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Über Leichen nach oben

Hintergrund. Der neue Premier Indiens wird voraussichtlich Narendra Modi heißen. Der Hindu-Nationalist ermunterte in der Vergangenheit einen Lynchmob zu Pogromen an Muslimen und genießt Rückendeckung der wirtschaftlichen Eliten

Von Jörg Tiedjen *

Selten stand bei Wahlen zur Lok Sabha, dem Unterhaus des indischen Parlaments in Neu-Delhi, eine einzige Person derart im Mittelpunkt: Narendra Modi, seit 2001 Chief Minister von Gujarat und Spitzenkandidat der rechtsradikalen, hindu-fundamentalistischen Bharatiya Janata Party (Indische Volkspartei, BJP) für das Amt des Premierministers. Seit Monaten sagen Meinungsumfragen seinen Sieg voraus. An diesem Freitag soll nach der insgesamt fünf Wochen dauernden Abstimmung das offizielle Ergebnis verkündet werden. Presse und Rundfunk beschworen eine »Modi-Welle«, die Indien erfaßt habe. Ein Echo war weit über die Landesgrenzen hinaus zu hören – kaum ein Berichterstatter über die Wahlen enthielt sich, das Bildnis eines Reformers, Saubermanns und »Machers« zu zeichnen. Er verspreche mehr als alle anderen in einer Zeit, da nicht zuletzt auch die vielgerühmte indische Mittelklasse die Folgen der allgemeinen Wirtschaftskrise zu spüren bekommt, neue Jobs und neue Erträge.

Dieses vorteilhafte Bild des Narendra Modi, retuschiert nicht zuletzt mit Hilfe internationaler Werbeagenturen, hat allerdings wenig mit der Wirklichkeit zu tun. Das deuten bereits die zumeist leisen Hinweise an, dem Chief Minister von Gujarat werde vorgeworfen, im Jahr 2002 Massaker an Muslimen seines Landes »nicht verhindert« zu haben. Bei diesen Massenmorden waren geschätzt 1000 bis 2000 Muslime getötet und 150000 vertrieben worden – zum Teil bis heute.

Militanter Aktivist

Modi ist kein Selfmademan, der sich als Angehöriger einer untergeordneten Kaste vom Teeverkäufer am Bahnhof ganz nach oben gearbeitet hätte. Das jedoch wird immer wieder behauptet. Vielmehr ist er ein Aktivist des Rashtriya Swayamsevak Sangh (Nationales Freiwilligenkorps, RSS), einer 1925 ins Leben gerufenen, paramilitärischen Vereinigung von Hindu-Fundamentalisten, die 1948 erstmals im Licht der Weltöffentlichkeit stand. Damals wurde sie in Indien vorübergehend verboten, da Nathuram Ghodse, der Mahatma Gandhi wegen dessen nachgiebiger Haltung gegenüber den Separatisten der Muslimliga um den pakistanischen Staatsgründer Mohammed Ali Jinnah ermordet hatte, zumindest in seiner Jugend RSS-Mitglied war. Mitte der achtziger Jahre beauftragte der RSS seinen Pracharak (Verbindungsmann) Modi, beim Aufbau einer Landessektion der 1980 gegründeten BJP in Gujarat mitzuwirken. Die Partei kann durchaus als der verlängerte Arm des RSS im Bereich der Politik bezeichnet werden. Überhaupt steht der RSS heute im Zentrum einer ganzen Reihe hindu-fundamentalistischer Vereinigungen, insgesamt Sangh Parivar genannt, die insbesondere den säkularen Charakter der indischen Verfassung attackieren. Modi profilierte sich als Stratege und Organisator von Wahlkämpfen und politischen Demonstrationen. Von Anfang an ist sein Name eng verknüpft mit dem Erfolg der BJP in Gujarat, wo die Partei seit 1995 ununterbrochen regiert und das sie unter der Führung Modis in einen hindu-fundamentalistischen Musterstaat oder ein Hindutva-Lab (Hindutum-Labor) verwandelt hat. Hinter Hindutva verbirgt sich der Hindu-Fundamentalismus.

