Nachfolgender Beitrag erschien am 28. Mai 2001 in der jungen welt unter dem Titel "Präsidenten als Risikofaktoren. Folgt Indonesiens Staatschef seinem philippinischen Amtskollegen in den politischen Orkus?" Weiter unten außerdem Auszüge aus einem Kommentar der Süddeutschen Zeitung zum gleichen Thema.
Der erst seit Oktober 1999 amtierende indonesische Präsident Abdurrahman Wahid gerät ins Straucheln. Straßenproteste verhalfen dem langjährigen Vorsitzenden der einflußreichen muslimischen Organisation Nahdlatul Ulama damals nach über 30jähriger Suharto-Diktatur zum Amtsantritt. Heute erschallt der Ruf nach seinem Rücktritt. Die Beratende Volksversammlung, höchstes Organ der Legislative, hatte Wahid bereits Ende April ein zweites Mal wegen Korruptionsvorwürfen gerügt. Mitte dieser Woche wird nun in Jakarta über die Einleitung eines Amtsenthebungsverfahren entschieden: Angeblich soll der Präsident, der dies kategorisch bestreitet, gar von inszeniertem Theater eines Kindergartens sprach und einer »Front zur Verteidigung der Wahrheit« unterstützt wird, umgerechnet zirka sechs Millionen US-Dollar von der staatlichen Logistikbehörde »Bulog« bzw. Zuwendungen des Sultans von Brunei eingestrichen haben. Was unter Suharto »Peanuts« gewesen wären, kann heute dem Land neben einer latenten Staatskrise zusätzlich eine akute Regierungskrise bescheren.
Verschwindet nach dem philippinischen Ex-Schauspieler- Präsidenten Joseph Estrada nunmehr auch sein Amtskollege im Nachbarland im politischen Orkus? Einiges spricht dafür, wenngleich beide Personen unterschiedlicher kaum sein könnten. Estrada war ein Zögling der Marcos-Diktatur und setzte wie sein Mentor in Zeiten innenpolitischer Krisen auf den »totalen Krieg« gegen seine politischen Gegner. Wahid hingegen, der einer angesehenen Gelehrtenfamilie entstammt, favorisiert zivile Umgangsformen und Dialog, um Krisen zu entschärfen. Estrada verfing sich im Gestrüpp elitärer Vetternwirtschaft und führte am Ende seiner nur zweieinhalbjährigen Amtszeit die Staatsgeschäfte in mafioser Manier. Wahid war ein taktisch versierter Widersacher des Terrorregimes und darauf bedacht, dessen katastrophale wirtschaftliche, soziale und politische Erbschaft zu überwinden. Nirgendwo sonst sind in so kurzer Zeit so viele Menschen pauperisiert und durch interethnische Konflikte ins Elend gestürzt worden, wie das in Indonesien seit dem Suharto-Rücktritt vor drei Jahren der Fall ist.
Wenngleich Wahid Umbesetzungen an der Spitze der Streitkräfte erwirkte, gegen Offiziere sowie Mitglieder des Suharto-Clans wegen Menschenrechtsverletzungen und Veruntreuung von Staatsgeldern ermitteln ließ (was Estrada nicht im Traum eingefallen wäre), verfügen die Sachwalter des ancien régime nach wie vor über ein Arsenal offener und verdeckter Destabilisierungsmethoden. Vor allem die erstarkten Unabhängigkeitsbestrebungen in Aceh, Westpapua (Irian Jaya) und den Molukken arbeiten den Militärs und von ihnen tolerierten paramilitärischen Banden in die Hände. Sie verweisen auf den drohenden Zerfall des Zentralstaates und präsentieren sich als dessen einzig intakte Instanz zur Wahrung von öffentlicher Sicherheit und Ordnung.
Unabhängig von Wahids exzentrischem, streckenweise - wohl auch krankheitsbedingt - unberechenbarem Amtsstil besteht sein eigentliches Dilemma darin, daß er in prekären Zeiten wie diesen nicht auf Dauer gegen das Militär, dieses freilich sehr wohl ohne ihn regieren kann. Das mußte er vor allem in den vergangenen Tagen erfahren. Sollte man ihn absetzen wollen, erklärte der Präsident, erwäge er die Ausrufung des Notstands und würde das Militär anweisen, entsprechend zu handeln. Doch warum sollte dieses ausgerechnet für ihn die Kastanien aus dem Feuer holen? Zwischenzeitlich unternahm Vizepräsidentin Megawati Sukarnoputri, den Mythos ihres Staatsgründer-Vaters im Rücken, eigene Avancen. Sie, die sich niemals kritisch über das Militär und dessen Rolle geäußert hatte, traf mehrfach mit Armeekommandeuren zusammen, um sich des Rückhalts zu vergewissern, sollte sie Wahid im Amt ablösen. Damit wäre zweifellos das Militär aufgewertet: Kein gutes Omen, mit dessen Hilfe die komplexen Probleme auf dem Archipel zu lösen.
Estrada hingegen erlebte bereits, was vor ihm keinem philippinischen Präsidenten widerfuhr: Ende Juni 1998 euphorisch in den Präsidentenpalast zu Manila eingezogen, mußte er Mitte Januar 2001 unzeremoniell durch dessen Hintertür entweichen. Massendemonstrationen und die Abkehr hochrangiger Sicherheitskräfte besiegelten sein vorzeitiges politisches Aus. Schockierend für viele Filipinos, den kürzlich noch obersten Repräsentanten des Staates und ihr einstiges Idol nunmehr wegen »wirtschaftlicher Plünderung« in U-Haft sitzen zu sehen. Bereits nach gut 100 Tagen im Amt wurde die neue Präsidentin Gloria Macapagal-Arroyo von den in den Medien des Landes zum Unheil bringenden Mob hochstilisierten »masa« (Massen) herausgefordert, die mit Haumessern Estradas Comeback erzwingen wollen.
Hinter den gewaltsamen Demonstrationen zogen die noch immer agilen inner- wie außerparlamentarischen Restposten der Marcos-Ära die Fäden. Sie sehen in Arroyo ein illegitimes Staatsoberhaupt, wittern Morgenluft und spekulierten nicht zu Unrecht auf ein gutes Abschneiden ihrer Günstlinge der »Puwersa ng Masa« (Stärke der Massen)-Koalition bei den Kongreß- und Kommunalwahlen. Tatsächlich öffnete die Präsidentin mit der Festnahme ihres Vorgängers vor den Wahlen am 14. Mai und der zeitweiligen Ausrufung des Notstands die Büchse der Pandora. Das ihr nahestehende »People Power Coalition«-Wahlbündnis mußte eine Schlappe hinnehmen. Das Eigentliche, die überfällige Aufarbeitung der Marcos-Ära, droht im traditionellen Politikaster unterzugehen und die Lage auf Dauer zu destabilisieren.
Rainer Werning
Aus: junge welt, 28. Mai 2001