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Zwischen Boom und Elend

Deutschlandvisite von Narendra Modi anlässlich der Hannover-Messe. Der indische Ministerpräsident wirbt für Investitionen in der aufsteigenden südasiatischen Ökonomie

Von Jörg Kronauer *

»Make in India«, »Mach’s in Indien«: Mit diesem Slogan wirbt die indische Regierung auf der diesjährigen Hannover-Messe um ausländische Investoren. Ministerpräsident Narendra Modi, der seit einem knappen Jahr regiert, hat das Ziel zur Chefsache gemacht, die Industrieproduktion des Landes von dürftigen 16 auf 25 Prozent seiner Wirtschaftsleistung zu steigern. Jetzt ist er, diverse Minister und gut 130 Manager im Schlepptau, nach Deutschland gereist, um persönlich an der Eröffnung der weltgrößten Industriemesse teilzunehmen, deren diesjähriges Partnerland Indien ist. »Indien will Teil der weltweiten Lieferkette werden« – so hat ein Wirtschaftsstaatssekretär jüngst das Ziel umschrieben, die Industrialisierung des Landes voranzutreiben, und weil Neu-Delhi dabei auch auf deutsche Investitionen hofft, sollte Modi am gestrigen Montag nachmittag auch noch die Siemens Technik Akademie in Berlin besuchen und Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel zu intensiven Gesprächen treffen. Nach einer Phase der ökonomischen Schwäche rechnet Indien im aktuellen Haushaltsjahr mit einem Wirtschaftswachstum von 7,5 Prozent; außerdem hat Modi unternehmerfreundliche Reformen eingeleitet, die die Börsenkurse zuletzt beträchtlich nach oben schnellen ließen. Das macht die Lage für expansionswillige deutsche Firmen durchaus interessant. Bislang war das Verhältnis der deutschen Industrie zu Indien durchaus zwiespältig. Einerseits hat das riesige Land prinzipiell ein gewaltiges ökonomisches Potential. Die gut 1,2 Milliarden Einwohner könne man als »1,2 Milliarden Kunden« betrachten, äußerte im Februar 2013 der Pressereferent der deutschen Botschaft in Neu-Delhi. Dort, wo Indiens Stärken liegen, lassen sich in der Tat lukrative Geschäfte machen. Für den deutschen Softwareentwickler SAP zum Beispiel ist das Land, in dem die Löhne geringer sind als in China, inzwischen der zweitgrößte Standort überhaupt. SAP stellt in Indien nicht nur Software her, der Konzern findet dort auch immer mehr Käufer für seine Produkte. Allerdings haben die Verkehrsinfrastruktur des Landes und seine Stromversorgung einen ebenso miserablen Ruf wie seine Bürokratie, und die grassierende Armut frisst – aus der Perspektive kalt kalkulierender Unternehmer betrachtet – fast zwei Drittel der potentiellen 1,2 Milliarden Kunden weg: 730 Millionen Menschen, rund 60 Prozent der Bevölkerung, müssen mit weniger als zwei US-Dollar am Tag auskommen, 300 Millionen haben sogar weniger als 1,25 US-Dollar am Tag zur Verfügung; als Käufer deutscher Waren fallen sie damit weitgehend aus.

Diesen Umständen entsprechend kommen die deutsch-indischen Wirtschaftsbeziehungen schon seit Jahren nur schleppend voran. Besonders deutlich zeigt sich das am Vergleich mit China, dem zweiten asiatischen Riesenland, das häufig in einem Atemzug mit Indien genannt wird. Die deutschen Exporte in das gewaltig boomende China sind in den vergangenen 15 Jahren beispiellos gestiegen – von 12,1 Milliarden Euro im Jahr 2001 über 34,1 Milliarden Euro 2008 auf schließlich 74,5 Milliarden Euro 2014. Die deutschen Ausfuhren nach Indien hingegen lagen 2001 bei nur 2,3 Milliarden Euro. Größere Anstrengungen mit Reisen von Bundeskanzler Gerhard Schröder, diverser Bundesminister und einiger Länder-Ministerpräsidenten in den Jahren 2004 und 2005 konnten die Ausfuhren immerhin auf 6,4 Milliarden Euro im Jahr 2006 heben. Bis 2011 nahmen die Exporte dann auf 10,9 Milliarden Euro zu, um anschließend wieder zu schrumpfen; 2014 kamen sie über 8,9 Milliarden Euro nicht hinaus. Damit lag Indien aus deutscher Perspektive noch hinter Rumänien und der Slowakei. Bei den Investitionen sieht es ähnlich aus: Während deutsche Firmen laut Angaben der Bundesbank bis 2012 fast 50 Milliarden Euro unmittelbar oder mittelbar in China inklusive Hongkong investiert hatten, waren es in Indien nicht einmal zehn Millionen.

