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Reine Privatsache?

Indiens Regierung lehnt die Einführung eines Gesetzes ab, das Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe stellt

Von Hilmar König, Neu-Delhi *

Was im Ehebett passiert, geht niemanden etwas an. So die verbreitete Auffassung in Indien. Die Frage, ob Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt werden soll, ist durch eine schriftliche Erklärung der Regierung in Neu-Delhi mit aller Heftigkeit wieder auf die Tagesordnung zurückgekehrt. Darin lehnte Haribhai Parthibhai Chaudhary, Staatsminister für innere Angelegenheiten, am 29. April eine entsprechende gesetzliche Regelung als für die indische Gesellschaft »ungeeignet« ab.

Kanimozhi Karunanidhi, Abgeordnete einer tamilischen Regionalpartei, die im Oberhaus die Debatte angestoßen hatte, zeigte sich von der Erklärung enttäuscht und sagte, ein Gesetz würde die besondere Bedeutung der Ehe doch nur stärken, indem es den Frauen respektvolle Behandlung garantiere. Und Aruna Kashyap von der Abteilung Frauenrechte bei Human Rights Watch Indien meinte, es sei eine »Schande«, dass Regierungsbeamte mit Verweis auf die »Tradition« Männer verteidigen, die ihre Frauen sexuell attackieren.

Minister Chaudharys Nein zur Vergewaltigung in der Ehe als Straftatbestand ist bemerkenswert verquast formuliert: »Es wird davon ausgegangen, dass das Konzept von Vergewaltigung in der Ehe, wie es international verstanden wird, im indischen Kontext wegen verschiedener Faktoren inklusive Bildungsniveau, Analphabetismus, Armut, Myriaden sozialer Bräuche und Werte, religiöser Überzeugungen, der in der Gesellschaft herrschenden Auffassung, die Ehe als Sakrament zu behandeln, nicht angewandt werden kann.« Kurz gesagt: Männer sollen also weiter mit ihren Frauen tun dürfen, was sie wollen. Denn im indischen Strafrecht heißt es klipp und klar: »Der sexuelle Verkehr eines Mannes mit seiner eigenen Frau ist keine Vergewaltigung, sofern sie nicht jünger als 15 ist.«

In 52 Ländern macht sich ein Mann strafbar, wenn er seine Partnerin zum Sex zwingt. Nach Schätzung des UN-Bevölkerungsfonds sind rund 75 Prozent aller verheirateten Inderinnen dieser Form von Gewalt ausgeliefert. Millionen Mädchen, die schon als Minderjährige verheiratet werden, machen diese schlimme Erfahrung schon in ihrer Kindheit. Im Selbstverständnis der indischen Gesellschaft ist die Frau Eigentum des Mannes. Ehe heißt automatisch, dass die Frau, so oft es ihr Gatte wünscht, zum Geschlechtsverkehr bereit sein muss. 90 Prozent aller Vergewaltigungen, so glauben Frauenrechtlerinnen, werden im Schlafzimmer des Ehepaares und durch der Familie bekannte Personen begangen.

Dass die meisten Frauen schweigend leiden, hat viele Gründe: Sie sind zu Duldsamkeit und Anpassung erzogen worden. Meist sind sie mittellos und vollkommen abhängig von ihrem Mann und dessen Familie. Verlangen sie die Scheidung, verlieren sie meist auch das Recht, ihre Kinder weiter großzuziehen. Und viele, besonders auf dem Lande, glauben, das Verhalten des Partners sei normal, weil sie es nicht anders kennen. So sehen es laut einer Umfrage mehr als die Hälfte der Inderinnen auch als »gerecht« an, ab und an Prügel vom Gatten zu beziehen, wenn sie »etwas falsch gemacht haben«.

Die Gegner eines Gesetzes, darunter namhafte Juristen, führen altbekannte Argumente ins Feld. Sie warnen unter anderem, es könne von »rachsüchtigen« Ehefrauen missbraucht werden, um den Mann zu diffamieren. Es könnte ja gar nicht bewiesen werden, ob es gewaltsamer Sex war. Eine neue Regelung würde das gesamte Familiensystem gefährden, die Institution Ehe stehe auf dem Spiel. Außerdem gebe es doch schon ein Gesetz, das »Grausamkeit und häusliche Gewalt gegen Frauen« unter Strafe stellt. Allerdings erwähnt dieses den Tatbestand der Vergewaltigung in der Ehe ausdrücklich nicht.

Gegenüber der Zeitung The Hindu betonte Kanimozhi Karunanidhi, sie akzeptiere, dass viele ihrer Landsleute die Ehe für heilig halten. Gleichwohl sei es »nicht gegen unsere Kultur«, Frauen wirksam vor »Gewalt und Missbrauch« zu schützen.

* Aus: junge Welt, Freitag, 8. Mai 2015


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