Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Gezielte Zerstörung

Analyse. Zehn Jahre Krieg der USA im Irak: der Staat wurde zerschlagen, die Wirtschaft ­ruiniert, die Gesellschaft fragmentiert und die nationale Kultur liquidiert

Von Joachim Guilliard *

Am 1. Mai 2003 hatte US-Präsident George W. Bush seinen großen Auftritt: Er landete vor laufenden Kameras bei untergehender Sonne auf dem Flugzeugträger USS »Abraham Lincoln« und erklärte die seit dem 20. März andauernden Kampfhandlungen im Irak für beendet. »Mission accomplished« (»Mission erfüllt«) stand auf einem riesigen Transparent im Hintergrund. Es war eine grandiose Fehleinschätzung. Im ersten Jahr nach dieser »historischen Tat« fielen monatlich mehr US-Soldaten im Kampf als während der sechswöchigen Inva­sion. Als die USA Ende 2011 ihre regulären Truppen aufgrund des immer breiteren Widerstands gegen ihre Präsenz abziehen mußten, hatten sie kaum eines ihrer Kriegsziele erreicht. Doch auch den Irakern stand am 1. Mai 2003 – nach Bombardement und Bodenkrieg, der ihr Land nach dem sogenannten Ersten Golfkrieg 1990/91 zum zweiten Mal verwüstete – die schlimmste Zeit erst noch bevor.

In den Medien durchbrach der zehnte Jahrestag jetzt die Funkstille, die seit langem zum Irak herrscht. Die Berichte und Analysen zogen zwar meist eine eher kritische Bilanz des Krieges und seiner Folgen, blieben aber letztlich so oberflächlich und beschönigend wie in den vergangenen zehn Jahren. Es wurde nicht einmal ansatzweise versucht, das wahre Ausmaß der Zerstörung der irakischen Gesellschaft zu erfassen.

Vor allem aber wurde – in Fortsetzung der alten Komplizenschaft mit der US-geführten Besatzung – die Verantwortung für die Katastrophe weniger den Invasoren und Okkupanten zugeschrieben, sondern hauptsächlich den Irakern selbst. Die Rede ist von Fehlern, einer gescheiterten Politik, einer schlechten Bilanz usw. Es wird über ein Krieg diskutiert, als handle es sich um eine mißglückte chirurgische Operation: für die einen Beobachter überflüssig oder zu teuer, für andere zu stümperhaft durchgeführt. Doch keines der führenden Medien bezeichnete ihn als das, was er offensichtlich ist: ein brutales, gewaltiges Verbrechen, eines der größten seit dem Zweiten Weltkrieg. Obwohl kaum jemand bestreitet, daß der Krieg eine völkerrechtswidrige Aggression darstellt – und damit nach dem Urteil des Nürnberger Tribunals das schlimmste aller internationalen Verbrechen – wird er im Westen bis heute nicht als solches anerkannt, geschweige denn geahndet.

Das offizielle Washington, seit langem bemüht, Gras über das »mißglückte Unternehmen« wachsen zu lassen, widmete dem Jahrestag wenig Aufmerksamkeit. Präsident Barack Obama begnügte sich am 19. März mit einer halbseitigen schriftlichen Erklärung, in der er den US-Truppen, die im Irak im Einsatz gewesen waren, seine »Hochachtung« aussprach und sie lobte, dort »eines der außergewöhnlichsten Kapitel im militärischen Dienst« geschrieben zu haben. Durch ihre Aufopferung hätten sie den Irakern die Möglichkeit gegeben, »nach vielen Jahren der Not ihre eigene Zukunft zu schmieden«. Im Irak werden dem nur wenige zustimmen.

