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Milizen, Militär und das Elend der jungen Demokratie

Indonesien kommt auch nach der Unabhängigkeit Osttimors (der Staat ist formell zur Zeit noch den Vereinten Nationen unterstellt) nicht zur Ruhe. Immer wieder machen z.B. in Westtimor indonesische Milizen mit Terrorangriffen und Überfällen auf die Zivilbevölkerung von sich reden. Die Regierung in Jakarta reagierte widersprüchlich und zögerlich. Am 28. September 2000 lief ein Ultimatum der indonesischen Regierung ab, das die Entwaffnung der Milizen forderte.
Die folgende Analyse von Ingo Wandelt beleuchtet die Mechanismen des indonesischen Staats- und Machtgefüges, in denen das Militär seit langem eine zentrale Rolle spielt. Der Autor hat die Analyse für die Menschenrechtsorganisation Watch Indonesia verfasst, die Frankfurter Rundschau veröffentlichte sie am 28. September 2000 in ihrem Dokumentationsteil. Wir dokumentieren den Bericht mit leichten Kürzungen.


Am 6. September wurden drei internationale Mitarbeiter des UN-Flüchtlingshilfswerks in Atambua, Westtimor, von Anhängern pro-indonesischer Milizen massakriert. Dieser Akt brutaler Gewalt bringt ein, auf den ersten Blick, regionales Problem Indonesiens wieder in die Schlagzeilen der Weltpresse zurück:
Ein Jahr nach dem von den Vereinten Nationen abgehaltenen Volksreferendum, in dem 78 Prozent der Bevölkerung Osttimors für die Unabhängigkeit ihres Landes von Indonesien votierten, werden noch immer schätzungsweise 130 000 Osttimoresen von pro-indonesischen Milizen jenseits der Grenze in Lagern festgehalten. Es waren diese Milizen, die nach ihrer Abstimmungsniederlage eine viertel Million Menschen aus Osttimor vertrieben und das Land in Schutt und Asche legten. Von Westtimor aus führen sie heute noch immer bewaffnete Operationen im Grenzgebiet Osttimors durch; bereits zwei Angehörige der internationalen UN-Friedenstruppe (UNTAET) wurden in den letzten Monaten bei Schusswechseln mit infiltrierten Milizeinheiten getötet.

Die Regierung Indonesiens scheint unwillig, dieses Problem anzugehen. In einer Resolution vom 8. September haben die Vereinten Nationen Jakarta aufgefordert, effektive Maßnahmen gegen die Milizen zu unternehmen. Für diese Woche hat die Regierung nun endlich - nach mehr als einem Jahr - ihre Entwaffnung angekündigt. Warum es trotz der starken Präsenz indonesischer Truppen in Westtimor bisher noch nicht dazu gekommen ist, bedarf eines Blickes auf das innenpolitische Machtgefüge Indonesiens.

Die Regierung in Jakarta befindet sich in einer Dauerkrise. Die Koalition des Präsidenten Abdurrahman Wahid reibt sich in inneren Streitigkeiten auf. Die Streitkräfte haben sich intern gefestigt und die Sicherheitspolitik des Staates in ihre Hände genommen. Mit Rückendeckung des Präsidenten wollen sie den Erhalt der Einheit des Landes mit harten militärischen Mitteln erzwingen.

Die Milizen in Timor sind ein Zeichen für den andauernden Machtkampf zwischen der demokratischen Regierung und den Streitkräften. Die Milizen sind Ziehkinder und Werkzeuge des Militärs, wobei die Milizgewalt niemals nur auf Osttimor begrenzt war.

Die Loslösung Osttimors schafft eine neue sicherheitspolitische Lage für das indonesische Verteidigungskonzept. Anstatt jedoch neue Wege einer regionalen Sicherheitskooperation zu gehen, scheinen militärische Kreise in Indonesien einen Sicherheitsgürtels um Osttimor ziehen zu wollen, wofür die Milizen noch benötigt werden.