Ginge es bei den deutsch-indischen Wirtschaftsbeziehungen nur um’s Geschäft, dann wäre das Ausbleiben durchschlagender Erfolge aus Berliner Sicht wohl bedauerlich, aber nicht dramatisch. Doch es geht um mehr. Gelänge es, in Indien einen Durchbruch zu erzielen, dann ließe sich die spürbare Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von China schrittweise reduzieren. Prinzipiell besitzt das Land die dazu erforderliche Größe. Hinzu käme: Ein starkes Neu-Delhi wäre dem Westen als Gegengewicht gegen Beijings ungebrochen wachsenden Einfluss sehr willkommen – jedenfalls dann, wenn es zugleich enge Beziehungen zu EU und USA unterhielte. Nichts davon ist jedoch der Fall. Indien ist ökonomisch nicht stark, jedenfalls längst nicht so, wie es sein könnte. Und ob es sich an der Seite des Westens gegen China in Stellung bringen lässt, ist alles andere als gewiss. Die Volksrepublik ist Indiens größter Handelspartner und hat dem Land für die nächsten fünf Jahre Investitionen in Höhe von 20 Milliarden US-Dollar in Aussicht gestellt – deutlich mehr, als deutsche Unternehmen bislang investiert haben. Neu-Delhi kooperiert im Rahmen des BRICS-Zusammenschlusses nicht nur mit China, sondern auch mit Russland; es weigert sich, sich den Sanktionen von USA und EU gegen Moskau anzuschließen. Noch mehr: Es beteiligt sich am Aufbau der BRICS-Entwicklungsbank, die in Konkurrenz zur westlich dominierten Weltbank stehen wird. Von solider Verankerung an der Seite des Westens kann keine Rede sein.

Also wird im Westen kräftig getrommelt. US-Präsident Barack Obama hat Ende Januar Neu-Delhi besucht und angekündigt, die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen stark auszuweiten. Ende letzter Woche ist Modi in Paris gewesen, wo Staatspräsident François Hollande mit ihm nicht zuletzt über mögliche Investitionen in Indien sprach. Am Sonntag ist der indische Ministerpräsident nun nach Hannover und am Montag nach Berlin weitergereist, wo er Bundeskanzlerin Angela Merkel traf. Im Inland hat er zuletzt den Verkauf von Land an Konzerne erleichtert, die Senkung der Unternehmenssteuern in Aussicht gestellt und die Umweltauflagen für die Industrie gelockert, was ihm Lob in deutschen Wirtschaftskreisen eingebracht hat. Ob das genügt, deutsche Firmen auch wirklich zu Investitionen in Indien zu bewegen, steht allerdings in den Sternen.

Hintergrund: Deutsch-indische Rüstungsdeals **

Am vergangenen Freitag hat die Bundesrepublik wohl einen Großauftrag aus Indien endgültig verloren. Dabei ging es um Kriegsgerät – um den Eurofighter. Jahrelang war das Kampfflugzeug, an dessen Produktion die deutsche Rüstungsindustrie beteiligt ist, ein zuverlässig heißes Thema bei deutsch-indischen Zusammenkünften. Indien will schon seit Jahren 126 neue Kampfflugzeuge beschaffen. Lange galt es als ausgemacht, dass es Eurofighter kaufen würde, für einen Preis von insgesamt zwölf Milliarden Euro. Anfang 2012 teilte Neu-Delhi jedoch mit, es habe sich für die französische Konkurrenz entschieden und werde die etwas kostengünstigere Rafale erwerben. Die Deutschen schäumten, der Spiegel ätzte arrogant: »Indien kauft lieber Billigflieger.« Die Verhandlungen mit dem Rafale-Produzenten Dassault zogen sich jedoch in die Länge. Als letztes Jahr klar wurde, dass der französische Flieger viel teurer würde als gedacht und dass Paris den von Neu-Delhi gewünschten Technologietransfer zu blockieren suchte, da schien die Sache plötzlich wieder offen. Doch Modi hat am Freitag in Paris mitgeteilt, sein Land werde 36 Rafale ohne Technologietransfer kaufen und über die Modalitäten für die Lieferung der 90 verbleibenden Flieger weiter verhandeln. Berlin schaut wohl in die Röhre.