»No Future«

Das Urteil der paar Iraker, die in den westlichen Medien zu Wort kamen, fiel durchweg vernichtend aus, auch das derer, die den Sturz Saddam Husseins 2003 begrüßt hatten. Der Irak sei nun »ein komplett gescheiterter Staat«, schrieb beispielsweise der irakische Schriftsteller Najem Wali in der taz vom 19. März 2013. Statt der erhofften Demokratisierung und dem Wiederaufbau hätten die britisch-amerikanischen Truppen nur Angst und Zerfall über das Land gebracht. Er sei nun wahrhaftig schon zweimal gestorben, versichert der irakische Rechtsanwalt Sabah Al-Mukhtar, Präsident der Arabischen Anwaltsvereinigung in Großbritannien, in seiner Bestandsaufnahme im März 2013 in der schwedischen Zeitschrift Brännpunkt: Zunächst 1991, als er von London aus zusehen mußte, wie sein Land zerstört wurde und er einen Monat lang nichts von seinen Familienangehörigen hörte. Das zweite Mal am 9. April 2003, als »seine Stadt, sein Land, seine Identität, seine Ehre und sein Glauben von den neuen Barbaren mehrfach vergewaltigt wurden«. Seither sei er ein völlig anderer Mensch. Keiner seiner vielen Verwandten hatte bis dahin vor, das Land zu verlassen, und er galt aufgrund seiner frühen Auswanderung fast als Abtrünniger. Nun sind sie alle über zahlreiche Länder verstreut. Fast ein Viertel seiner Landsleute wurde »im ›befreiten‹ und ›demokratischen‹ neuen Irak« zu Flüchtlingen, so Al-Mukhtar. Bagdad sei heute die schlimmste Stadt in der Welt. Vor 2003 gab es keine religiöse Diskriminierung und konfessionelle Spannung. Doch »Teile und herrsche ist die Methode, zu dominieren und den Opfern auch noch die Schuld zuzuschieben und sie zu dämonisieren«.

Berichte von UN-Organisationen und NGOs bestätigen das düstere Bild. »Die Infrastruktur, das Gesundheits- und das Bildungssystem des Iraks sind nach wie vor vom Krieg verwüstet«, so das Fazit des »Costs of War Project« an der renommierten Brown University im US-Bundesstaat Rhode Island. Von dem »Wiederaufbau«, in den seit 2003 etwa 212 Milliarden Dollar geflossen sind – davon 61 Milliarden aus den USA und 138 Milliarden aus dem Irak – ist wenig zu sehen. Der größte Teil dieses Geldes wurde für die militärische Herrschaftssicherung ausgegeben oder ging durch Vergeudung und Betrug verloren.

Die Hälfte der erwerbsfähigen Männer ist arbeitslos oder unterbeschäftigt, Frauen wurden weitgehend aus dem Erwerbsleben gedrängt. Ein Viertel der Bevölkerung lebt in extremer Armut, die Lebenserwartung sank im Vergleich zu den Nachbarstaaten um vier Jahre. Rund drei Millionen Kinder sind laut einer UNICEF-Studie ohne adäquate Gesundheitsversorgung. 1,5 Millionen Kinder unter fünf Jahren sind akut unterernährt, 100 von ihnen sterben jeden Tag. Der Irak war 1987 von der UNESCO für sein Bildungswesen ausgezeichnet worden, ab 2003 stieg die Analphabetenrate wieder auf über 22 Prozent und liegt bei Frauen in manchen Gegenden schon bei 40 bis 50 Prozent.

Dieser fortwährende Niedergang wird im Westen weitgehend ignoriert. Washington und London seien zudem eifrig bemüht, die überwältigenden Beweise dafür herunterzuspielen, daß ihre Invasion eines der dysfunktionalsten und betrügerischsten Regime geschaffen habe, stellte Patrick Cockburn fest, der Nahostexperte der britischen Tageszeitung Independent. So schlimm die Situation aktuell ist, so kann sie bald noch wesentlich schlechter werden, befürchtet der ausgezeichnete Kenner des Landes.

Chaos und Gewalt

Die Zahl politisch motivierter Gewalttaten nimmt wieder stetig zu. Täglich gibt es Bombenexplosionen, Entführungen und Morde. Anschläge auf Schiiten, für die Al-Qaida-nahe Gruppierungen verantwortlich gemacht werden, Attentate auf sunnitische Politiker, die die Handschrift von Todesschwadronen tragen, und nicht zuletzt die massive Repression des Regimes. Premierminister Nuri Al-Maliki hat mittlerweile die Macht völlig in seinen Händen konzentriert. Er erhielt 2006 das Amt, weil er einer der wenigen schiitischen Politiker war, die sowohl für die Besatzer als auch für den Iran akzeptabel waren – eine gemeinsame Gabe des »Großen Satans« (USA) und der »Achse des Bösen«, wie ein irakischer Beamter damals sarkastische bemerkte. Ursprünglich ohne eigene Hausmacht, brachte er mit Hilfe der beider Staaten den Regierungsapparat, die Armee, die Geheimdienste und die Gerichtshöfe unter seine Kontrolle und schafft sich seither eine Basis, indem er seiner Gefolgschaft den Löwenanteil an Jobs und staatlichen Aufträgen zukommen läßt.