Die Verantwortlichen der in Osttimor begangenen Verbrechen sind bekannt: Es sind die Milizkommandeure als aktive Täter, die Chefs der militärischen Territorialeinheit in Osttimor, der Polizei und der Zivilverwaltung der Provinz Osttimor, deren enge Beziehungen zu den Milizen vielfältig belegt sind. Die letztendliche Verantwortung aber liegt auf der höchsten Ebene von Militär und Politik in Jakarta.

Die indonesische Staatsanwaltschaft hat die strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen für die Verbrechen in Osttimor übernommen. Ihre kürzlich veröffentlichte Namensliste von Anzuklagenden beschränkt sich aber nur auf die regionale Militär- und Verwaltungsebene. Wichtige Milizführer fehlen ebenso wie Mitglieder der Führungselite des indonesischen Militärs. ...

Organisierte Gewalt

Ein solches Verfahren böte die Möglichkeit, neben der Schuldfrage auch die organisierte Milizgewalt analytisch am Beispiel Osttimors aufzuarbeiten, Täter und Hintermänner zu benennen und einer Wiederholung dieser Form der Gewalt an anderen Orten Indonesiens zuvorzukommen. Eine Fortdauer der organisierten Gewalt destabilisiert nicht nur den Demokratieprozess in Jakarta, sondern auch den geographischen Raum Ostindonesien. Der Zerfall Indonesiens würde denkbar. Die Nationale Armee Indonesiens, Tentara Nasional Indonesia (TNI), besteht aus Heer, Marine und Luftwaffe. Die Polizei mit ca. 180.000 Mann ist seit Juli 2000 direkt dem Präsidenten unterstellt und gehört nicht mehr zur TNI. Etwa eine halbe Million regulärer Militärangehöriger, unter ihnen geschätzte 100 000 Mann unter Waffen, kontrollieren 210 Millionen Indonesier. Das ist möglich über verschachtelte Systeme militärischer Präsenz überall im Lande.

Indonesien sieht sich keiner äußeren Bedrohung ausgesetzt; die eigentliche Aufgabe der TNI ist die Sicherung der territorialen Einheit des Staates gegenüber separatistischen Bewegungen. Dwi Fungsi, die Doppelrolle des Militärs, schreibt diese Aufgabe fest und erteilt den Auftrag zur Wahrung der innenpolitischen Sicherheit. So erhält das Militär Machtbefugnisse auf allen Ebenen und verfügt sogar über eine eigene - nicht vom Volk gewählte - Fraktion im Parlament.

Historisch bedingt verstehen sich die Streitkräfte nicht als Instrument der Staatsregierung, sondern als ein korrigierendes politisches Gegengewicht, das für gemeinsame Ziele Koalitionen mit der Regierung eingeht. Der Präsident ist der Oberbefehlshaber der TNI, die Militärführung liegt jedoch beim Oberkommandierenden (Panglima TNI). Der Verteidigungsminister hat keine Befugnisse über Truppen und Einheiten. Mit der eigenständigen Verkündung neuer Führungsparadigmen im September 1998 erneuerte die TNI ihren Anspruch auf eigene Ziele in Absprache mit, aber nicht in Gehorsam zur Staatsführung. Das offizielle Staatsbudget für die Streitkräfte ist gering. Dem Staat fehlen die finanziellen und rechtlichen Mittel sowie die Macht, die Streitkräfte ausreichend zu kontrollieren oder zur Verantwortung zu ziehen.

