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Neuer Anlauf in Delhi

Indische Regierung will Einzelhandelssektor für ausländische Konzerne öffnen. Gegner befürchten ökonomisches Desaster und formieren sich

Von Thomas Berger *

Mamata Banerjee hat der Zentralregierung ein Ultimatum gestellt: 72 Stunden gab sie am Sonntag Indiens Premierminister Manmohan Singh, eine Kabinetts¬entscheidung zur Öffnung des Einzelhandelssektors zurückzunehmen. Die Chefministerin des Unionsstaates Westbengalen gehört zu den einflußreichsten Politikern Indiens. Komme der Premier der Forderung nicht nach, werde sich ihre Partei Trinamool Congress (TMC), eine frühere Abspaltung der die Regierungskoalition anführenden Kongreßpartei (INC), aus der Allianz zurückziehen. Dies ist keine leere Drohung. Der TMC ist einer der Schlüsselverbündeten des INC und keinesfalls der einzige Partner, der mit dem gegenwärtigen Regierungskurs unzufrieden ist.

Kongreßpartei und Premier, ohnehin im Stimmungstief, sind in den zurückliegenden Tagen abermals verstärkt auf neoliberalen Kurs in der Wirtschaftspolitik gegangen. Das hat landesweit für Verärgerung gesorgt. So kam es in einigen großen Städten und auch in ländlichen Regionen zu wütenden Protesten gegen die Erhöhung der Treibstoffkosten. Die Regierung hatte den subventionierte Preis für Diesel um 14 Prozent angehoben.

Zugleich gingen Menschen auf die Straße, weil sie befürchten, daß der indische Einzelhandelsmarkt nun vollends für die mächtigen Konzerne wie WalMart, Tepco & Co. geöffnet wird. Genau dies wäre die Folge, sollte den Giganten nach der Kabinettsorder künftig erlaubt sein, bis zu 51 Prozent der Anteile an Joint-Ventures in der Branche zu halten.

»Attackiert nicht die Existenzgrundlage der Kleinhändler«, rief die um zugespitzte Rhetorik nie verlegene Mamata Banerjee in Kolkata (Kalkutta) Richtung Neu Delhi. Diesmal übertreibt die Chefministerin allerdings nicht – und ist sich dabei im Kern sogar mit ihren größten politischen Gegnern, der kommunistisch geführten Linksfront, einig.

Bereits im vergangenen November hatte die Zentralregierung einen ersten Vorstoß in dieser Richtung unternommen (jW berichtete). Nach heftigen Straßenprotesten und unter dem Druck mehrerer Bündnispartner mußte Neu Delhi zurückrudern. Schon damals stand der TMC mit an der Spitze des Widerstandse gegen die Liberalisierungspläne. Was den Premier und seine zuständigen Minister bewogen hat, das umstrittene Gesetz jetzt quasi unverändert erneut einzubringen, ist unklar. Den Strategen in der Machtzentrale hätte spätestens seit den Erfahrungen vor zehn Monaten klar sein müssen, wie die Resonanz ausfallen wird – es hagelt heftige Kritik von allen Seiten. Im Widerstand gegen das Regierungsprojekt sind sich Linke und die Hindunationalisten der größten Oppositionspartei BJP schon in der Wortwahl so einig wie selten.

Selbst diese Frontbildung könnte Singh und den INC noch kalt lassen, stünden nicht auch innerhalb der regierenden Vereinten Progressiven Allianz (UPA) die Zeichen auf Konflikt. Zwar artikulieren nicht alle ihrem Unmut so offen wie die westbengalische Chefministerin. Aber es gibt Vorbehalte in der Koalition, und nicht alle Partner scheinen mitzuziehen. Auch Parteien, auf die die Regierung ohne Koalitionsanbindung bei vielen Abstimmungen im Parlament meist zählen kann, verweigern die Gefolgschaft. Im bevölkerungsreichsten Unionsstaat Uttar Pradesh erklärte die dortige Regionaladministration von der sozialdemokratischen Samajwadi Party (SP) bereits, der Reform nicht hinnehmen zu wollen. Auch die Bahujan Samaj Party (BSP), wichtigste Interessenvertretung der Dalits, also der Bevölkerungsgruppe, die am untersten Ende der sozialen Hierarchie im hinduistischen Kastenwesen stehen, wird sich Erwartungen zufolge ähnlich positionieren.

Alle eint die Sorge, daß Indien sich mit einer solchen Entscheidung mittelfristig ein Heer von Millionen neuer Arbeitsloser schaffen könnte. Sharad Yadav, Oppositionspolitiker der Partei Janata Dal (United), erinnerte daran, daß die Klein- und Kleinsthändler 90 Prozent des indischen Einzelhandels abwickeln. Sie trügen mit etwa 14 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei und beschäftigten sieben Prozent aller Arbeitskräfte.

Zwar würden mit dem Regierungsvorstoß nicht gleich morgen die Supermärkte wie Pilze aus dem Boden schießen – aber über eine gewisse Zeit wären viele Kleinhändler der organisierten und effektiven Billigkonkurrenz der Konzerne nicht gewachsen. Die vom Kabinett beabsichtigten Beschränkungen für die Handeslgiganten gelten den Kritikern nur als Kosmetik. So soll die neue Regelung nur für Großstädte ab einer Million Einwohner gelten. Die ausländischen Konzerne müßten umgerechnet mindestens 100 Millionen Dollar investieren. Außerdem sind sie verpflichtet, wenigstens 30 Prozent des Warenangebots aus indischer Produktion zu speisen. Zudem dürften einzelne Unionsstaaten sich der Reform entziehen. Bereits im November 2011 haben solche Einschränkungen die Proteste nicht mildern können. Auch derzeit gibt sich die Widerstandsfront unbeeindruckt.

