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Terror in Assam

100.000 Menschen flüchteten nach Massaker und Vergeltung aus ihren Dörfern

Von Hilmar König, Neu-Delhi *

Über 100.000 Menschen im nordöstlichen indischen Bundesstaat Assam sind nach einem Massaker und anschließenden Vergeltungsaktionen aus ihren Heimatdörfern geflohen und haben Zuflucht in Notlagern gesucht. Der Flüchtlingsstrom hält noch an.

Es waren schreckliche »Festtage« für viele Angehörige der indigenen, meist christlichen Santhal-Gemeinschaft, die sich selbst auch als Adivasi bezeichnet. In drei Distrikten Assams wurden sie von Todeskommandos der verbotenen Nationalen Demokratischen Front von Bodoland massakriert. Der Sicherheitsapparat wurde überrascht, obwohl es aus Geheimdienstkreisen konkrete Warnungen gab. Offensichtlich wurden sie nicht ernst genommen. Das Blutbad vom 23. Dezember setzte einen Teufelskreis der Gewalt in Gang. Santhals übten Rache, töteten etliche Bodo-Siedler und zündeten deren Wohnstätten an. Insgesamt kamen bei den Auseinandersetzungen und durch das Eingreifen der Polizei über 80 Menschen, darunter Kleinkinder, ums Leben. Dem folgte eine Massenflucht beider ethnischer Gruppen.

Die örtliche Regierung verhängte den Ausnahmezustand über die betroffenen Distrikte. Indiens Armeechef General Dalbir Singh Suhag flog nach Assam und erörterte mit seinem Stab vor Ort die brisante Lage. Zuvor hatte er ein Treffen mit Innenminister Rajnath Singh, der ein verstärktes Vorgehen der Streitkräfte gegen die militante Bodo-Gruppe verlangte. General Suhag ließ die Armeepräsenz um 5.000 Mann erhöhen. Die Regierung in Neu-Delhi verlängerte das Verbot der Bodo-Front um weitere fünf Jahre.

Die Flüchtlinge fanden Aufnahme in weit mehr als 100 Notlagern in Assam wie auch im benachbarten Westbengalen. Etliche Adivasi-Gruppen riefen am Wochenende zu Proteststreiks auf, sperrten Straßen ab, warfen Steine und zündeten Fahrzeuge an.

Außenministerin Sushma Swaraj konsultierte die Regierung des Nachbarlandes Bhutan, an dessen Grenze sich die Bodo-Trupps angeblich in Sicherheit gebracht haben. Auch in Myanmar sollen sie Rückzugsgebiete haben. Mit beiden Ländern will Indien das Vorgehen gegen die Bodo-Front abstimmen und intensivieren. Innenminister Singh bekräftigte »Nulltoleranz« gegenüber den Unruhestiftern und unterstrich: »Das Massaker an unschuldigen Adivasi darf nicht als gewöhnliches militantes Vorkommnis bewertet werden. Es war ein Akt von Terror.«

Indiens Nordosten ist nach Kaschmir das zweite Pulverfass des Landes. Zu Zusammenstößen zwischen unterschiedlichen Gemeinschaften kommt es immer wieder nicht nur in Assam, wo es allein 20 ethnische und 50 Sprachgruppen gibt, sondern auch in Manipur, Nagaland und Meghalaya. Im Jahre 2012 wurden rund 400.000 in Assam siedelnde bengalische Muslime durch Bodo-Kommandos vertrieben.

Bodoland ist eine Region in Assam. Die Bewegung für Autonomie bzw. für ein separates Gebiet ist gespalten. Es existiert ein Territorialrat, in dem die Bodoland-Volkspartei den Ton angibt. Sie ist sogar Teil der Koalitionsregierung von Chefminister Tarun Gogoi. Andere überwiegend militante Fraktionen agieren auf eigene Faust, ohne ihre Ziele zu definieren.

In den betroffenen Distrikten herrscht eine Atmosphäre aus Angst, Verunsicherung, Verdächtigung und Hass. Kenner der Verhältnisse in Assam benennen als Ursache eine Mischung von sozialen und wirtschaftlichen Problemen, die allein mit Operationen der Streitkräfte nicht zu bewältigen sind. Dazu zählen der Kampf um Landbesitz und politische und ökonomische Machtausübung sowie die miserablen Lebensverhältnisse der Adivasi, die ihre Existenzgrundlage bedroht sehen. Die Lage wird durch den mangelnden Willen und das Unvermögen der Behörden und der Politiker verschärft, energische Maßnahmen zur Lösung der Konflikte zwischen den unterschiedlichen Gemeinschaften zu ergreifen. Deshalb muss man damit rechnen, dass das jüngste Massaker nicht das letzte war.

* Aus: junge Welt, Montag, 29. Dezember 2014


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