel beachtete Reise in den Irak

Die Reise von Konstantin Wecker in den Irak war in den hiesigen Medien unterschiedlich bewertet worden. Es gab viel Sympathie, aber auch einige Kritik, die von "naiv" bis "Handlanger Saddams" reichte. Im Folgenden dokumentieren wir seine Eindrücke, wie er sie selbst aufgeschrieben hat. Der Bericht wurde zuerst in der Wochenendbeilage der jungen Welt am 25. Januar 2003 veröffentlicht.

Abfahrt vom Münchner Hauptbahnhof. Endlich schneit es. Meine Söhne haben so lange darauf gewartet. »Jetzt kannst du ja gar keinen Schneemann mit uns bauen.« Wieviel Zeit darf ich meinen Kindern nehmen, um sie fremden Kindern zu schenken? Gestern hab ich meine Buben noch um Spielzeug gebeten, für die »armen Kinder im Irak«. Die Tasche ist voll geworden...

Pressekonferenz Frankfurter Flughafen. »Machen Sie die Reise, um wieder in die Schlagzeilen zu kommen?« Man hat die gehässige Glosse in der Süddeutschen gelesen, und die Frage entlarvt den Fragesteller. Es ist schade, wie viele Menschen sich gar nicht mehr vorstellen können, etwas zu tun, ohne in den Kategorien von Gewinn und Verlust zu denken. Nun habe ich etwas losgetreten, was seine eigene Dynamik entwickeln wird. Wer weiß, wie diese Reise mein Leben beeinflussen wird.

Niemand in unserer kleinen Delegation macht sich Illusionen über den Diktator, der seit Jahrzehnten abweichende Meinungen brutal unterdrückt. Bis kurz vor dem ersten Golfkrieg allerdings wurde derselbe Tyrann von den Westmächten gehätschelt und mit Waffen und Wirtschaftsgütern zugeschüttet. Man machte blendende Geschäfte mit ihm, er war der klassische »bad boy«, wie die Amerikaner sagen, ein Schurke zwar, aber unser Schurke. Das Giftgas, das er gegen die Kurden einsetzte, kam aus den Vereinigten Staaten und aus Deutschland, und die Moral, die man jetzt so vehement wiederentdeckt, wurde dem Big Business, wie so oft, gerne untergeordnet. Wer wird der nächste sein?

»Wars are poor chisels for carving out peaceful tomorrows« (etwa: Kriege sind armselige Meißel, um ein friedvolles Morgen in Stein zu hauen). Während des Fluges von Amman nach Bagdad übergibt mir die amerikanische Friedensaktivistin Colleen Kelly ein Flugblatt mit diesem Satz von Martin Luther King. Die Maschine ist bis auf den letzten Platz gefüllt mit Irakern und Friedensgruppen aus aller Welt, die in Bagdad ein Zeichen setzen wollen.

Das Anliegen der Amerikaner, »die Gesichter des irakischen Volkes zu sehen und die Spirale der Gewalt zu durchbrechen«, deckt sich mit dem unseren. Wir, das sind eine Ärztin, eine Wissenschaftlerin, ein Lehrer, Jürgen, der Friedensaktivist, der die nächsten Monate in Bagdad bleiben wird, und drei Journalisten. Die meisten waren schon 1991 im Irak, für mich ist es die erste Begegnung mit diesem Land, das von hunderttausenden Soldaten und einem martialischen Waffenaufgebot umzingelt ist.

Für US-Außenministerin Albright war der Tod von über fünfhunderttausend irakischen Kindern als Folge von Krieg und Embargo ein Kollateralschaden, ein Preis, der es »wert war, bezahlt zu werden«. Diesem Zynismus kann und will ich mich nicht anschließen. Auf dem Reißbrett der Militärs werden Menschen verschoben wie leblose Zahlen, von Strategen, die nicht daran denken würden, sich selbst oder ihre Kinder zu opfern. Auf den Schlachtfeldern haben diese Zahlen ein Gesicht, eine Geschichte, sind voller Hoffnung und Sehnsucht, haben Familie und Träume. Und sie wollen leben!

Bei der Ankunft in Bagdad lauert der unvermeidliche Fotograf auf den unvermeidlichen Schnappschuß »Wecker unterm Hussein-Bild«. Damit haben sie im letzten Herbst den Fußballtrainer Stange reingelegt. Die Ikonodulie des Landes ist in der Tat unerträglich. Es gibt praktisch keine freie Fläche in der Stadt und in den öffentlichen Gebäude ohne Saddam. Saddam als Kämpfer mit MP, als Bluesbrother mit Sonnenbrille, als guter Onkel und als Sonnenkönig. Der Fotograf bekam sein Bild, verschwand und ward nicht mehr gesehen.

