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Für Indiens Linke wird es schwer

Querelen in der angekündigten "Föderalen Front" *

Elf regionale und linke Parteien hatten die Bildung einer »Föderalen Front« verkündet, um der Herrschaft der Kongresspartei ein Ende setzen und zu verhindern, dass die BJP an die Macht kommt.

In den letzten Wochen war es still geworden um die angekündigte »Föderale Front«. Die elf Partner haben weder eine Allianz gebildet noch ein gemeinsames Programm verabschiedet. Das nehmen sie sich erst für den Fall eines für sie günstigen Wahlausgangs vor.

Derzeit bietet das potenzielle Bündnis ein konfuses Bild. Selbst unter den vier linken Parteien besteht keine Einigkeit. Die Revolutionäre Sozialistische Partei scherte aus dem Wahlbündnis im Unionsstaat Kerala aus. In Tamil Nadu kündigte die Regionalpartei AIADMK ein Arrangement mit den Linken. In Westbengalen wechselten Kader der Linksfront die Pferde und ziehen jetzt für den dort regierenden Trinamool Congress in die Wahl. Diese Querelen sind Wasser auf die Mühlen jener, die die »Föderale Front« von Anfang an als »Totgeburt« diffamierten.

Die KPI (Marxistisch) hält trotzdem an einer alternativen Front fest. Das machte Generalsekretär Prakash Karat deutlich. Die von der Kongresspartei geführte Vereinte Progressive Allianz müsse abgewählt werden und die BJP, deren Ideologie auf Spaltung der Gesellschaft ziele, dürfe nicht an die Macht kommen, sagte er. Als erste indische Partei spricht sich die KPI (M) für die Entkriminalisierung der Homosexualität aus. Sie fordert, die Todesstrafe und die Sondervollmachten für die Streitkräfte abzuschaffen.

Als Maßnahmen gegen den Preisauftrieb empfahl Prakash Karat, die Preise für Treibstoff und Erdölprodukte wieder staatlich zu regulieren, Steuern und Zölle darauf zu senken. Er forderte ein Verbot der Spekulation mit Agrarerzeugnissen, mehr Investitionen in die Landwirtschaft, eine höhere Besteuerung der Reichen und der Konzernprofite und mehr Steuern auf Luxusgüter. Ein neues Gesetz zur Nahrungssicherheit müsse ein staatliches Verteilungssystem vorsehen, das jedem Bedürftigen sieben Kilo Getreide pro Monat zum Subventionspreis von zwei Rupien garantiert. Die großbürgerliche Zeitung »The Times of India« nannte das alles »Luftschlösser« und empfahl der KPI (M), sich die Sozialdemokraten in Westeuropa oder das heutige China zum Vorbild zu nehmen.

Die indischen Linken verlieren seit mehr als einem Jahrzehnt an Einfluss. Von 1996 bis 1998 stellte die KPI noch den Innenminister und den Agrarminister Indiens. Westbengalens Chefminister Jyoti Basu, KPI (M), stand kurz vor seiner Wahl zum Premier. 2004 waren die Marxisten mit 44 Abgeordneten im Parlament vertreten, jetzt stellen sie nur noch 16 von 24 linken Volksvertretern bei insgesamt 543 Abgeordneten. Sie hoffen nun, wenigstens in den traditionellen Hochburgen Tripura, Westbengalen und Kerala respektabel abzuschneiden.

Hilmar König

* Aus: neues deutschland, Montag, 7. April 2014


Kein Votum mit NOTA

Die 16. Parlamentswahlen in Indien werden sich über einen Zeitraum von fünf Wochen hinziehen, vom 7. April bis zum 12. Mai. Am 16. Mai werden die Stimmen ausgezählt. Bis zum 31. Mai muss sich das Unterhaus für das gesamtindische Parlament, die Lok Sabha, konstituiert haben.

