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Ein Krieg gegen Irak ist nicht gerechtfertigt / Waging war on Iraq is not justified

Von Aharon Levran (Ha'aretz, Israelische Tageszeitung) / By Aharon Levran (Ha'aretz)

Im Folgenden dokumentieren wir einen Artikel aus der israelischen Tageszeitung Ha'aretz vom 24. September 2002. Der Artikel ist interessant, weil er jenen häufig vorgebrachten Behauptungen widerspricht, von Iraks Waffenpotenzial gehe eine besonere Bedrohung auch für Israel aus. Die deutsche Übersetzung erschien am 27. September in der Zeitung "junge Welt". Weiter unten der englische Originalartikel (Ha'aretz erscheint in hebräischer und englischer Sprache).


Wofür kämpfen wir? Das ist die entscheidende Frage, wenn man in einen Krieg zieht oder bevor man einen auslöst. Die Bush-Regierung hat keine solide Basis für einen Krieg gegen Saddam Hussein. Die Warnungen vor den Gefahren, die von Saddam ausgehen, sind übertrieben.

Die Interpretation von Saddams Haltung und die Art, wie sie präsentiert wird, ist mangelhaft, weil die US-Regierung dem irakischen Führer die gleichen größenwahnsinnigen Ideen und Pläne unterstellt, wie er sie vor dem zweiten Golfkrieg 1991 hatte.

Trotz seiner verlogenen Erklärungen ist sich Saddam im klaren darüber, daß er geschlagen ist und er es nicht mit dem mächtigen Amerika aufnehmen kann. Er hat daher nicht zufällig der Waffeninspektion durch die UNO zugestimmt. Vor dem zweiten Golfkrieg versuchte der Irak, die Hegemonie über den Iran und seine arabischen »Schwestern« zu gewinnen und forderte die USA heraus. Die Situation heute scheint grundlegend anders zu sein.

Nach der Niederlage im Golfkrieg sind Saddams Ambitionen sehr beschränkt. Sein Ziel ist es, den Irak zu schützen und andere daran zu hindern, seine Souveränität zu verletzten – natürlich um selbst zu überleben. Vor allem geht es ihm darum, die Last der wirtschaftlichen Sanktionen der UNO zu mindern und das erniedrigende Inspektionsregime loszuwerden. Es ist zweifelhaft, daß Saddam die Hoffnung hat, sich weiter in der Region auszudehnen, da ihm die unmittelbaren Konsequenzen bewußt sind. Als brutaler und gerissener Despot hat Saddam bewiesen, daß er sehr vorsichtig und vernünftig vorgehen kann. Er mag immer noch größenwahnsinnige Wünsche haben, aber seine Macht ist sehr begrenzt.

Der Irak verfügt heute nicht mehr über Atomenergie, hauptsächlich weil er kein spaltbares Material wie Plutonium oder angereichertes Uran hat, obgleich er das generelle Potential besitzt, eine Atombombe zu bauen. In der Tat war der Irak seinerzeit vor dem zweiten Golfkrieg nur sechs Monate von der Produktion einer Atombombe entfernt, und zwar weil er über spaltbares Material verfügen konnte, das in den von Frankreich und der Sowjetunion gelieferten Reaktoren gewonnen wurde, die »unter der Aufsicht« der Internationalen Behörde für Atomenergie standen.

Dieses Material wurde aus dem Irak entfernt, und das Land verfügt nicht über die Fähigkeit, in Zentrifugen – die zerstört wurden – oder auf anderem Wege Uran anzureichern. Alle Versuche, spaltbares Material in der für den Bau einer Bombe ausreichenden Qualität und Menge zu erwerben, sind bisher gescheitert und es ist unwahrscheinlich, daß sie in der Zukunft Erfolg haben werden.

Ebenso unwahrscheinlich ist es, daß Saddam heute noch aus vollem Herzen nach einer Bombe strebt, denn in dem Augenblick, da er sich einem Erfolg näherte, würde das in den USA bemerkt werden und er Ziel eines Liquidationsversuches. Das Gleiche würde passieren, wenn er nukleare Waffen an Terroristen verkauft.

Andererseits besitzt Saddam wahrscheinlich chemische und biologische Waffen, die leicht zu produzieren und zu verbergen sind. Aber selbst, als er sie im Irak-Iran-Krieg einsetzte, tat er es nur zurückhaltend. Sogar als sich seine Armee 1991 aus Kuwait zurückziehen mußte, wagte er es nicht, Gebrauch von diesen Waffen zu machen.

Das Risiko unkonventioneller Waffen hängt von der Fähigkeit ab, sie abzuschießen, also hauptsächlich von der Zahl der verfügbaren Flugzeuge, unbemannten Drohnen und Raketen. Selbst vor dem Krieg von 1991 zeigte die irakische Luftwaffe keine ernstzunehmende Offensivstärke. Nach dem Krieg war sie natürlich noch schwächer. Aber natürlich reicht schon ein einziges Flugzeug für einen entsprechenden Angriff aus. Weiter verfügt der Irak schon seit Jahren über Drohnen, die unter anderem dazu bestimmt sind, chemische und biologische Stoffe aus der Luft zu versprühen. Doch ihre Reichweite und die Qualität des Kontrollsystems sind unklar. Immerhin ist die Kontrolle von Drohnen über eine Entfernung von Hunderten oder gar 1000 Kilometern sicherlich alles andere als eine einfache Aufgabe.

