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Licht und Schatten

Indien steht am 65. Jahrestag der Republik vor einer Fülle von Aufgaben

Von Hilmar König, Neu-Delhi *

Indien begeht am 26. Januar den 65. Jahrestag der Republik. Traditionell findet auf dem Rajpath von Neu-Delhi, der breiten Verbindungsstraße zwischen dem Präsidentenpalast und dem India Gate, dem Wahrzeichen der Hauptstadt, ein Festumzug statt. Dessen Kernstück bildet eine Parade, die die militärische Schlagkraft zur Schau stellt. Ehrengast des Spektakels ist diesmal US-Präsident Barack Obama. Er trifft am Sonntag zum Staatsbesuch in Neu-Delhi ein.

Die größte Errungenschaft des Vielvölkerstaates ist zweifellos, dass in den 65 Jahren die 1,2 Milliarden Inder ihrem nationalen Motto »Einheit in der Vielfalt« treu blieben. Die multireligiös, ethnisch und sprachlich so heterogene Bevölkerung des Landes ließ sich trotz wiederholter Provokationen nicht entzweien. Ob das jetzt unter dem Zepter der regierenden hindunationalistischen Indischen Volkspartei (BJP) und ihren hyperaktiven, immer dreister auftretenden »Randgruppen« auch gelingt, bleibt abzuwarten. Sie propagieren jedenfalls die Ansicht der Fundamentalisten, alle Inder seien Hindus und deshalb müsse die Gesellschaft in ein »Hindu-Reich« transformiert werden. Sie verherrlichen den Mörder Mahatma Gandhis, Nathuram Godse. Am 30. Januar wollen sie dem Hindufanatiker und Verbrecher in verschiedenen Städten Denkmäler errichten.

Vorzeigbar in der Bilanz ist das öffentliche Verteilungssystem für das Millionenheer der Bedürftigen, die auf diesem Wege zu stark verbilligten Preisen wenigstens minimal mit Grundnahrungsmitteln versorgt werden. Auf der Habenseite finden sich auch die Selbstversorgung Indiens mit Getreide sowie das Beschäftigungsprogramm, das Familien im ländlichen Raum für 100 Tage im Jahr ein Mindesteinkommen sichert. Die international Aufsehen erregenden Errungenschaften sind hingegen die Kosmosforschung und der Raketenbau. Er ermöglichte, dass seit Ende September 2014 eine indische Sonde den Mars umkreist.

Die Liste der ungelösten Probleme erscheint endlos lang. Sie reicht von der immer noch hohen Selbstmordrate hochverschuldeter Bauern über unzureichende gesundheitliche Betreuung, hohe Mütter- und Säuglingssterblichkeit bis zu Massenarmut und Massenarbeitslosigkeit. Premier Narendra Modi, seit Mai 2014 im Amt, will durch Forcierung des kapitalistischen Kurses zehn Millionen Arbeitsplätze pro Jahr schaffen lassen. Er hat dazu auch das Projekt »Make in India« initiiert, für das seine Minister auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos vehement werben werden. Das Auslandskapital soll in Indien investieren und produzieren.

Über die Hälfte der Bevölkerung verrichtet ihre Notdurft aus Mangel an Toiletten noch im Freien. Modi will das Problem bis 2019 gelöst haben. Er hat das lobenswerte Projekt »Sauberes Indien« ins Leben gerufen. Doch in den meisten Städten gibt es keine mechanisierte Müllentsorgung und keine funktionierende Kanalisation. Die Abwasser aus Industrie und Haushalten gelangen meistens unbehandelt in Flüsse und Gewässer. Auf konkrete Schritte dazu wartet die Öffentlichkeit freilich noch. Ein anderes ambitiöses Vorhaben ist, allen Indern bis 2022 eine Behausung zu geben. Das würde bedeuten, allein 20 Millionen Wohnungen für Slumbewohner zu bauen.

Schwache Infrastruktur, ungenügende Versorgung mit Energie und Wasser, Elendsviertel in allen Städten, die anhaltend hohe Gewalt gegen Mädchen und Frauen, Bildungsdefizit – die Modi-Regierung steht vor schier riesigen Aufgaben. Sie will sie, so jedenfalls ihre teils utopisch klingenden Versprechungen, mit Elan anpacken. Der niedrige Ölpreis bescherte ihr dafür einen Traumstart. Er bremste die Inflation.

Modi hat eine Reihe von Verwaltungsmaßnahmen angeordnet, Gesetzentwürfe der Vorgängerregierung modifiziert, Arbeitsreformen anvisiert, die auf starken Widerstand der Gewerkschaften, auch der BJP-eigenen, und der Oppositionsparteien stoßen. Er hat stärkere Auslandsinvestitionen in die staatliche Eisenbahn, ins Versicherungswesen und in den Rüstungssektor genehmigt. Er hat die staatliche Plankommission durch ein Gremium ersetzt, das die »freie« Marktwirtschaft fördern soll.

* Aus: junge Welt, Samstag, 24. Januar 2015


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