814 Millionen Wahlberechtigte, mehr als die Gesamtbevölkerung Europas, geben aus logistischen und Sicherheitsgründen gestaffelt an insgesamt neun Tagen ihre Stimme ab. Es sind gegenüber 2009 bedeutend mehr Jungwähler. Dementsprechend wird auch die Zahl der Wahllokale um zwölf Prozent auf 930 000 steigen. Neu für die Wähler wird sein, dass sie auf dem elektronischen Wahlinstrument auch »NOTA« drücken können. Das bedeutet, dass sie für keinen der aufgeführten Kandidaten stimmen.

In kontrovers kommentierten Meinungsumfragen liegt die hindunationalistische Indische Volkspartei (BJP) weit vor der Kongresspartei, die in den vergangenen zehn Jahren mit einer Vereinten Progressiven Allianz das Land regierte. Ihr Spitzenmann Rahul Gandhi blieb insgesamt blass. BJP-Aushängeschild ist der agile Chefminister Gujarats, Narendra Modi. Er zog einen in Indien beispiellosen aggressiven, aber auch raffiniert und innovativ geführten Wahlkampf auf, in dem er sich als »Heilsbringer der Nation« präsentierte.

Erstmals tritt die Aam Aadmi Party (AAP – Partei des kleinen Mannes) landesweit an. Sie schnitt im November vorigen Jahres bereits bei Wahlen in Delhi hervorragend ab und stellte für einen Zeitraum von 49 Tagen sogar die Regierung unter Chefminister Arvind Kejriwal. Die AAP ging aus der Antikorruptionsbewegung hervor und attackiert BJP und Kongresspartei gleichermaßen.

Die Wahlen finden zu einem Zeitpunkt statt, da Indiens Wirtschaftswachstum bereits das zweite Jahr knapp unter fünf Prozent liegt. Mit Blick auf einen Regierungswechsel und in der Hoffnung auf eine »starke Hand« hat sich das Auslandskapital in den letzten Wochen auffällig engagiert. Die zuvor taumelnde Rupie verzeichnete dadurch einen deutlichen Wertzuwachs. Hilkon




Wird Sheetal wählen?

Das Schicksal der 20-jährigen Behinderten aus Rajasthan steht für viele Probleme des Riesenlandes

Von Hilmar König, Delhi **


Sheetal gehört zu den 23 Millionen Erstwählern, die ab Montag ihre Stimme für ein neues indisches Parlament abgeben können.

Kinderheirat. Kinderarbeit. Gewaltopfer. Mordversuch. Vertrieben. Bestechungsversuch. Verstoßen. Ohne Einkommen. Das alles hat Sheetal bereits durchgemacht. Die 20-Jährige lebt in einem Dorf im Innern Rajasthans. Das liegt auf halbem Wege zwischen den Städten Chittorgarh und Udaipur. Sie hat seit September vorigen Jahres keine Beine mehr. Nein, es war kein Unfall, sondern ein doppeltes Verbrechen. Sheetal war von einem Arbeitskollegen und dessen zwei Freunden gefesselt, geknebelt, entführt und an einem Bahndamm vergewaltigt worden. Danach warfen die Täter sie – in eindeutiger Mordabsicht – vor den Express Udaipur-Delhi. Sie überlebte. Aber ihr mussten beide Beine bis über die Knie amputiert werden. Seitdem sitzt sie im Rollstuhl, gibt sich tapfer und hofft, bald Prothesen zu bekommen.

Als sie noch im Krankenhaus lag, schickte das Verbrechertrio einen Kurier, der ihr 400 000 indische Rupien (etwa 4800 Euro) »Schweigegeld« anbot. Sie sollte keine Anzeige bei der Polizei erstatten. Sheetal gehört der sozialen Gruppe der Dalits an, die im hinduistischen Kastengefüge ganz weit unten stehen und in manchen Landesteilen noch als Unberührbare diskriminiert werden.

Die Täter stammen aus einer der höchsten Kasten und verfügen als Großgrundbesitzer oder Dorfvorsteher über Geld und Einfluss. Nachdem die junge Frau und ihre Mutter, beide ohne Einkommen, das Ansinnen empört abgewiesen hatten, folgten Drohungen: »Wir machen euch fertig. Ihr werdet im Dorf keine ruhige Minute mehr haben.«

Die verängstigte Familie sah sich zur Flucht zu Verwandten gezwungen, die ohnehin schon in sehr beengten Verhältnissen in einer Großfamilie leben. Der Onkel sammelte in seinem Dorf Geld, damit die 30 000 Rupien (360 Euro) für die Blutkonserven, die Sheetal im Hospital in Udaipur am Leben erhielten, bezahlt werden konnten.