Die TNI besitzt keine homogene Befehlskette. Ihre Grundstruktur besteht aus sich weitestgehend selbst finanzierenden und versorgenden militärischen Einheiten und Verbänden, in denen ein Kommandeur als fürsorgender Vater (bapak) für seine Kinder (anak buah), sprich Truppe, sorgt. Die Loyalität der Truppe gilt Kommandeuren und nicht der formellen Militärorganisation. Das Beziehungsnetz der aktiven und ehemaligen Offiziere (bapak) bildet die eigentliche, von außen kaum durchschaubare Kommandoebene des Militärs. Das Heer dominiert alle anderen Teilstreitkräfte. Es hat Kommandobefugnisse über die wichtigsten operativen Nachrichtendienste. Ein System der territorialen Präsenz verteilt Heereskräfte über das ganze Land. Elf Wehrbereiche oder Bereichskommandos (Kodam), die sich jeweils in vier weitere Unterkommandos aufteilen, ermöglichen eine Militärpräsenz bis in die Dörfer hinein. Parallel dazu besteht ein soziales Beobachtungs- und Kontrollsystem, das aus mehreren oft gegeneinander arbeitenden Nachrichtendienstnetzen unter Heereskommando besteht. Neben der umfassenden, auch politischen Kontrolle der Bevölkerung hat das Territorialsystem das schnelle Erkennen und Niederschlagen von Unruhen zum Ziel, wozu die vorgenannten Spezialheeresverbände wie Kostrad und Kopassus ihren Einsatz finden. Die Kommandoeinheiten und Spezialverbände werden für die meisten Übergriffe und Menschenrechtsverletzungen verantwortlich gemacht.

... Willkür und Machtmissbrauch im Zeichen von Stabilität und Sicherheit schufen eine strukturelle Unfriedlichkeit, in der Konflikte nur noch gewaltsam ausgetragen zu werden scheinen.

Die Streitkräfte sind eine ideologisch starke Armee, weil sie eine selbstgerechte, d.h. sich nur über sich selbst definierende Armee sind und keine Niederlage kennen. Sie haben ihre eigene Identität und Zielsetzung frei vom Staat aufgebaut und verteidigt. Ihre kollektive historische Erfahrung kennt zwar Rückschläge, aus denen sie aber immer gestärkt hervorgegangen sind. Ihr Selbstverständnis und ihr Rückhalt in der Bevölkerung sind erst seit zwei Jahren, einer historisch kurzen Zeitspanne, ernsthaft in Frage gestellt. Die Wirren der "Reformasi" (Reformpolitik) nach dem Sturz Suhartos haben die Streitkräfte zwar zerzaust, aber weitgehend unbeschadet überstanden. Vieles deutet darauf hin, dass trotz einiger kosmetischer Änderungen an der Oberfläche ihre Struktur und ihre Macht im Staat stärker geworden sind.

Neue Köpfe

Nach elf Monaten Regierung Abdurrahman Wahid hat der Kampf um die Macht im Staate die Bemühungen um Reform der Streitkräfte abgelöst. Der Präsident arrangiert sich mit dem indonesischen Militär, das er nicht mehr im Griff zu haben scheint.

Neue Köpfe sollten im Oktober 1999 dem Militär eine Reform von oben bescheren. Langfristige Strukturreformen sollten die politische Macht des Militärs verringern. Ein Marineadmiral wurde TNI-Befehlshaber, ein Zivilist (Juwono Sudarsono) Verteidigungsminister, und ein reformbewusster General (Agus Wirahadikusumah) Chef der Kostrad.

Über die öffentlich ausgetragene Auseinandersetzung mit General Wiranto, dem zum TNI-Kommandeur und Verteidigungsminister aufgestiegenen Ex-Adjutanten Suhartos, profilierte sich Wahid als starker Mann. Wiranto verlor seine Ämter und ging in den Ruhestand. Diese Manöver an der politischen Oberfläche lenkten jedoch von der grundsätzlichen Übereinstimmung zwischen Präsident und Militär ab, dem Erhalt des Landes absolute Priorität einzuräumen. Wahid war es, der harte militärische Maßnahmen zur Bekämpfung separatistischer Tendenzen anordnete und billigte. Er stationierte Truppen der Kostrad von Aceh bis Papua, befahl die Elitetruppe der Polizei, Brimob (Brigade Mobil), zusammen mit Kostrad in die Krisenregionen. Er ließ die Milizgewalt in Ostindonesien gewähren, zeigte sich desinteressiert an den Vorgängen um Osttimor.