Das ändert nichts daran, dass Deutschland zu den bedeutenden Rüstungslieferanten Indiens zählt. Schon lange geht deutsche Militärausrüstung im Wert von durchschnittlich um die 100 Millionen Euro pro Jahr in das südasiatische Land – Feuerleiteinrichtungen, Panzerteile, Torpedos, Gewehre und Maschinenpistolen; ein Schwerpunkt liegt beim Marinebedarf. Die indische Marine ist gegenwärtig dabei, ihre Stellung im Indischen Ozean zu stärken. Ihr Vormachtanspruch kollidiert damit, dass China seine Marine in wachsendem Maß auf den Schutz seiner Seehandelswege ausrichtet und dabei auch den Indischen Ozean in den Blick nimmt – was Indien klar missbilligt. In dem Konflikt, der sich da abzeichnet, stärkt die deutsche Rüstungsindustrie Chinas potentiellen Rivalen. Und auch wenn der Kampf »Eurofighter gegen Rafale« in Indien wohl für Deutschland verloren ist: Mit Dassault setzt sich immerhin eine Waffenschmiede aus dem Westen in dem südasiatischen Land fest. Die Alternative wären russische SU-30 gewesen. Dass die russische Variante nicht besonders hilfreich gewesen wäre, Indien gegen China in Stellung zu bringen, womit der Westen schon lange liebäugelt, liegt auf der Hand.
(jk)

** Aus: junge Welt, Dienstag, 14. April 2015


Profite über alles

Kein Freihandelsabkommen Indiens mit der EU in Sicht

Von Jörg Kronauer ***


In puncto Freihandel ist Indien für die EU ein harter Brocken. Bereits im Juni 2007 hatte Brüssel Verhandlungen mit Neu-Delhi über ein umfassendes Freihandelsabkommen aufgenommen. Die Gespräche zogen sich in die Länge, bis sie 2013 endgültig zum Stillstand kamen. Der Grund? Die indische Regierung war in einigen Punkten nicht bereit, Zugeständnisse an Europas Profitmaximierung zu machen. Das galt insbesondere für den sogenannten Schutz des geistigen Eigentums. Würde sich Indien auf die Forderungen von Konzernen aus der EU einlassen, dann könnten zum Beispiel Generika in dem Land nicht mehr in ausreichendem Maß produziert werden. Die medizinische Versorgung zahlloser Menschen, die sich teure Originalmedikamente aus Europa schlicht nicht leisten können, wäre nicht mehr möglich. Für Indien wäre das eine Katastrophe.

Anfang April hat nun der stellvertretende indische Handelsminister Rajeev Kher erklärt, Neu-Delhi sei bereit, die Verhandlungen über das Freihandelsabkommen mit der EU wieder aufzunehmen. Die EU habe ja informell wissen lassen, sie habe »Interesse« daran, die indische Regierung habe nichts dagegen. Allerdings solle sich Brüssel im klaren darüber sein, dass es auf »einige Vorbehalte« treffen werde, wenn es »ehrgeiziger« in die Gespräche gehe: »Wo ist der Punkt, an dem die EU genug hat?« fragte Kher. Aus indischer Sicht habe man 2013 den Punkt bereits erreicht, über den hinauszugehen Neu-Delhi nicht bereit sei. Jenseits der Generika-Thematik gehe es auch darum, dass Indien die Handelsschranken für die Einfuhr von Kraftfahrzeugen nicht so weit senken wolle, wie die EU es verlange – auf Druck vor allem der deutschen Autokonzerne. Und dass es auch nicht bereit sei, den Schutz seiner Landwirtschaft preiszugeben, die noch immer die wirtschaftliche Basis für große Teile der Bevölkerung ist. Bundeskanzlerin Merkel wolle in ihren Gesprächen mit Modi einen neuen »Impuls« für die Verhandlungen über das Freihandelsabkommen geben, heißt es. Man wird sehen müssen, was daraus wird.

*** Aus: junge Welt, Dienstag, 14. April 2015




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