Dann der nächste Schock. Wir wurden als VIPs mit verdunkelten Luxuslimousinen abgeholt, während die Amerikaner von den »voices of wilderness« mit Gesang, Transparenten und Umarmungen empfangen wurden und in einem alten Bus weiterfahren durften. Die Fahrt zum Hotel »Al Raschid«, der ersten Adresse Bagdads, war ein Horrortrip. Es ist einfach obszön, sich in einem so armen Land mit diesen Protzautos zu bewegen, und ich fragte mich, wer der Regierung die Mercedesse wohl verkauft haben mochte. Weshalb geisterten bei der Bagdad-Messe im November 2002 keine Fotos von Wirtschaftsbossen mit Hussein im Hintergrund durch die Presse? Mit wem haben die dort ansässigen 51 deutschen Firmen ihre Geschäfte gemacht? Mit den Ärmsten der Stadt, deretwegen wir gekommen waren?

Wie ich später erfuhr, war der Staatsapparat veranlaßt worden, jedem Fotografen die Kamera abzunehmen. Es scheint, als sei die Moral beim Geschäft auch hier wieder mal geduldiger als bei dem ganz und gar nicht lukrativen Versuch, den Armen eine Stimme zu verleihen.

Wir beraten uns beim Abendessen. Der Schock der pompösen Ankunft sitzt allen tief in den Knochen. Wir beschließen, am nächsten Morgen in das Hotel umzuziehen, wo sich die anderen Friedensgruppen befinden, in keine Staatskarosse mehr einzusteigen und in jedem Fall alles selbst zu bezahlen.

Henning Zierrock, der Präsident von »Kultur des Friedens«, telefoniert noch am Abend mit unserem Betreuer. Als hätte man uns unsere Wünsche von den Lippen abgelesen, steht uns tags darauf ein alter Bus zur Verfügung. In diesem Hotel haben die Wände Ohren und selbst die Badezimmer Augen. Nichts wie raus.

Der morbide und bröckelnde Charme des Al-Fanar-Hotels gefällt uns bedeutend besser. Wir beschließen, auf unserer Unabhängigkeit zu bestehen, ohne natürlich den Respekt gegenüber der arabischen Gastfreundlichkeit und Höflichkeit zu verletzen. Es wird noch einige Zeit dauern, bis wir das inoffizielle Bagdad näher kennenlernen sollen.

Dabei hilft uns ein Münchner, mit dem ich mich vom ersten Moment an befreundet habe. Alexander Christoph ist seit zwei Jahren vor Ort und Leiter der »architects for people in need«, der einzigen unabhängigen deutschen Hilfsorganisation im Land. Neben vielen anderen Projekten gilt ihr Hauptinteresse der Trinkwasserversorgung. UNICEF schätzt, daß 40 Prozent des irakischen Trinkwassers verunreinigt sind. Alexander hat, wie er mir erzählte, irgendwann entschieden, das nächtliche Abfeiern seines beruflichen Erfolges im Nachtcafé gegen ein sinnvolles Leben zu tauschen. Ein Leben im Dienst derer, die nicht zuletzt unseres Überflusses und unserer Gleichgültigkeit wegen in tiefer Armut leben. Er hat uns mit den Tatsachen konfrontiert, die nur jemand kennen kann, der vor Ort lebt.

Wir fahren in die »Eisenschmiedegasse«. Alexander führt uns zu einem achtjährigen Jungen, der zwölf Stunden täglich Eisenstäbe so zurecht klopft, daß sie mit einer Manschette gebündelt werden können. Er ist mit Ernst bei der Arbeit, am Boden kauernd, so daß er uns erst gar nicht wahr nimmt. Alexander überreicht seiner Familie Spendengelder aus Deutschland, damit der Junge zur Schule gehen kann. Wir erklären seinem Chef, der einem Charles-Dickens-Roman zu entstammen scheint, daß Amir ab heute nicht mehr bei ihm arbeiten werde. Ich frage den Jungen, ob er denn gern zur Schule gehen würde. Er blickt mich lange aus seinen dunklen, riesengroßen Augen an, nickt ohne den Anflug eines Lächelns, und ich hoffe inständig, ich werde ihn später einmal lachen sehen.