Wahid zielt in seinem Machtkampf mit dem Heer auf die Spaltung des Sicherheitsapparates. Im Juli unterstellte er Polizei und Palastgarde seiner direkten Kontrolle. Zurzeit arbeitet er an einer Umstrukturierung des mächtigen Nachrichtendienstapparates und umwirbt die Marine. Sein Machtmittel als Oberbefehlshaber der TNI, die Befugnis zur Absetzung und Ernennung der Führungspositionen von Armee und Polizei, nutzt er intensiv. Auf die Kampfführung des Heeres hat er seinen Einfluss jedoch verloren und sich in die Abhängigkeit des Militärs begeben. Auch unter Wahid bleibt militärische Gewalt als Mittel zur Lösung politischer Auseinandersetzungen und regionaler Konflikte vorherrschend.

Ansätze zur friedlichen Lösung regionaler Konflikte, wie der einer humanitären Pause in Aceh, sind zur rhetorischen Kulisse verkommen. Vorstöße zur politisch-ökonomischen Autonomie der Regionen blieben in politischen Querelen stecken. Die Einheit Indonesiens scheint heute nur noch militärisch erreichbar zu sein. Die Trennung von TNI und Polizei und die Beförderung der Kostrad zur Hauptkampftruppe haben die internen Strukturen des Heeres gestärkt. Eine neue strategische Allianz ist zwischen Kostrad und ihrem einstigen Rivalen, der Eliteeinheit Kopassus, errichtet worden. Ihr ehemaliger Kommandeur Prabowo Subianto, der nach dem Sturz Suhartos von seinen Widersachern in Kostrad ins Exil nach Jordanien gedrängt wurde, ist heute wieder angesehener Gast in Jakarta. Sondereinsätze der Kopassus werden aus Ambon und Papua gerüchteweise bekannt, Sondereinheiten sollen, getarnt als Milizen, nach Osttimor infiltriert sein.

Kostrad vermochte es sogar, den eigenen Kommandeur, den Reformgeneral Agus Wiharadikusumah, abzusetzen, als dieser im Juni einen Finanzskandal der Kostrad-Finanzstiftung öffentlich zur Aufklärung brachte. Interne TNI-Kreise bedeuteten dem Präsidenten daraufhin, sich von Agus zu trennen. Wahid kam dem Anliegen nach.

Im August ging mit Juwono Sudarsono ein Mann, der die grundsätzliche Reform der TNI vollziehen wollte, wenn man ihm drei bis vier Jahre Zeit gegeben hätte. Er erhielt nur zehn Monate. Sein Nachfolger ist ein Rechtsprofessor ohne jegliche Militärerfahrung. Die Militärpolitik der Regierung liegt nun in den Händen des nicht als Reformer bekannten Koordinierungsministers für Politik, Soziales und Sicherheit, Generalleutnant a. D. Susilo Bambang Yudhoyono.

Die Idee, an Stelle der regulären Streitkräfte so genannte proxy forces, Handlangerkräfte in Gestalt von irregulären, paramilitärischen Verbänden und Milizen, die schmutzige Arbeit gegen unliebsame Gruppen tun zu lassen, geht bei den Streitkräften auf die frühen sechziger Jahre zurück. Indonesiens System der Totalen Volksverteidigung (Sishankamrata) kennt milizähnliche Strukturen in Form von rekrutierten Zivilisten der "ausgebildeten Bevölkerung" (Ratih), die in Spannungsfällen die Reihen der regulären TNI verstärken sollen. Offiziellen Charakter bekam ihre Existenz durch die Verteidigungsgesetze von 1982 und 1988. Eingesetzt wurden Ratih offiziell noch nie.

Die Polizei besitzt uniformiertes Hilfspersonal für Wach- und Schutzaufgaben als Reaktion auf gestiegene urbane Kriminalität, das dem Innenministerium untersteht. Wenig öffentlich, aber mit großer Wirkung auf die öffentliche Sicherheit, begann damit die Einbindung krimineller Elemente in den Sicherheitsapparat. Kooperationswillige Banden und Syndikate erhielten geschützte Territorien und legalisierte Organisationsformen im Gegenzug für die Erfüllung von Auftragskriminalität, mit denen der Staat nicht öffentlich in Verbindung gebracht werden wollte. So entwickelte sich z. B. die Organisation Pemuda Pancasila über Einsätze in den Wahlkampagnen der Suharto-Partei Golkar zu einer landesweit operierenden, quasi legalen paramilitärischen Einheit, die es sogar zu Sitzen im Parlament brachte. Die organisierte Kriminalität Indonesiens ist heute auf allen Feldern eng mit dem Sicherheitsapparat verwoben.