Allerdings geriet die Herrschaft der BJP in dem nordwestlichen Bundesstaat 2001 in eine Krise. Der damalige Chief Minister Keshubhai Patel trat Ende jenes Jahres aus Gesundheitsgründen zurück. Modi folgte – vorläufig– an seiner statt. In dieser Zeit sah sich die BJP Vorwürfen der Korruption und der Untätigkeit angesichts eines verheerenden Erdbebens in Gujarat im Januar 2001 ausgesetzt. Das waren schlechte Voraussetzungen, um bei den Wahlen zum Regionalparlament im Dezember 2002 die Regierungsmehrheit zu behaupten. In dieser ausweglosen Situation schlug endlich die Stunde des Narendra Modi. Der ging aufs Ganze: Die BJP wollte ihn zum stellvertretenden Regierungschef des Bundesstaates berufen. Aber damit gab sich Modi nicht zufrieden. Er forderte alles oder nichts. Schließlich rang sich die BJP-Führung unter Lal Krishna Advani, ebenfalls ein Swayamsevak (Freiwilliger) des RSS, dazu durch, Modi im Falle eines Wahlsiegs tatsächlich mit dem Posten des Chief Ministers von Gujarat zu betrauen. Die Voraussetzungen dafür schienen denkbar schlecht. Doch es wurde eine Lösung gefunden. Eine denkbar grausame. Die Massaker von Gujarat im Jahre 2002. Die Grundlagen dieses ungezügelten Hasses eines Lynchmobs wurden in den 90er Jahren gelegt, als die Babri-Moschee zerstört wurde.

Marsch zu Ram

Vertreter des RSS, wie der frühere indische Premierminister Atal Bihari Vajpayee, der dritte prominente Streiter dieser Organisation in den Reihen der BJP, geben sich gerne versöhnlich und weisen den Verdacht weit von sich, ihre Vision des Hindutums führe zu Nachteilen für die zahlreichen Nicht-Hindus in Indien. Aber wie schafft man es, unter den heute geschätzten 1,3 Milliarden Indern unter demokratischen Vorzeichen eine Mehrheit zu erringen und dann auch zu halten, wenn die eigene Politik in erster Linie die Interessen einer Elite berücksichtigt? Die Antwort: durch Demagogie. Während Parteigrößen wie Vajpayee bis heute dem Hindu-Fundamentalismus ein freundliches Antlitz verleihen wollen, womit sich allerdings nur eine begrenzte Anhängerschaft für die BJP gewinnen ließ, leitete der BJP-Vorsitzende Lai Krishna Advani Anfang der 90er Jahre eine Wende in der Parteistrategie ein. Die Hindu-Fundamentalisten sind seit jeher begeisterte Verehrer von Faschismus und Nazitum. »Mein Kampf« ist in Gujarat in nahezu jedem Buchladen zu finden. Mussolinis »Marsch auf Rom« mag Pate gestanden haben, als Advani im September 1990 in Somnath in Gujarat die sogenannte Ram Rath Yatra begann, einen an traditionelle religiöse Prozessionen erinnernden politischen Umzug, der das über anderthalbtausend Kilometer entfernte Ayodhya in Uttar Pradesh zum Ziel hatte. Teilnehmer und Mitorganisator war Narendra Modi.

Ram ist neben Krischna die im Hinduismus wichtigste Inkarnation des Gottes Wischnu. Insbesondere ist er Held des Epos »Ramajana«, des neben dem »Mahabharata« bedeutendsten und weit über Indien hinaus populärsten Textes des Hinduismus. Die Geschichte Rams ist in legendärer Vorzeit angesiedelt, und wenn sie auch auf geschichtliche Ereignisse anspielen mag, ist ihre bleibende Bedeutung spiritueller oder poetischer Natur. Aber wie bei Fundamentalismen üblich, wird das, was das »Ramajana« erzählt, von den Propagandisten des Hindutums ganz wörtlich aufgefaßt und en passant des dichterisch-religiösen Charakters entkleidet.

Es heißt im »Ramajana«, daß Ram lange vor unserer Zeit in einer Stadt namens Ayodhya geboren wurde. Wie lange das her sein muß, sei dadurch angedeutet, daß seine Regentschaft als König von Ayodhya 11000 Jahre gedauert haben soll. Diese offensichtlich fiktive Herrschaft gilt im Hinduismus als goldenes Zeitalter. Obwohl ausgeschlossen ist, daß die gleichnamige Stadt Ayodhya in Uttar Pradesh so lange existiert hat, behaupten die Hindu-Fundamentalisten, daß an der Stelle, an der Wischnu die Gestalt des Ram annahm, ein Tempel errichtet worden sei. Als aber Anfang des 16. Jahrhunderts der Eroberer Babur in Nordindien das Mogulreich gründete, soll der Ram-Tempel geschleift worden sein, um an seiner Stelle eine nach Babur benannte Moschee zu erbauen. Es ließ sich bis heute nicht wissenschaftlich nachweisen, daß sich unter derselben jemals ein Ram-Tempel befand, geschweige denn der Geburtsort Rams.