Die Kontrolle über den Machtapparat nutzt Al-Maliki rücksichtslos gegen seine Gegner aus, auch innerhalb der Regierung. Tausende Iraker werden ohne Gerichtsverfahren gefangengehalten, heißt es im jüngsten Report »Ein Jahrzehnt der Menschenrechtsverletzungen« von Amnesty International. Ehemalige Gefangene berichteten, daß sie durch Folter gezwungen wurden, schwerste Verbrechen zu gestehen. Viele wurden bereits auf Grundlage der erpreßten Geständnisse zum Tode verurteilt. Von 2004 bis Februar 2013 sind offiziell 447 Menschen hingerichtet worden. Einstmalige Häftlinge gehen jedoch von einer wesentlich höheren Zahl aus. Bereits im März dieses Jahres wurden 33 weitere Männer gehängt. 150 Exekutionen sollen in den kommenden Wochen folgen. »Menschen in Chargen zu exekutieren, ist obszön«, empörte sich daraufhin im März die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Navanethem Pillay. »Es ist, als ob man Tiere im Schlachthaus abfertigt.«

Teile und herrsche

Die Besatzer haben »ihr eigenes Erbe von Menschenrechtsverletzungen hinterlassen«, schreibt Amnesty International. Die Organisation bezieht sich dabei jedoch nur auf die Reihe bekanntgewordener Vergehen, wie die Folterungen im Gefängnis von Abu Ghraib, und nicht auf die Besatzungspolitik als Ganzes. Wo diese in den vielen Zehn-Jahres-Bilanzen für die desolate Situation im Irak mitverantwortlich gemacht wurde, war in der Regel nur von erheblichen Fehlern, mangelnder Planung etc. die Rede.

Zwar spielten Unfähigkeit, Überheblichkeit und Ignoranz sicherlich auch eine Rolle. Die katastrophale Entwicklung ist in erster Linie jedoch die vorhersehbare Folge einer Eroberungs- und Besatzungspolitik, für die Stabilisierung und Demokratisierung keine Priorität hatte. Sie zielte auch nicht nur auf die bloße Ersetzung einer unliebsamen Regierung durch US-hörige Marionetten und den direkten Zugriff aufs irakische Öl. Ziel war vor allem die nachhaltige Zerstörung einer Regionalmacht und die permanente Stationierung eigener Truppen – als Ausgangsbasis für die Umgestaltung bzw. Unterwerfung der gesamten Region. Ziel war vor allem die nachhaltige Zerstörung einer Regionalmacht und die permanente Stationierung eigener Truppen – als Ausgangsbasis für die Umgestaltung bzw. Unterwerfung der gesamten Region.

Allen Warnungen zum Trotz wurden daher Armee und Polizei aufgelöst und die staatlichen Strukturen weitgehend zerschlagen. Da die Besatzer nur mit einem Drittel der Truppenstärke einmarschierten, die der US-Generalstab ursprünglich als notwendig für die Kontrolle eines Landes dieser Größe erachtete, war der Zusammenbruch jeglicher Ordnung unausweichlich. Um den aufkommenden Widerstand zu schwächen, betrieb man zudem die Spaltung der Bevölkerung, indem Volkszugehörigkeit und Religion zum bestimmenden politischen Faktor gemacht wurden und alle politischen Institutionen, ebenso Polizei und Armee, konsequent nach ethnischen und konfessionellen Kriterien neu aufgebaut wurden.

Auf dieser Basis schuf der von den USA eingeleitete »politische Prozeß« ein abhängiges Regime, getragen von extremistischen Parteien, die im Windschatten der Besatzung ihre separatistischen bzw. sektiererisch-islamistischen Ziele verfolgen. Ihre Milizen erhielten nicht nur freie Hand zur Jagd auf ihre Gegner, sondern sogar die aktive Unterstützung der Besatzer.