Für Donnerstag haben die Oppositionsparteien einen koordinierten Aktionstag angekündigt. Momentan sieht es danach aus, daß sich daran auch einige Gruppen beteiligen, die eigentlich zum Regierungslager gehören. 2004 war der INC nach etlichen Jahren an die Macht zurückgekehrt, weil er anders als die BJP-geführte Vorgängerregierung mit ihrem Slogan »India Shining« (Strahlendes Indien) nicht die neue Mittelklasse, sondern die Millionen Armen in den Mittelpunkt gestellt hatte. Inzwischen werden die Regierenden als Partner des Big Busineß betrachtet.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 18. September 2012


Indien auf Crashkurs

Freie Fahrt für westliche Konzerne: Neoliberaler Schwenk der Regierung in Neu-Delhi entzweit regierendes Parteienbündnis **

Die jüngsten Beschlüsse der indischen Regierung zugunsten ausländischer Investoren (siehe jW vom Dienstag) haben das regierende Parteienbündnis zerstört. Mit dem Austritt des größten Partners Trinamool Congress (TNC) am Dienstag abend ist die Koalition zerbrochen, das Kabinett hat im Parlament keine eigene Mehrheit mehr. Vorgezogene Neuwahlen sind nicht mehr auszuschließen.

Aus Kreisen des die Regierungsallianz (Vereinte Progressive Allianz, UPA) anführenden Indischen Nationalkongresses (INC; Kongreßpartei) will die Nachrichtenagentur Reuters am Mittwoch erfahren haben, daß das Kabinett von Ministerpräsident Manmohan Singh den Kritikern des Kurses entgegenkommen könnte. Allerdings werde das keine Kehrtwende sein, solle die Parteiführung klargestellt haben. In jedem Fall würden ausländische Direkt¬investitionen von Konzernen wie Wal-Mart oder Carrefour in den Einzelhandel des Landes erlaubt werden, hieß es.

Dieser Teil des »Reformpaketes« bedrohe die gesamte Struktur des indischen Einzelhandels, warnten Gegner des Vorhabens. Der werde derzeit zu 90 Prozent von Klein- und Kleinstunternehmern betrieben, biete sieben Prozent der Beschäftigten des 1,2-Milliarden-Volkes Arbeit und Einkommen und generiere rund 14 Prozent der Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt, BIP), wie Oppositionspolitiker Sharad Yadav von der Partei Janata Dal (United) kürzlich mahnte. Bereits im November hatte das Singh-Kabinett einen Vorstoß in diese Richtung unternommen. Nach massiven landesweiten Protesten mußte die Zentralregierung damals kleinlaut zurückrudern.

Jetzt sieht es fast danach aus, als solle die sogenannte Liberalisierung um jeden Preis vorangetrieben werden. Dabei sind Singh und dessen Koalition durch den TNC-Austritt erheblich geschwächt, führen lediglich noch ein Minderheitskabinett.

»Die Regierung ist nicht in der Stimmung, nachzugeben, es könnte aber kosmetische Nachbesserungen geben«, zitierte Reuters am Mittwoch einen nicht näher benannten Parteichef. Allerdings betrifft dies nicht die Handelsliberalisierung, sondern die geplante Anhebung des staatlich suventionierten Preises für Dieselkraftstoff. Der sollte dem »Reformpaket« zufolge um 14 Prozent steigen – angeblich, um das steigende Haushaltsdefizit des Landes einzudämmen. Genau hier will Singh dem Vernehmen nach korrigieren und die Preissteigerung auf etwa vier bis fünf Rupien (rund sieben Euro-Cent) begrenzen. Die Dieselverteuerung würde besonders die ärmeren und ärmsten Teile der Bevölkerung treffen.

Der Regierungschef hofft nun dem Reuters-Bericht zufolge, daß zwei Parlamentsparteien, die nicht in der UPA eingebunden waren – aber gelegentlich mit ihr gestimmt hatten –, für die Verabschiedung der entsprechenden Gesetze gewonnen werden können. Ohne die abgesprungene TNC fehlen Premier Singh 18 Parlamentarier für die einfache Mehrheit. Allerdings sehen die Vertreter der beiden nun hofierten Parteien die Öffnung des Einzelhandels sowie der Luftfahrt für ausländische Direktinvestitionen skeptisch.

Die Regierungszeit endet offiziell Mitte 2014. Opposition und politische Beobachter halten es für unwahrscheinlich, daß sich ein Minderheitskabinett so lange wird halten können. Auch die Sorge der globalen Finanzmarktakteure ist groß, denn sie drängen schon lange auf die Öffnung des indischen Binnenmarktes. Nicht zuletzt angesichts der schleppenden Weltkonjunktur ist in ihren Augen die neoliberale Umgestaltung der je nach Berechnungsweise zweit- bzw. drittgrößten Volkswirtschaft Asiens dringend nötig. Als Mitglied der BRIC-Gruppe (Brasilien, Rußland, Indien, China) zählt das Land zu den am stärksten wachsenden, nicht dem Westen zuzuordnenden Wirtschaftsmächten.

** Aus: junge Welt, Donnerstag, 20. September 2012


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