Aber beim Glauben kommt es selbstverständlich auf Fakten nicht an. Mitte des 19. Jahrhunderts – bezeichnenderweise unmittelbar nach einem Aufstand gegen die britische Kolonialherrschaft im Jahr 1856, der maßgeblich von den Muslimen ausging – entstand eine radikale Hindu-Bewegung, die die Rückgabe des Ram Janmabhumi (Ram-Geburtsort) in Ayodhya verlangte und die Babri-Moschee abreißen wollte, um erneut einen Ram-Tempel zu errichten. Diese Bewegung stand am Anfang des heutigen Hindu-Fundamentalismus. Was lag also näher für die Führung der BJP unter Advani, die sich Mitte der 1980er Jahre mit der Tatsache konfrontiert sah, daß ihre Botschaft nicht so recht ankommen wollte, wenn man sie allzu sehr zivilisierte und den eigenen Hindu-Radikalismus versteckte, als sich nun endlich an die Errichtung einer neuen Heimstatt für die Ram-Verehrung zu machen?

Somnath an der Küste des Indischen Ozeans in Gujarat wurde als Ausgangspunkt der Rath Yatra, der Wagenprozession, Advanis gewählt, weil sich dort ein Tempel des Gottes Schiwa befindet, dessen Vorläufer mehrfach von muslimischen Eroberern zerstört worden waren. Er gilt als der »ewige Tempel«, da die Pilgerstätte immer wieder neu aufgerichtet wurde. Berichten zufolge soll es bei der ersten Zerstörung durch Mahmud Ghaznawi im 11. Jahrhundert zu einem Massaker an der Hindu-Bevölkerung gekommen sein. Die zeitliche Ferne macht es kaum möglich, festzustellen, was damals wirklich geschah. Trotzdem gab dies den geeigneten Hintergrund ab, Tausende Anhänger verschiedener Organisationen der Hindu-Fundamentalisten, sogenannte Karsevaks, die zu der insgesamt über zwei Jahre dauernden Prozession aus dem ganzen Land anreisten, nicht nur zu ermuntern, unterwegs immer wieder Pogrome gegen Muslime zu verüben, sondern auch auf das Ziel des Umzugs einzustimmen: die Zerstörung der Babri-Moschee. Dieses wurde im Dezember 1992 erreicht, als Hunderttausende Karsevaks die Moschee umlagerten und zerstörten, darunter die Führer der BJP. Mehrere Veröffentlichungen, so erst Anfang dieses Jahres eine Recherche von der Nachrichtenplattform Cobrapost, sprechen dafür, daß die Zerstörung von langer Hand geplant war. Es waren nicht, wie es im Anschluß hieß, spontane Akte der Gewalt, denen zuerst die Moschee zum Opfer fiel und die dann unter den Muslimen weit über Uttar Pradesh hinaus mehr als 2000 Menschenleben kosteten.

Mord und Zerstörung waren bewußt kalkuliert und hatten das gewünschte Ergebnis: Im Zuge einer wachsenden Polarisierung der indischen Gesellschaft wurde die BJP 1996 erstmals stärkste Partei in der Lok Sabha. Noch konnte sie jedoch nicht die Regierung übernehmen, da sie aufgrund ihres Extremismus keine Koalitionspartner fand. Das änderte sich zwei Jahre später mit dem vergleichsweise moderaten Vajpayee, der nach Neuwahlen Premierminister einer Regierung des Parteienbündnisses Nationale Demokratische Allianz (NDA) wurde, mit Advani als Innenminister.

Gujarat 2002

Die Massaker von Gujarat stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit den Geschehnissen um die Babri-Moschee und den geplanten Ram-Tempel, in die Modi als Mitorganisator der Ram Rath Yatra von Advani involviert war. Das Verdienst, die grausame Wahrheit enthüllt zu haben, die in Gujarat durchaus bekannt ist, aber verschwiegen wird, gebührt vor allem der Wochenzeitschrift Tehelka, die 2007 Journalisten in die Kreise der Täter einschleuste, ihnen Geständnisse entlockten und diese mit versteckter Kamera aufzeichneten.