Provokateure

Die Vorläufer heutiger Milizen entstanden vor einem Jahrzehnt als verdeckt operierende paramilitärische Gruppen unter militärischer Führung in Osttimor. Prabowo Subianto, Schwiegersohn Suhartos, der seine Karriere in der Elitetruppe Kopassus machte, rekrutierte ab 1989 osttimoresische Jugendliche und Dropouts aus den Randgruppen Dilis und organisierte sie in der Gada Paksi, der "Jugendgarde zur Aufrechterhaltung der Integration". Sie firmierte offiziell als Jugendverein, wurde von Kopassus jedoch als Reservoir militärisch gedrillter und pro-militärisch indoktrinierter osttimoresischer Hilfskräfte für verdeckte Sondereinsätze und Todeskommandos benutzt.

Im November 1991 erlangte Gada Paksi im Umfeld des Massakers von Santa Cruz in Dili weltweite Bekanntheit. Ihre Mitglieder wurden daraufhin abgezogen und traten in Jakartas krimineller Szene als organisierte Banden jugendlicher "Preman" ("Schurken") in Erscheinung. Die Stadt war Mitte der neunziger Jahre in kriminelle Zonen von aus Sumatra und Ambon importierten Preman aufgeteilt, unter denen im Stadtteil Tanah Abang der Chef der osttimoresischen Preman, Herkules, Berühmtheit erlangte.

Nach den Unruhen vom Mai 1998, wo ostindonesisch aussehende Preman bei den bis heute nicht strafrechtlich verfolgten Massenvergewaltigungen in Erscheinung traten, verschwanden die organisierten Preman aus Jakarta, um auf Osttimor und Ambon als Unruhestifter, Provokateure sowie Kernverbände und Führer der vor Ort gebildeten und auftretenden Milizen wieder aufzutauchen.

In Osttimor erhielten sie ab April 1999 eine neue Form als offizielle "Sicherheitstruppen der eigeninitiativen Sicherheit", PAM Swakarsa, mit vom örtlichen Regierungsapparat zugewiesenen Aufgaben der Sicherung des Referendums über die Autonomie Osttimors. PAM Swakarsa waren militärisch organisiert, bezeichneten sich selbst als Bataillone und ihre Führer als Kommandeure, unterstanden einem Milizen-Oberkommando und pflegten enge Beziehungen mit Heer, Polizei und Verwaltung. Die pro-indonesischen Milizen in Westtimor sind eben jene ehemaligen PAM Swakarsa.

Heute haben sich Formen der organisierten Milizgewalt zu landesweit operierenden Strukturen ausgebildet. Sie können als quasi-reguläre Form der indirekten Kriegsführung im Sinne der Streitkräfte bezeichnet werden. Eine offizielle Kommandoverantwortung oder Teilhabe der TNI und Polizei an Akten von Milizgewalt wird regelmäßig von verantwortlichen Stellen geleugnet. Dennoch weisen Indizien auf eine Führung durch Einheiten der TNI, insbesondere Kopassus, hin.