»Salvador Option«

Ein Anfang März ausgestrahlter Dokumentarfilm von Guardian und BBC schildert detailliert, wie US-General David Petraeus, später Oberkommandierender in Irak und Afghanistan, mit den beiden ehemaligen US-Offizieren James Steele und James Coffman seit 2004 irakische »Spezialpolizeikommandos« und ein Netz von geheimen Kerkern aufgebaut haben. In ihnen wurde unter Anleitung und Führung US-amerikanischer Spezialisten systematisch und auf brutalste Weise gefoltert. Ausgangspunkt der 18monatigen Recherchen der Dokumentarfilmer waren die Irak-Kriegsprotokolle der US-Armee, die der Nachrichtenanalyst Bradley Manning der Enthüllungsplattform Wikileaks zugespielt hatte und die vielfältige Hinweise für einen verdeckten, »schmutzigen Krieg« enthalten (siehe jW-Thema vom 10.4.2013). Insgesamt acht Milliarden Dollar wurden für diese Form der Bekämpfung ihrer irakischen Gegner aus einem inoffiziellen US-Fonds zur Verfügung gestellt. So konnte »General Petraeus viel tun, damit die Polizeikommandos zu gefürchteten Todesschwadronen werden«, schrieben Mona Mahmood und Maggie O’Kane, zwei Autorinnen der Doku, in einem Gastbeitrag am 28. März 2013 für die Wochenzeitung Freitag.

Die Guardian-Dokumentation zeigt zwar nur die Spitze des Eisbergs, läßt aber kaum Zweifel, daß die Counterinsurgency-Politik direkt von der Bush-Regierung angeordnet worden war. Präsident Bush, sein Vize Dick Cheney und Pentagon-Chef Donald Rumsfeld waren offensichtlich auch über die Art und Weise der Umsetzung stets gut unterrichtet. Steeles und Petraeus’ Kurzberichte seien in Washington sehr gefragt gewesen und direkt auch an Bush und Cheney gegangen, so Pentagon-Mitarbeiter gegenüber dem Guardian.

Neu sind die Enthüllungen des Filmreports allerdings keineswegs (siehe jW-Thema vom 12.7.2006). Niemand in Washington und den europäischen Hauptstädten kann sich herausreden, er habe bisher davon nichts gewußt. Seymour M. Hersh, einer der renommiertesten investigativen Journalisten der USA, berichtete bereits im Dezember 2003 über Pläne des Pentagons, den irakischen Widerstand, der den Vereinigten Staaten nach wenigen Monaten schon schwer zusetzte, auf diese Weise zu brechen.

Einer Ausgabe des New Yorker Nachrichtenmagazins Newsweek aus dem Januar 2005 zufolge lief das Vorhaben intern unter der Bezeichnung »Salvador Option« – in Anknüpfung an die erfolgreiche Anwendung von staatlichem Terror, Folter und Mord gegen oppositionelle Kräfte in Mittelamerika. Insbesondere Steele hatte sich dabei als Kommandeur der US-Spezialkräfte in El Salvador einen Namen gemacht. Aber auch Petraeus war als ehrgeiziger junger Major eine Zeitlang dort, um die »erfolgreiche« Aufstandsbekämpfung zu studieren. In deren Zug wurden 75000 Salvadorianer getötet. Unter seiner Federführung entstand das seit 2007 gültige Feldhandbuch dazu, das »Counterinsurgency Field Manual FM 3-2«.

Peter Maass von der New York Times lieferte im Mai 2005 erste ausführliche Informationen über den Aufbau und den Einsatz einiger von »US-Beratern« angeleiteter »Spezialpolizeikommandos«. Die USA rekrutierten, trainierten und finanzierten schließlich mindestens 27 dieser berüchtigten paramilitärischen Verbände, die ab 2005 Zehntausende inhaftierten, folterten und ermordeten.

Es war auch kein großes Geheimnis, daß sich der schmutzige Krieg gegen die gesamte Bevölkerung in den überwiegend sunnitischen Zentren des Widerstands gegen die Besatzung richtete: »Die sunnitische Bevölkerung zahlt für die Unterstützung der Terroristen keinen Preis«, zitierte 2005 Newsweek einen Offizier aus dem Pentagon. »Aus ihrer Sicht ist das kostenlos. Wir müssen diese Gleichung ändern.« Das taten die Besatzer gründlich. Ab Sommer 2004 nahmen sie – trotz eindringlicher Warnungen aus den Reihen ihrer irakischen Verbündeten – auch Angehörige einiger der berüchtigten schiitischen Milizen in die »Spezialpolizei« auf, darunter zahlreiche Kämpfer der Badr-Brigaden des radikalen »Obersten Islamischen Rats im Irak«, eine der Parteien, die von den Besatzern an die Hebel der Macht gebracht wurden. Die Söldner konnten nun mit US-Unterstützung die Jagd auf ehemalige Angehörige der Baath-Partei und sunnitische Nationalisten aufnehmen. Für viele dieser jetzt Verfolgten wurden so die schiitischen Milizen zunehmend zum Hauptfeind, und Al-Qaida nahestehende sunnitische Gruppen erhielten Zulauf.

