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Indien wählt rechts

Erdrückender Sieg der Hindu-Nationalisten bei den Parlamentswahlen *

Ein Tsunami ist gemeinhin ein unheilvolles, Furcht einflößendes Naturereignis. Dennoch ist in Indiens Medien von einem »Modi-Tsunami« die Rede. Wie eine Riesenwoge haben die indischen Wähler ihre bisherige Regierung unter Führung der traditionsreichen Kongresspartei hinweg- und den Frontmann der rechten hindu-nationalistischen Indischen Volkspartei (BJP), Narendra Modi, auf den Thron gespült. Modi wird sich im künftigen indischen Parlament auf eine erdrückende Mehrheit stützen können. Und natürlich verspricht er nicht Unheil, sondern Heil und Segen für alle 1,2 Milliarden Bewohner des Landes. Er wolle sich für sein Volk aufopfern und niemanden zurücklassen, verkündete Modi am Freitag in seiner ersten Ansprache nach der Parlamentswahl.

Besonders die Muslime Indiens, etwa 15 Prozent der Bevölkerung, sehen jedoch Grund, den »Modi-Tsunami« zu fürchten. Als Hindu-Nationalisten im Jahre 2002 einen Feldzug gegen die muslimische Minderheit im Lande führten, sah der damalige Chefminister des Unionsstaates Gujarat nicht nur untätig zu. Menschenrechtler werfen Modi sogar vor, er habe die Pogrome, denen mehr als 1000 Menschen zum Opfer fielen, angestiftet. »Er ist teuflisch und zerstört jeden, den er als Gefahr empfindet«, zitierte die Nachrichtenagentur dpa den indischen Journalisten R.K. Mishra.

Eine Mehrheit der Wähler hofft indes, dass Modi Indien von Korruption, Inflation, Wirtschaftskrise und Armut befreit. Sie hoffen auf nicht weniger als auf ein Wunder.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 17. Mai 2014


Deutlicher Rechtsruck in Indien

Wahlsieg des Hindu-Nationalisten Narendra Modi versetzt »die Märkte« in Euphorie

Von Hilmar König, Delhi **


Mit absoluter Mehrheit hat die hindu-nationalistische Indische Volkspartei (BJP) die Parlamentswahlen in überwältigender Manier gewonnen. Der Sieger verspricht dem ganzen Land »gute Tage« – und mehr.

Gemeinsam mit ihren Verbündeten kann die BJP mit mehr als 300 Mandaten in der Lok Sabha (Volksversammlung) rechnen, für die bei den mehrwöchigen Wahlen 543 Sitze vergeben wurden. Ihre stärkste Widersacherin, die zehn Jahre lang mit einer Vereinten Progressiven Allianz (VPA) regierende Kongresspartei, musste die schwerste Niederlage in ihrer Geschichte hinnehmen. Alle ihre bisherigen Minister erhielten kein neues Mandat.

Bei der Stimmenauszählung am Freitagnachmittag lag die BJP mit etwa 275 Abgeordneten uneinholbar in Front, mit ihrer Nationalen Demokratischen Front kam sie sogar auf etwa 325 Sitze. Dagegen landete die Kongresspartei zu diesem Zeitpunkt – die Auszählung dauerte bis in den Abend – bei 60, ihre Progressive Allianz insgesamt bei 75 Mandaten.

Die BJP könnte die Regierung damit sogar ohne Verbündete bilden. Ob sie sich tatsächlich dafür entscheiden wird, bleibt abzuwarten. Die Hindupartei müsste ihren riesigen Versprechungen jetzt möglichst schnell Taten folgen lassen. Narendra Modi, der voraussichtlich am 24. Mai als neuer Premier vereidigt wird, hatte in seiner Wahlkampagne enorme Erwartungen geweckt. So versprach er eine »Entwicklung für alle«. Er will die Inflation stoppen, Millionen Arbeitsplätze schaffen und der auf allen Ebenen grassierenden Korruption den Garaus machen. Die Bevölkerung hofft auf einen Wandel in absehbarer Zeit, nicht erst in Jahren.