Die Milizen bestehen aus kleinen, schnell verlegbaren Kerntruppen, die an ihren Einsatzorten die latenten Spannungen schüren und Mitglieder aus dem sozialen Randgruppenmilieu rekrutieren. Milizverbände, wie Osttimors PAM Swakarsa oder die im März 2000 auf Java aufgestellten und auf den Molukken eingesetzten Laskar Jihad, verfügen über eine überregionale paramilitärische Kommandostruktur und einen umfangreichen Logistikapparat mit der Fähigkeit, neue paramilitärische Verbände zu rekrutieren, auszubilden, zu verschicken und vor Ort zu bewaffnen. Mittlerweile können die Streitkräfte landesweit Unruhen recht beliebig, chirurgisch-präzise, örtlich begrenzt und zielgerichtet gegen bestimmte Zielgruppen entfachen und wieder beenden, ohne dabei selbst allzu auffällig in Erscheinung zu treten. Unruhen treten niemals zufällig auf, sondern haben stets erkennbare "Provokateure" im Hintergrund. Form, Ablauf und Ende der Unruhen vollziehen sich nach ähnlichen Mustern und brennen mit ihren angezündeten Zielobjekten aus. Die ausgelösten Gewaltakte erscheinen als spontaner Ausbruch lokaler Spannungspotenziale. Die Drohwirkung dieser verdeckten Kriegsführung besteht in der potentiellen Wiederholbarkeit an jedem Ort des Archipels. Osttimor liegt an einer Schlüsselstelle des malaiischen Archipels: Vor der Hauptstadt Dili und um die vorgelagerte Felseninsel Atauro herum verlaufen die Meeresstraßen von Ombai und Wetar, die die Einfahrt für den internationalen Schiffsverkehr in den Archipel und weiter in Richtung Philippinen, Taiwan, China, Japan und Russland bilden. Als Tiefwasserpassagen sind sie für Unterseeboote von internationalem militärischen Interesse. Wer diese Seewege beherrscht, übt Kontrolle über die Schifffahrt in der Region aus. Indonesiens Landesverteidigung geschieht nicht vom Meer, sondern von den Landmassen her. Osttimor ist ein Glied im natürlichen Ring, den die indonesischen Inseln um ein zentrales Seegebiet, das indonesische "Mare Nostrum", bilden. Ein Blick auf die Karte des Landes zeigt, dass das indonesische Zentralmeer eigentlich aus zwei Teilen besteht, der Java-See im Westen und den Meeresgebieten im östlichen Archipel, voneinander getrennt durch die Insel Sulawesi. Die Meeresräume als Lücken zwischen den Inseln bilden die Zufahrt in den indonesischen Archipel, durch welche die internationalen Seepassagen zwischen Indischem und Pazifischem Ozean, zwischen Asien und Australien verlaufen.

Indonesien verstand es immer geschickt, seine geostrategische Lage als ein diplomatisches Gewicht im Ringen um internationale Unterstützung einzubringen. Der Staat und seine Regierungen galten als stabiler Garant für die freie Passage durch und die Sicherheit in der indonesischen Inselwelt.

Das Herausbrechen Osttimors hat eine beträchtliche geographische Verteidigungslücke in die südöstliche Flanke des Inselrings geschlagen. Der Archipel ist nicht länger ausschließlich indonesisch. Indonesiens Kontrolle über die Ostpassage im Archipel ist ernsthaft gefährdet. Ein unabhängiges Timor Loro Sa'e trägt zu einer sicherheitspolitischen Verschiebung der Kräfte im Archipel bei. Besonders brisant wird dies für den Fall, dass internationale Militärpräsenz die Zeit des UN-Mandats überdauert. Stützpunkte ausländischer Mächte in Osttimor würden die strategische Vorherrschaft Indonesiens im Archipel empfindlich treffen. Zusätzlich besteht die Gefahr, dass heterogene und erst relativ spät gewaltsam in die Republik Indonesien integrierte Gebiete ihre eigenen Unabhängigkeitsbestrebungen vorantreiben.

Auch im Westen läuft Indonesien zurzeit Gefahr, durch ein sich unabhängig erklärendes Aceh die Kontrolle über die Straße von Malakka zu verlieren. Bereits der Verlust nur einer zentralen Seepassage würde Indonesiens geostrategische Position gefährden. Die Machtposition seiner Eliten, einschließlich des Militärs, wäre empfindlich getroffen. Indonesien liefe ernstlich Gefahr, seine poröse innere Stabilität endgültig zu verlieren und auseinander zu brechen. Aber auch kleinere Szenarien sind beunruhigend: Bereits ein Indonesien, das die Sicherheit in weiten Teilen seines Staatsgebietes nicht mehr gewährleisten kann, verlöre das Vertrauen der Anrainerstaaten und der internationalen Wirtschafts- und Handelspartner.