Die so entfachten konfessionellen Auseinandersetzungen erreichten zwischen 2006 und 2008 ihren Höhepunkt (siehe jW-Thema vom 1.12.2008 und 2.1.2009). Sowohl bei diesen schweren Kämpfen als auch bei den ab 2007 ebenfalls eskalierenden Angriffen der US-Armee auf die Hochburgen des Widerstands in Bagdad und in den zentralirakischen Städten wurden vermutlich fast eine Million Menschen getötet und mehrere Millionen vertrieben – meistens Sunniten. Zuvor mehrheitlich sunnitische Stadtteile Bagdads waren auf nächtlichen Satellitenaufnahmen nun deutlich als dunkle, fast lichtlose Flecken erkennbar.

Ab 2007 firmierten die berüchtigten Spezialpolizeikommandos als »Nationale Polizei«. Parallel dazu wurden von »Green Berets«, ein Sonderkommando der US-Streitkräfte, die Spezialtruppe Al-Malikis aufgebaut, die bald als die schlagkräftigsten irakischen Sondereinheiten galten.

Kulturelles Erbe zerstört

Neben der Auflösung bisheriger staatlicher Strukturen betrieben die Besatzer auch die Zerstörung des kulturellen und gesellschaftlichen Erbes. So ließ man nicht nur alle Ministerien, mit Ausnahme des Öl- und des Innenministeriums, mitsamt ihren Unterlagen abfackeln, sondern auch Museen und Bibliotheken plündern und brandschatzen. Wie viele Eroberer vor ihnen versuchten offensichtlich auch die britisch-amerikanischen Invasoren, durch die Zerstörung von Kultur und Identität und durch die Ausschaltung der intellektuellen Eliten das Wiedererstarken einer eigenständigen Nation langfristig zu unterbinden.

Opfer von Mord und Vertreibung wurden daher auch die intellektuellen Eliten des Landes. Tausende Ärzte, Wissenschaftler, Fachleute und Künstler wurden von Todesschwadronen ermordet, verschwanden in Kerkern oder mußten ins Ausland fliehen. Experten sprechen in diesem Zusammenhang schon von »kulturellen Säuberungen«, so auch die Autoren des von Raymond W. Baker, Shereen T. Ismael und Tareq Ismael Juni 2009 herausgegebenen englischsprachigen Sammelbandes »Kulturelle Säuberung im Irak – warum Museen geplündert, Bibliotheken verbrannt und Akademiker ermordet werden«. Das von ihnen zusammengetragene Material »zeigt auf überzeugende Weise die umfassende Zersetzung der einheitlichen Kultur unter der Besatzung und den Ausbruch sektiererischer Feindseligkeiten, die es zuvor nicht gab«, faßt der ehemalige UN-Koordinator für die humanitäre Hilfe im Irak, Hans von Sponeck, zusammen. Die Autoren liefern zahlreiche Beweise und Indizien dafür, daß es systematische Pläne gab, »den Irak seines Gehirnes zu entledigen«.

Immunität für Massenmörder

Der Überfall auf den Irak und dessen Besetzung ist auch für die USA ein Desaster. Trotz 4500 bisher gefallener Soldaten, trotz Zehntausender kriegsversehrter oder schwer traumatisierter GIs und Kosten von mindestens zwei Billionen Dollar hatte er im Unterschied zum Vietnam-Krieg keinerlei Konsequenzen für die Verantwortlichen. Obama hat den »Blick nach vorne« verordnet und eine juristische Aufarbeitung der vielfältigen Verbrechen der Regierung seines Vorgängers unterbunden. Auch in der Öffentlichkeit findet keine breitere Debatte darüber statt. Die großen Medien hatten den Krieg unterstützt und möchten ihn nun am liebsten vergessen lassen. Die verantwortlichen Politiker müssen daher nicht einmal um ihr Ansehen fürchten. Viele sind noch voll im Geschäft und gefragte Gesprächspartner, wenn es um die US-Politik gegenüber Korea, Syrien oder Iran geht. In Europa ist die Situation kaum anders.

