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Verstoßen und diskriminiert

Indiens Witwen fristen Dasein am Rand der Gesellschaft

Von Hilmar König/Neu-Delhi *

Es war die unbedachte Äußerung einer ehemaligen Schauspielerin, die das bittere Los indischer Witwen vor kurzem einmal mehr in den Blickpunkt der Öffentlichkeit rückte. Hema Malini, einstiges »Traumgirl« Bollywoods und inzwischen Parlamentarierin, verlangte einen Stopp der Migration verstoßener Witwen nach Vrindavan, der heiligen Stadt des Hindu-Gottes Krishna im Bundesstaat Uttar Pradesh. Nichtregierungsorganisationen und die Medien kritisierten die Auslassungen der heute 65jährigen Abgeordneten heftig.

Offensichtlich hatte der Anblick Hunderter bettelnder Witwen die Politikerin bei einem Besuch in Vrindavan erschüttert. Ihre anschließenden Schlussfolgerungen zeigten aber, dass sie das sozial-kulturelle Problem entweder nicht verstanden hatte oder der Misere in der »Stadt der Witwen« einen politischen Akzent verpassen wollte. Uttar Pradesh wird von der regionalen Samajwadi Party regiert, Malini jedoch gehört der in Neu-Delhi regierenden Indischen Volkspartei (BJP) an. Die Witwen, die nicht aus der Gegend stammen, hätten dort auch nichts zu suchen, polterte die Politikerin. In Westbengalen und in Bihar, von wo viele von ihren Familien verstoßene Frauen nach Vrindavan kommen, gebe es schließlich genug Tempel, in denen sie Zuflucht finden könnten, so Malini. Und überhaupt, so schlecht gehe es den Witwen doch gar nicht: »Sie haben ein Bankkonto, ein gutes Einkommen, schöne Schlafstätten. Doch aus Gewohnheit betteln sie.« Aus welchen Quellen Malini die Informationen für solche absurden Behauptungen bezieht, bleibt ihr Geheimnis.

Die Lage der Witwen gehört zu den schlimmsten Problemen Indiens. Nach dem Tod des Gatten, so die noch immer in etlichen Landesteilen verbreitete Auffassung, wird die Hinterbliebene nutzlos. Vor 150 Jahren landete sie neben der Leiche ihres Mannes auf dem Scheiterhaufen. Heute gilt sie als wertlos. Man nimmt ihr die Würde, diskriminiert sie und drängt sie an den äußersten Rand der Gesellschaft. Wenn sie ihre Ehe- und Mutterpflichten erfüllt hat, kann sie wie Müll entsorgt werden. Sie wird physisch und mental gequält, hat keine Rechte mehr, darf selbst als junge Witwe nicht wieder heiraten und wird als finanzielle Last betrachtet.

Wenn die Kinder sie nicht direkt verstoßen, dann machen sie der Mutter das Leben so zur Hölle, dass dieser nur noch die Flucht in die »Stadt der Witwen« bleibt. 40.000 sollen inzwischen in Vrindavan mehr schlechtes als rechtes Obdach gefunden haben – in Tempelasylen oder schmutzigen Quartieren ohne Trinkwasserversorgung und oft ohne Toiletten. Manche beziehen eine monatliche Pension von 300 Rupien, umgerechnet vier Euro. Einige erhalten eine magere Ration an Mehl und Zucker. Zu ihren täglichen Pflichten gehört, in den Tempeln religiöse Hymnen zu singen. Um zu überleben, müssen sie betteln gehen. Die Frauen besitzen hier kein Wahlrecht, weshalb sie für die politischen Parteien kein Faktor sind und vernachlässigt werden. Und das, obwohl das Oberste Gericht Indiens 2012 in einer Direktive die Regierung ausdrücklich verpflichtete, sich um die Witwen zu kümmern.

Es sind Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die versuchen, den Verstoßenen zu helfen. Und diese Organisationen sind es auch, die jetzt Hema Malini scharf kritisieren. »Sie ist Parlamentsabgeordnete und sollte dafür sorgen, dass sich der Staat einschaltet und die soziale Sicherheit der Witwen gewährleistet«, forderte Mohini Giri von der Hilfsorganisation »Guild for Service«. Für Sonal Singh Wadhwa, Chefin der NGO »Maitri« rauben gefühllose Bemerkungen wie die von Malini den Witwen den letzten Rest von Würde. »Sie haben keinen anderen Platz, zu dem sie Zuflucht nehmen könnten«, erklärte sie. Die Tageszeitung The Hindu kommentiert derweil, nicht Religion locke die Frauen an, »sondern Armut treibt sie nach Vrindavan«. Nicht die heilige Stadt Krishnas, sondern die indische Gesellschaft habe ein Problem mit den Witwen.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 9. Oktober 2014


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