Ein formal-staatlich geeintes, aber durch innere Unsicherheit geprägtes Indonesien, das Sicherheit von Investitionen und freiem Handel nicht länger gewährleisten könnte, böte den Nachbarn Anlass zur Suche nach sicherheitspolitischen Alternativen. Überlegungen einer internationalen Militärintervention in Ostindonesien oder gar eine neue Sicherheitsarchitektur aus unabhängigen Staaten im Archipel wären dann keine Tabus mehr.

Die organisierten Gewaltakte in Osttimor waren kein singuläres Phänomen. Eine Reihe von Koinzidenzen deuten auf eine Koordinierung von Gewaltakten im östlichen Archipel um den Zeitpunkt herum, als Übergangspräsident Habibie am 27. Januar 1999 das Referendum für Osttimor ankündigte.

Indonesische Militärkreise waren bereits Wochen zuvor über Habibies Absichten informiert. Konkrete Vorbereitungen zur Aufstellung von PAM Swakarsa begannen im Dezember 1998. Erste Organisationen dieser Art waren ab Juli 1998 in Jakarta in Erscheinung getreten.

Am 20. Januar 1999 wurden auf Ambon jene Unruhen geschürt, die bis heute die Molukken in einen blutigen Dauerkonflikt gestürzt haben. Provokation von Aufruhr wurden aus Makassar / Südsulawesi, Manado / Nordsulawesi und der Insel Flores in der Presse gemeldet.

Ab Januar 2000 begann eine neue Welle der Gewalt. Wieder waren die Molukken der Initialzünder. Hinzu kamen generalstabsmäßig organisierte Unruhen auf Lombok, in deren Folge ausländische Touristen nach Bali evakuiert werden mussten. Internationale Beobachter beschrieben ähnliche Muster organisierter Milizgewalt wie in Osttimor. Kopassus-Einheiten wurden vor Ort gesehen. Später paralysierten Unruhen in der Stadt Poso die Region Zentralsulawesi. Im März wurde mit der Laskar Jihad auf Java eine schlagkräftige Miliz gegründet, die ab April in Richtung Molukken in Marsch gesetzt wurde, ohne dass Sicherheitskräfte eingriffen.

Hinter den Ereignissen wird ein grobes militärpolitisches Bild erkennbar: Als 1999 für die indonesischen Streitkräfte die Gefahr eines Verlustes Osttimors absehbar wurde, wurde die organisierte Terrorisierung des Großraumes Ostindonesien eingeleitet, um die Bevölkerung von ähnlichen Unabhängigkeitsbestrebungen abzuhalten. Auffälliges Konfliktmuster war ein bewusstes Entfachen religiöser Spannungen zwischen muslimischen und christlichen Bevölkerungsgruppen, möglicherweise mit dem Ziel, die christlichen Bevölkerungsteile in Ostindonesien von einer Solidarisierung mit den christlichen Osttimoresen abzuschrecken. Die TNI plante im Oktober 1999 den Aufbau eines militärischen Sicherheitsrings um Osttimor. Falls dies geschähe, bildeten diese Inseln einen gegen Timor Loro Sa'e gerichteten Ring, der eine Ausbreitung separatistischer Tendenzen und damit den Verlust der östlichen Seepassage verhinderte.

Sicherheitsrisiko

Die TNI ist eine unkontrollierte Kraft. Der Staat besitzt keine entscheidende Macht über sie. Die Streitkräfte sind das größte Sicherheitsrisiko Indonesiens, weil sie in der Lage sind, die beginnende Demokratisierung zu stören oder zu verhindern. Einheiten der Streitkräfte, besonders des Heeres, schüren die vielfältigen ethnischen und religiösen Spannungen und geben sich zugleich als Wahrer von Sicherheit, Ordnung und territorialer Einheit des Landes. (. . .) Die TNI hält einen sozialen Sprengsatz in der Hand, mit dem sie nicht nur Indonesien, sondern die gesamte Region Südostasien als Geisel hält. Ihre auch offen ausgesprochene Drohung heißt: "Wendet euch gegen uns, und wir lassen Indonesien explodieren; dann ist unser Problem auch euer Problem!" ...

Aus: Frankfurter Rundschau, 28.09.2000

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