Dabei sind die Besatzungsverbrechen sehr gut dokumentiert. Zahlreiche Menschenrechts-, Friedens- und Solidaritätsorganisationen, Anwaltsvereine und Parteien, Politiker, Juristen, Wissenschaftler, Journalisten und andere Aktivisten sammelten Beweise und führten weltweit Tribunale »von unten« durch. Die umfassendsten waren das Welttribunal 2005 in Istanbul und die Kriegsverbrechertribunale im November 2011 und Mai 2012 in Kuala Lumpur. Letztere wurden unter der Schirmherrschaft des früheren malaysischen Premierministers Tun Mahathir bin Mohamad durchgeführt. Die Ergebnisse der Tribunale gingen u.a. auch an den UN-Menschenrechtsrat und den Internationalen Strafgerichtshof – bisher ohne greifbare Resultate. Die beharrliche Arbeit von Gruppen wie der belgischen »BRussells Tribunal«-Initiative und die Klagen von Anwaltsvereinigungen vor nationalen Gerichten in Staaten, in denen dies im Rahmen universeller Gerichtsbarkeit für Menschenrechtsverbrechen möglich ist, sorgen mit kleinen Nadelstichen dafür, daß das Thema wenigstens auf der Agenda bleibt.

Dies ist bitter nötig. Die absolute Immunität, nicht nur in strafrechtlicher Hinsicht, sondern auch in bezug auf gesellschaftliche Reputation, ebnete schließlich den Weg zu weiteren Aggressionen: Präsident Obama eskalierte nach seinem Amtsantritt den Krieg in Afghanistan und den angrenzenden pakistanischen Gebieten. Mit dem Überfall auf Libyen 2011 zerschlug ein von den USA, Frankreich und Großbritannien geführtes Kriegsbündnis den Staat Nordafrikas mit dem höchsten Lebensstandard. Aktuell droht die Intervention der NATO in Syrien, den letzten säkularen arabischen Staat ebenso in den Abgrund zu stürzen wie den benachbarten Irak.

* Joachim Guilliard arbeitet im Heidelberger Forum gegen Militarismus und Krieg. Er betreibt den Blog »Nachgetragen« jghd.twoday.net

Aus: junge Welt, Montag, 29. April 2013



Eine aktuelle Meldung:

Kurden in Irak rücken vor

Maliki: Religiöse Konflikte von außen provoziert **

Kurdische Kämpfer haben die Kontrolle über Gebiete nahe der nordirakischen Stadt Kirkuk übernommen. Nach »Beratungen mit dem Gouverneur von Kirkuk« sei beschlossen worden, dass die Kampfeinheiten »das Vakuum auffüllen« sollten, das in der Region bestanden habe, sagte am Samstag der Chef des Regionalministeriums, Dschabbar Jawar. Im Norden gibt es ein kurdisches Autonomiegebiet, dessen Grenzen umstritten sind. Die Kurden haben eine lange Tradition eigenständiger Kampfeinheiten, die sie als Peschmerga bezeichnen.

»Sie wollen die Ölfelder erreichen«, sagte General Ali Gaidan Madschid, der die irakischen Bodentruppen befehligt. Er sprach von einer »gefährlichen Entwicklung«. Es gebe eine Vereinbarung, dass die irakischen Truppen und die Peschmerga in dieser Region gemeinsame Kontrollposten unterhalten sollten. In der Region Kirkuk leben Araber, Kurden und Turkmenen. Außerdem ist die Bevölkerung unterteilt in sunnitische und schiitische Muslime.

Die jüngsten interkonfessionellen Konflikte in Irak sind nach Ansicht von Regierungschef Nuri al-Maliki von außen provoziert worden. Das »Übel des Konfessionalismus« bedürfe keiner Genehmigung, um von einem Land auf das andere überzugreifen, sagte Maliki am Samstag unter Anspielung auf das Nachbarland Syrien im irakischen Fernsehen. Der Streit zwischen den Konfessionen könne »schnell zur Spaltung und Zerfleischung Iraks, der arabischen Länder und anderer muslimischer Staaten« führen.

Bei Anschlägen in Irak, die sich unter anderem gegen sunnitische Moscheen richteten, wurden allein seit letzten Dienstag mehr als 200 Menschen getötet.

** Aus: neues deutschland, Montag, 29. April 2013




Zurück zur Irak-Seite

Zurück zur Homepage