Während auf dem Gelände des BJP-Hauptquartiers in Delhi Parteigänger im Siegestaumel Knaller und bengalisches Feuer zündeten, zu Trommeln und Trompeten tanzten und Ladoos (Süßigkeiten) verteilten, reagierte die Börse mit sprunghaften Punktgewinnen auf Rekordhöhen euphorisch. Die indische Geschäftswelt verspricht sich von Narendra Modi einen stärker neoliberalen Wirtschaftskurs. Sie machte in den vergangenen Monaten keinen Hehl daraus, wem ihre Sympathie und ihre Unterstützung gelten. Immerhin musste die beispiellose, im Stil US-amerikanischer Präsidentschaftswahlkämpfe aufgezogene Werbekampagne für Modi mit Milliardenbeträgen finanziert werden. Auch das Auslandskapital steht dem Vernehmen nach bereits in den Startlöchern. 200 Firmen sollen große Investitionen angekündigt haben.

Die Allianz der Kongresspartei zahlte für eine Reihe von Korruptionsskandalen, für eine seit 2009 deutlich schwächer werdende Leistung im Wirtschaftsbereich und für das Unvermögen, den Preisauftrieb für Nahrungsmittel und andere wesentliche Waren zu bremsen. Sie verstand es nicht, ihre sozialen Errungenschaften, beispielsweise das Beschäftigungsprogramm für die ländliche Bevölkerung oder das Recht auf Schulbildung und Nahrungssicherheit, überzeugend zu präsentieren. Spitzenkandidat Rahul Gandhi, die gesamte Parteiführung und der 81-jährige Premier Manmohan Singh wirkten nach zehn Jahren Regierung amtsmüde, ausgebrannt und ideenlos.

Narendra Modi sieht am Sonntag einem triumphalen Empfang durch Zehntausende von Anhängern in Delhi entgegen. Am Abend wird er in Varanasi am heiligen Ganges in einer Zeremonie »Ganga Aarti« den Hindu-Göttern und den Wählern für seinen Sieg danken.

** Aus: neues deutschland, Samstag, 17. Mai 2014


Hoffen auf den Heilsbringer

Hilmar König zur Kursänderung in der indischen Politik ***

Indiens Wählerschaft hat ihr Urteil gesprochen: Sie will einen Regierungswechsel. Die Indische Volkspartei (BJP) löst die Kongresspartei nach einem sensationellen, bereits als »historisch« gepriesenen Sieg ab. Erstmals seit 30 Jahren, so sagen es jedenfalls die Hochrechnungen, erringt eine Partei die absolute Mehrheit. Damit steht Indien eine fundamentale Kursänderung bevor, denn die BJP ist ihrem Charakter nach religiös-nationalistisch und rechts. Ihr Frontmann Narendra Modi will als marktradikaler Heilsbringer mit eiserner Faust herrschen.

Die Kongresspartei konnte es bis zuletzt nicht fassen, dass ihre Uhr vorerst abgelaufen ist. Doch die Berufung eines Sprosses aus der Nehru-Gandhi-Dynastie zum Spitzenkandidaten vermochte Korruptionsaffären und Wirtschaftseinbrüche nicht vergessen zu machen. Jetzt wird sich die Partei, die Indien seit der Unabhängigkeitserklärung fast durchgängig prägte, an die Oppositionsrolle gewöhnen müssen. Aber auch die Regionalparteien und die Linken wurden heftig gerupft.

Modis BJP verdankt ihren Sieg sowohl der Mittelklasse, die mehr vom »Entwicklungskuchen« haben will, als auch den ausgegrenzten Massen, die den Versprechungen des Chefministers aus Gujarat geglaubt haben. Das dortige »Wirtschaftswunder« hat jedoch die arme Landbevölkerung nicht satt gemacht. Modi verheißt nun »gute Tage« für ganz Indien. Die süßen Bonbons, die bei den Siegesfeiern der BJP in die Menge gestreut werden, reichen indes nicht einmal für Stunden.

*** Aus: neues deutschland, Samstag, 17. Mai 2014 (Kommentar)


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