Auch die Frage der ballistischen Raketen hat ihre zwei Seiten. Es gibt keine Beweise, daß der Irak – selbst nach der Ausweisung der UNO-Inspektoren im Dezember 1998 – viele Abschußrampen und insbesondere Mittelstreckenraketen besitzt. Ihre Einsatzfähigkeit und die der Sprengköpfe – insbesondere der angenommenen versteckten unkonventionellen – ist ungeklärt. Urteilt man auf Grundlage der von den Inspektoren gefundenen Waffen, bestätigen sich die Zweifel. Es ist außerdem fraglich, ob der Irak im Westen des Landes so frei operieren kann, wie das 1991 bei den Angriffen auf Israel und Saudi-Arabien der Fall war.

Die Risiken, die von Saddam Hussein ausgehen, sind geringer, als sie erscheinen. Die akute Bedrohung geht im Nahen Osten von anderen Kräften aus, wie dem Iran und der Hisbollah. Aber diese Gefahren stehen nicht oben auf der Prioritätenliste der USA.

Die USA sind sehr wichtig für die freie Welt. Deshalb ist es nicht wünschenswert, daß sie ihre Kräfte gegen eine Macht konzentrieren, die keine Bedrohung ersten Ranges ist.

Aharon Levran ist Reserve-Brigadegeneral und Autor des Buches "Israel nach dem Wüstensturm". Der Beitrag erschien am 24. September in der israelischen Tageszeitung Ha´aretz

Waging war on Iraq is not justified

By Aharon Levran

What are we fighting for? That is a crucial question when going off to a war - and certainly before initiating one. The Bush administration has no solid grounds for waging war on Saddam Hussein and the arguments about the variety of risks Saddam poses are exaggerated.

The interpretation of the threat Saddam poses, and the way it is being presented are deficient, because the U.S. administration is attributing the same megalomaniac ideas and ambitions to the Iraqi leader as he had before the Gulf War.

Despite his bombastic lying declarations, Saddam is well aware he was defeated. It is clear to him that he cannot take on the might of America, and it is no accident that he he has folded now on the issue of the nuclear weapons inspectors. Before the war he had built up hopes of gaining hegemony in the Gulf vis-a-vis Iran and his Arab "sisters," and he was ready even to challenge the United States. This does not seem to be the situation now. His ambitions since the war are curtailed. His limited aims are to protect Iraq and deter others from harming it and - of course - to survive.

Specifically he is striving to remove the burdensome economic sanctions and the humiliating inspection regime. It is doubtful if he has concrete desires to expand in the region or beyond it, if only because it is clear to him what its immediate cost would be. However, to achieve his limited purposes he needs power to back them, especially its non-conventional components, for they are the only things which give his power an added value. A brutal and crafty despot, Saddam has proved to be careful and sane in his moves. He might wish to return to his megalomaniac desires, but his capability is restricted.

Iraq today has no nuclear power, mainly because it has no fissile material like plutonium or enriched uranium, although it has a general potential to manufacture an atomic bomb. Before the war Iraq was, indeed, about six months away from manufacturing a bomb, but this is because it had the use of the fissile material in the reactors transferred to it by the Soviet Union and France and which were "under the inspection" of the International Atomic Energy Agency.

This material was taken away from Iraq, and today it does not have the capability to enrich uranium with centrifuges (which have been destroyed) or in other ways. Attempts to buy fissile material in the quality and quantity required for a bomb have failed in the past and it is doubtful whether the could succeed in the future.

It is also doubtful that post-war Saddam is striving wholeheartedly to build a nuclear bomb, because the moment he approaches it, this will not go unnoticed in United States and he would be sentencing himself to an immediate liquidation attempt. This would also be the case if he transferred nuclear arms of any kind to terrorists.

On the other hand, Saddam probably has chemical and biological weapons which are easy to manufacture and conceal. But even when he used chemical weapons in the Iraq-Iran war, he restricted himself, and even when his army was defeated and driven out of Kuwait, he did not dare to use those weapons.

The risks of non conventional weapons depend on having the means to launch them - mainly airplanes, pilotless drones and missiles. And here the Iraqi Air Force, even before the war in 1991, did not demonstrate any considerable attacking power - never mind after the war when it was very much weakened. However, even a single plane can carry out an infiltration and attack. Iraq has had drones for years, intended among other things to spray chemical and biological agents from the air. But their range and the abilities of the control systems are unclear - controlling drones across hundreds of kilometers or a thousand kilometers is not an easy matter to be taken for granted.

The ballistic missile issue also has two sides - there is no evidence that Iraq, (even since getting rid of the inspectors in December 1998) has many launchers and missiles, especially in the middle range. Their operational condition, and that of the war heads - especially the presumably hidden non-conventional heads - is not at all clear. Judging by the condition of chemical weapons the inspectors found in the past, such doubts are well placed. There is also the question of whether they could be operated freely in western Iraq as they were in 1991 to hit Israel and Saudi Arabia.

It seems one may establish that the risks from Saddam Hussein are not so bad as they are made to appear. Moreover, certain threats - and much more acute ones - are presented by others in the region, like Iran and Hezbollah. But these are not high on the U.S. list of priorities.

It is not desirable that the United States, so important to the free world, should pitch its power against a danger that is not first rate.

Brigadier General (res.) Levran is the author of "Israeli Strategy after Desert Storm," published by Frank Cass.


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