Viermal waren Mutter und Tochter inzwischen zur Gerichtsverhandlung in Chittorgarh. Sie haben durch ihren Anwalt erfahren, dass der Richter von den drei Tätern bereits mit 800 000 Rupien (9600 Euro) bestochen worden sein soll. Einer von ihnen befindet sich gegen Kaution auf freiem Fuß. Der Richter argumentierte, es könne sich ja auch um einen Selbstmordversuch Sheetals gehandelt haben. Die junge Frau hat mit Hilfe einer Nichtregierungsorganisation eine Invalidenrente beantragt, die maximal 500 Rupien (6 Euro) monatlich betragen würde.

Ob Sheetal wählen wird, lässt sie noch offen. Sie traut keiner der politischen Parteien. Immerhin besteht jetzt erstmals die Möglichkeit, mit »NOTA« zu stimmen, also keinen der Kandidaten zu wählen. Sheetal hat das Unrecht in der indischen Gesellschaft vielfach zu spüren bekommen. Wen könnte sie dafür verantwortlich machen?

»Die Politiker versprechen nur«, sagt sie. »Ein Minister wollte sich persönlich um meine Belange kümmern, als ich verzweifelt und hilflos im Krankenhaus lag und nicht wusste, wie es weitergehen sollte. Ich habe nie wieder etwas von ihm gehört. Sie alle halten schöne Reden und beschuldigen sich gegenseitig. Für mich zählt nicht die große Politik, sondern das, was mich unmittelbar betrifft: eine Toilette für Behinderte, ein eigenes Zuhause, drei Mahlzeiten am Tag, eine bezahlte Beschäftigung. Das ist in meinem jetzigen Zustand nahezu ausgeschlossen. Aber wenigstens einen Job für meine Mutter, die 45 ist und als Landarbeiterin zupacken gelernt hat. Ja, und Gleichberechtigung wünsche ich mir – für die Frauen, die Dalits und alle anderen Benachteiligten und für die Behinderten. Wir brüsten uns, die größte Demokratie der Welt zu sein. Und dann geschieht mir so etwas!«

Geschehen ist in ihrem noch jungen Leben vor dieser Gewalttat schon vieles, was in Indien nicht unbedingt als außergewöhnlich gilt: Mit elf Jahren wurde sie verheiratet. Mit 13 zog sie zur Familie ihres Mannes, der nur ein Jahr älter war als sie. Die Schule besuchte sie nur bis zur 5. Klasse. Mit 16 ging sie arbeiten auf den Bau, Ziegelsteine schleppen und Mörtel, in einem Korb auf dem Kopf balancierend, über eine Leiter hoch aufs Gerüst bringen.

Vor zwei Jahren starb ihr Vater. Ihr Mann warf sie aus dem Haus, möglicherweise weil sie noch kein Kind geboren hatte. Sie will darüber nicht reden. Sie kehrte zu ihrer Mutter zurück. Der Bruder geht in Udaipur zur Schule. Um die Ausgaben irgendwie zu bewältigen, verpfändete die Mutter allen Schmuck. Sie bezweifelt, dass sie ihn je wieder einlösen kann.

Trotz all der Schwierigkeiten will sich Sheetal nicht unterkriegen lassen. »Wenn Gott nicht noch etwas mit mir vorhätte, dann hätte er mich nicht überleben lassen. Irgendwie muss es weitergehen«, versucht sie zuversichtlich zu sein: »Ich muss mein Leben von vorn anfangen. Wenn ich die Prothesen habe und wieder laufen kann, werde ich eine Schule besuchen, mindestens bis zur 10. Klasse. Damit hätte ich dann bessere Aussichten auf eine Anstellung. Ich will ja nicht betteln müssen. Vom Wahlergebnis hängt mein Lebensweg jedenfalls nicht ab.«

** Aus: neues deutschland, Montag, 7. April 2014


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