Es war das Ereignis, auf das die BJP, der bei den im Dezember 2002 bevorstehenden Wahlen in Gujarat der Verlust ihrer Regierungsmehrheit drohte, gewartet haben mußte: Am frühen Morgen des 27. Februar traf der Sabharmati-Expreß aus Darbhanga in Bihar mit fünf Stunden Verspätung in Godhra ein, der ersten Station im Bundesstaat Gujarat. Der Zug war voll mit fanatischen Karsevaks, die aus Ayodhya kamen. Dort hatten sie an einer auf hundert Tage angelegten Massenkundgebung aus Anlaß der zehn Jahre zuvor erfolgten Zerstörung der Babri-Moschee teilgenommen, die damals am 17. Februar begonnen hatte und Mitte März in der Grundsteinlegung für den künftigen Ram-Tempel gipfeln sollte. Die Demonstration war von den radikalen Hindu-Verbänden organisiert.

Wie nahezu überall in Indien üblich, erwarteten die Reisenden beim Halt an einem Bahnhof Händler, meist waren das Muslime, die Verpflegung und Getränke anboten. Schon auf der Hinfahrt hatten die durch ihre orangen Halstücher leicht kenntlichen Karsevaks die Gelegenheit genutzt, die Muslime auf dem Bahnsteig zu beleidigen. Plötzlich aber soll bei diesem Stopp auf dem Bahnsteig nicht nur ein Streit mit den Händlern entbrannt sein. Es verbreitete sich das Gerücht, radikale Hindus hätten versucht, zwei muslimische Mädchen in einen Waggon zu zerren und zu entführen. Unter einem Hagel von Steinen flüchteten die Karsevaks in ihre Wagen und versperrten die Türen. Möglicherweise konnten aber nicht alle rechtzeitig den Zug erreichen. Denn kaum hatte der den Bahnhof verlassen, wurde die Notbremse gezogen. Das ermöglichte es den aufgebrachten Muslimen, den Zug zu verfolgen. Immer mehr Steine trafen die Fenster des Waggons S-6. Der Zug fuhr wieder an – und wurde erneut angehalten. Die Angreifer, deren Zahl immer größer geworden war, versuchten nun, Wagen S-6 in Brand zu setzen. Der fing tatsächlich Feuer und war aufgrund der verriegelten Türen zur tödlichen Falle geworden. 59 Menschen erstickten darin oder verbrannten: neben Karsevaks vor allem Frauen und Kinder.

Aufwiegelung zum Mord

Das dürfte der ungefähre Hergang des sogenannten Godhra-Zwischenfalls gewesen sein. Doch schon wenige Stunden später fanden sich mehrere örtliche Funktionäre der BJP, die aussagten, daß die Provokationen auf dem Bahnsteig von den dortigen Muslimen ausgegangen seien. Außerdem behaupteten sie, der Zug sei vor dem Bahnhof von mehreren tausend Muslimen erwartet worden, darunter die Würdenträger der örtlichen Muslimgemeinde. Später hieß es zudem, daß die Muslime schon am Vortag 150 Liter Benzin eingekauft hätten, um es durch den Faltenbalg in den Waggon zu schütten und dann anzuzünden.

Am Nachmittag besuchte Chief Minister Modi Godhra. Er sprach von einem »einseitigen, geplanten, von einer Gemeinschaft begangenen Terrorakt« und kündigte eine harte Bestrafung an. Er meinte die komplette islamische Gemeinde, nicht einzelne Täter. Seine Ansprache wurde im Fernsehen übertragen, offensichtlich gedacht als eine Art Freibrief für das, was folgte. Am Abend trafen sich führende Vertreter von Regierung, BJP und Sicherheitskräften. Zwei Anwesende bezeugten später, daß Modi damals den Befehl gegeben habe, bei den antimuslimischen Pogromen, die zur gleichen Stunde begannen, zunächst nicht einzugreifen. Einer der beiden Zeugen wurde 2003 unter ungeklärten Umständen ermordet, dem anderen wurde vom obersten Gerichthof kein Glauben geschenkt, nachdem er jahrelang geschwiegen hatte.