Mir will nicht aus dem Kopf, welchen kranken Hirnen die Idee entstammt, man müsse durch Restriktionen ein Volk so verelenden lassen, daß es sich irgendwann gegen die Diktatur erhebt. Derartiges können sich eigentlich nur Militärs ausdenken. Aber: Erstens ging die Rechnung nicht auf, denn statt Terror zu verhindern, wird der Terrorismus in der zutiefst gedemütigten islamischen Welt geradezu gefördert, und zweitens: Selbst wenn sich ein derart stranguliertes Volk erhöbe, isoliert von intellektueller und künstlerischer Begegnung, seit zwölf Jahren um Schulbildung und Kontakt mit freieren Gesellschaftsmodellen gebracht – wäre das wirklich der Nährboden für eine demokratische Kultur oder nicht eher der Nährboden für Fanatismus, Haß und Terror?

Unser Bus fährt uns nach Saddam City, dem Elendsviertel Bagdads, in dem über drei Millionen Menschen leben. Als wir aussteigen, springen Horden von Kindern an uns hoch, klatschen Beifall, ein Junge küßt mich. Man lädt uns zum Tee ein, und als ich bei einem Bäcker Brot kaufen will, schenkt er es mir. Ich stelle mir vor, wie ein hungriger Iraker bei uns in der City behandelt würde...

Saddam City ist die Keimzelle eines potentiellen Schiitenaufstandes. Im Falle eines Krieges wird Hussein diesen Stadtteil abriegeln und die eigenen Leute abschlachten, so befürchten einige Korrespondenten vor Ort. Ich sehe in die Augen dieser unterernährten Kinder, sehe ihre Freude, uns getroffen zu haben, und schwöre mir, gegen diesen Krieg aufzustehen.

Bei der Rückfahrt fliegen Steine gegen unseren Bus. Jetzt erst erfahren wir von unserem Fahrer, daß wir ein Regierungskennzeichen haben. Wir fahren am Tigris entlang, vorbei an prächtigen Villen. Ich frage unseren Fahrer, wie es sein kann, daß in diesen Zeiten, indiesem armen Land Leute so reich sind. Er überlegt lange und antwortet mit einem vielsagendem Lächeln: »That is a very difficult question!« Man muß zwischen den Zeilen lesen, wenn man die Meinung über Hussein herausfinden will, muß auf Gesten und Blicke achten. Und vor allem nach unserem Konzert im »Al Ribat«, einem etwa 400 Leute fassenden Konzertsaal, öffneten sich die Herzen und Münder.

Wir musizierten zusammen mit irakischen Musikern und zu meiner Überraschung schien das begeisterte Publikum meine Lieder zu verstehen. Nicht die Texte, aber das Gefühl, das ein älterer Mann so umschrieb: »Tut das gut! Endlich mal keine Marschmusik und kein Blabla.« Er verdrehte die Augen nach oben und uns beiden war klar, wen er mit »Blabla« meinte.

Diese Tage im Irak waren Wechselbäder der Gefühle für mich, Hoffnung und Desillusion wechselten sich bisweilen stündlich ab, oft fühlte ich mich fehl am Platz, manchmal spürte ich wieder, wie wichtig diese Reise war. Ich erhielt wunderschöne Briefe der Zustimmung, andere beschimpften und bedrohten mich sogar. Ich frage mich immer noch, woraus sich der Haß nährt, der mir auch entgegenschlägt. Sicher, die Bellizisten sehen ihre Pfründe bedroht, ihren materiellen Gewinn und ihre festgefahrenen Denkmuster. Aber einige, glaube ich, spüren tief in sich, daß sie selbst auch verantwortlich wären, gegen diesen Krieg etwas zu tun, und verteidigen so ihre Gleichgültigkeit. Mir fällt da eine indianische Weisheit ein: Wer haßt, vergiftet sich selbst in der Hoffnung, damit den anderen zu vernichten.

»Je größer die Aufgabe und Verantwortung Einzelner bei der Gestaltung der Geschichte wird, um so wichtiger ist es, daß jeder von uns lernt, seine Verantwortung im neuen Jahrtausend zu akzeptieren und an ihrer Erfüllung zu arbeiten.« Diesen Worten des japanischen Friedenspreisträgers Daisaku Ikeda fühle ich mich jetzt mehr denn je verpflichtet.

Aus: junge Welt, 25. Januar 2003


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