Pogrome sind selten unerklärliche Gewaltexzesse, die wie ein Gewitter hereinbrechen. Das zeigt, was am folgenden Morgen in Ahmedabad, dem Industriezentrum Gujarats, geschah. Gezielt suchten sich marodierende Hindu-Fanatiker ihre Opfer, offensichtlich ausgestattet mit Angaben aus dem Melderegister. Um 9 Uhr fand sich eine Menge von schätzungsweise 10000 Hindu-Fanatikern vor der Wohnanlage ein, in der Ehsan Jafri, ein früherer Abgeordneter der Kongreßpartei, mit seiner Familie wohnte. Auch Muslime der Umgebung waren dorthin geflohen. Zeugen sagten aus, daß die Polizei, die sich abseits hielt, dem Mob drei Stunden Zeit gegeben habe, sein Werk zu verrichten. Die Mörder sprengten das Tor. Jafri hatte verzweifelt versucht, die Polizei, Modi und Verantwortliche in der Hauptstadt Delhi zu erreichen. Niemand antwortete. Jafri schoß auf die Angreifer. Dann bot er ihnen Geld. Sie gingen scheinbar auf das Angebot ein. Bei der Übergabe jedoch ergriffen sie ihn, zerhackten ihn mit Schwertern und verbrannten ihn. Dann wurden die anderen Einwohner herausgezerrt, Frauen und Mädchen vergewaltigt und anschließend bestialisch ermordet. Allein dort gab es 68 Tote, Zeugen erkannten zwei Führer der Hindu-Fundamentalisten und auch ein Mitglied der Kongreßpartei in der Menge.

Bis in den Sommer hinein gab es immer wieder Massaker. Alles spricht dafür, daß die eingesetzten Waffen vorab bereitstanden: Schwerter und Butangasflaschen, die in Teppiche gewickelt und angezündet wurden. Teile der städtischen Mittelklasse beteiligten sich bereitwillig an der Plünderung von Geschäften und Supermärkten. Der eigentliche Massenmord aber fand auf dem Land statt, weit weg von den laufenden Fernsehkameras. Dort wurde der muslimischen Bevölkerung jegliche Lebensgrundlage entzogen.

Durch die Verwicklung des gesamten Staatsapparats sowie großer Teile der Bevölkerung in die Gewalt wurden sie zu einer im Verbrechen verschworenen, gleichgeschalteten Gemeinschaft unter den Fittichen ihres »Führers« Modi. Die nachfolgenden Wahlen gewann dieser nicht trotz, sondern wegen der Massaker. Ein Blick auf die Hintergründe von gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und Hindus in Muzaffarnagar in Uttar Pradesh im vergangenen Jahr und in Assam, dort sogar während der Wahlen, zeigt, daß die BJP bereit ist, über Leichen zu gehen, wenn sie sich davon einen Nutzen verspricht.

Wirtschaftswunder-Mythos

Narendra Modi wurde nach den Massakern von Gujarat zunächst sowohl in der EU als auch von den USA zur unerwünschten Person erklärt. Er erhielt Einreiseverbot, diplomatische Kontakte wurden abgebrochen, Kulturinstitute geschlossen. Das änderte sich, als die Rede vom Wirtschaftswunder in Gujarat die Runde machte. Sie beruht bis heute weniger auf realen Fakten als auf geschickter Lobbyarbeit. Zehn Jahre nach den Massakern, im März 2012, erschien unter dem Titel »Modi means Business« (Modi heißt Geschäft) in der Südasien-Ausgabe des Time Magazine ein Artikel, in dem ein Soziologe aus Ahmedabad so zitiert wird: » (...) daß Modi der einzige politische Führer des Landes ist, der es sich leisten kann, einen Hindu-Tempel einzureißen, ohne daß die Hindu-Fundamentalisten ihm dies übelnehmen«. Damit spielt er auf Bauprojekte in Gujarat an, für die Hindu-Schreine niedergerissen wurden. So viel zur Ernsthaftigkeit der Rachegefühle gegenüber den Muslimen wegen der Zerstörung des Somnath-Tempels vor 1000 Jahren.

Man darf nicht vergessen, daß sich in der »größten Demokratie der Welt«, die soeben die »größten demokratischen Wahlen der Weltgeschichte« hinter sich gebracht hat, gegenwärtig in zehn Unionsstaaten Bürgerkrieg herrscht. Dabei sind geschätzt 500000 Milizionäre im Einsatz, um Aufstände der Landbevölkerung zu bekämpfen, die sich gegen gigantische Infrastruktur- und Industrieprojekte wehrt. In einer zynischen Verdrehung der Tatsachen wurde während der Wahlen behauptet, daß es diese zum Teil maoistisch orientierten Guerillas seien, die die Demokratie gefährdeten. Nicht so in Modis Bundesstaat Gujarat. Dort herrscht Ruhe. Wer in ein Internetcafé geht, wird registriert. Wer kritische Zeitungen und Zeitschriften am Kiosk sucht, sucht vergebens. Linke Parteien oder Gewerkschaften spielen in Gujarat keine Rolle mehr. Das nennt man ein gesundes Investitionsklima. Geworben wird damit während des alle zwei Jahre stattfindenden Investorentreffens »Vibrant Gujarat« (Pulsierendes Gujarat). Dessen Konzeption gab die Regierung in Gandhinagar bei der US-Marketingfirma Apco Worldwide in Auftrag, die auch IKEA, Mercedes Benz, Philip Morris, Procter & Gamble oder Microsoft zu ihren Kunden zählt.

Von den Wirtschaftsdaten her liegt zum Beispiel der südindische Bundesstaat Tamil Nadu gleichauf mit Gujarat, und der wird nicht von der BJP regiert, sondern von der All India Anna Dravida Munnetra Kazhagam (AIADMK), einer Partei der Dritten Front (Third Front), der auch verschiedene kommunistische Parteien angehören. Der Bundesstaat mit dem höchsten Lebensstandard ist Kerala – das traditionell links regiert wird.

Modi ist es gelungen, Autowerke von Tata und Ford nach Gujarat zu holen, das übrigens seit jeher ein Wirtschaftszentrum ist. Auch VW und andere standen in der Schlange der Bewerber. Gujarat ist Teil einer geplanten Industriezone, die sich von Delhi bis nach Maharashtra mit der Wirtschaftsmetropole Mumbai ausdehnen soll. So wird etwa am Fluß Narmada ein 225 Kilometer langer, geschätzt 11,5 Milliarden US-Dollar teurer Staudamm geplant. Man darf sich sicher sein, daß eine Regierung unter Modi bei der Verwirklichung all dieser Projekte nicht zimperlich sein wird. Auch die Atomdoktrin will die BJP ändern, hin zur Option des Erstschlags gegen Pakistan.

Die industrielle Elite Indiens, von Mukesh Ambani, dem reichsten Mann dort, bis hin zur Tata-Gruppe, der unter anderem die Marken Jaguar und Landrover gehören, hat sich von ihrem traditionellen Verbündeten, der Kongreßpartei, ab- und der BJP zugewandt. In der Krise, in die Indien nach zwei Jahrzehnten zügellosen Wachstums im Zeichen neoliberaler »Reformen« geraten ist, lassen die Industriekapitäne jeden Rest von Skrupel fallen. Es dürfte ihre Unterstützung sein, die es ermöglichte, daß Modi im Wahlkampf beinahe über so viele Mittel verfügte wie vor ihm nur Barack Obama im US-Präsidentschaftswahlkampf 2012. Schätzungen beziffern die Gesamtkosten aller Parteien auf umgerechnet fünf Milliarden US-Dollar, eine Milliarde weniger als zuletzt in den USA. Damit lassen sich eine Menge Stimmen kaufen. Man darf nicht vergessen, daß in Indien auch das Publikum von Wahlveranstaltungen bezahlt wird. Nicht zuletzt gehören auch die indischen Medien teilweise Industriekonsortien. So ist leicht zu erklären, was die angebliche »Modi-Welle« in Bewegung gebracht hat: eine unheilvolle Allianz von Wirtschaft, Fundamentalisten und einer Mittelklasse, die angesichts der globalen Wirtschaftskrise um ihren Wohlstand fürchtet.

Es wird meist so getan, als gebe es zwei Modi, den Wirtschaftsfreund und den Hindu-Fundamentalisten. Aber auch der Neoliberalismus ist ein Extremismus, der am besten, siehe Chile 1973, in Diktaturen gedeiht. Das Paradoxe ist, daß die Massaker von Gujarat den Gegnern der BJP ein fortdauerndes Wahlkampfthema beschert haben. Bei den Wahlen 2004 und auch 2009 dürfte die Erinnerung an Gujarat die BJP empfindlich Stimmen gekostet haben. Bei Modis Nominierung zum Spitzenkandidaten im vergangenen Jahr hätte eigentlich ein Aufschrei durch Indien gehen müssen. Allein, er blieb aus. Modis Gegner haben verkannt, auf welch verhängnisvolle Weise sich in Indien nicht zuletzt aufgrund ihrer eigenen Politik ein Zynismus unter den Menschen ausgebreitet hat, denen das Schicksal von Minderheiten längst gleichgültig ist. Der böse Geist ist aus der Flasche. Gleich, ob Neofaschisten oder andere Mörderbanden: Hauptsache, die Rupie rollt.

* Jörg Tiedjen ist Redakteur der Zeitschrift Inamo.

Aus: junge welt, Freitag 16. Mai 2014



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