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Was geschah in Westbengalen?

Linksfront-Regierung unter Beschuss

Von Manfred Uesseler *

Der Tod von 14 Menschen, die bei Zusammenstößen zwischen Polizei und Gegnern eines Industrieprojekts im westbengalischen Nandigram starben, beschäftigt die Führung der KP Indiens (Marxistisch) seit Wochen. Die Partei ist Kern der in Westbengalen regierenden Linksfront. Unser Autor Prof. Dr. habil. Manfred Uesseler war während der Vorfälle in Indien.

Seit mehr als 30 Jahren regieren in Westbengalen allein oder im Bündnis mit anderen progressiven Kräften Kommunisten. Der indische Unionsstaat hat mehr als 82 Millionen Einwohner. Zeitweilig mussten darüber hinaus rund 30 Millionen Flüchtlinge aus Bangladesch aufgenommen werden. Die Politik der gegenwärtigen Linksfrontregierung gilt vielerorts als beispielhaft – von der Landzuteilung für Landlose und Arme bis hin zur täglichen unentgeltlichen Milchzuteilung für bedürftige Kinder. Die Landwirtschaft ist durchaus ertragreich und effektiv, doch angesichts des Bevölkerungszuwachses bietet sie allein keine dauerhafte Perspektive. Auch anerkannte wissenschaftliche Leistungen und die Ansiedlung von High-tech- und Computerbetrieben reichen nicht aus. Also bemüht sich ein sorgender Landesvater, hier »Chief Minister« genannt, um Investoren. Neue Industrieprojekte müssen allerdings auf bisher landwirtschaftlich genutzten Boden gestellt werden. Und da beginnt das Problem. Trotz Entschädigung, die für indische Verhältnisse recht ordentlich ausfällt, leisten einige Bauern Widerstand gegen den Verkauf ihres Landes.

Noch Anfang März lobte Indiens Premier Manmohan Singh die Industrieansiedlungspolitik in Westbengalen und nannte den kommunistischen Chefminister Buddhadeb Bhattacharjee seinen Freund. Nach Verhandlungen mit dem Tata-Konzern soll in Singur beispielsweise ein Kleinwagenwerk errichtet werden, das 200 000 Autos im Jahr produzieren wird.

Aber natürlich gab und gibt es in Westbengalen immer wieder Versuche, die kommunistische Mehrheit zu brechen. Mamata Banerjee, Chefin der Partei Trinamool Congress, sieht darin sogar ihren Lebensinhalt. Ihre populistischen Reden werden immer verbissener. Gegen ein zweites großes Industrieprojekt, einen Chemiekomplex in Nandigram, hatte sich von Anfang an Widerstand geregt. Mamata Banerjee und andere Oppositionelle wiegelten die Bauern systematisch gegen das Projekt auf. Offensichtlich hatte Chefminister Buddhadeb Bhattacharjee im Erfolgsrausch auch etwas selbstgefällig agiert. Als protestierende Bauern Häuser in Brand setzten, Brücken und Kanäle zerstörten, wurde die Polizei eingesetzt, um für Ordnung zu sorgen. Steine flogen, Barrikaden wurden errichtet, Schüsse fielen – es gab 14 Tote und über 30 Verletzte, darunter mehr als ein Dutzend Polizisten.

Die Gegner der »roten Regierung« in Westbengalen hatten die Schuldfrage schnell geklärt: »Die Kommunisten lassen Menschen morden, um ihre Ziele durchzusetzen.« Auch Mamata Banerjee sah ihre Chance gekommen. Ihre Parteigänger forderten die Absetzung der Regierung. In der westbengalischen Hauptstadt Kolkata gingen zwei Busse der staatlichen Verkehrsbetriebe in Flammen auf. Ein Fanal, das den ganzen Staat erfassen sollte. Doch dazu kam es nicht.

Die Vorfälle mussten jede Regierung erschüttern, erst recht eine kommunistische. Analysen und Bemühungen um Aufklärung der Ereignisse folgten. Es stellte sich heraus, dass der Chefminister seine Regierungspartner vor dem Polizeieinsatz weder konsultiert noch informiert hatte. Folglich lehnten die auch jede Mitverantwortung ab und forderten größere Transparenz in der Koalition.

Der Generalsekretär der KPI (M), Prakash Karat, bedauerte den Schusswaffeneinsatz, wies jedoch gleichzeitig darauf hin, dass der »Widerstand« gegen das Chemieprojekt alles andere als »friedlich und demokratisch« war. Was die Medien weitgehend ignoriert hätten: Mitglieder und Sympathisanten der KPI (M) seien schon im Januar aus ihren Dörfern vertrieben worden, Häuser wurden in Brand gesetzt und geplündert, zwei Tote seien zu beklagen gewesen, schrieb Politbüromitglied Brinda Karat, die Frau des Generalsekretärs, in »The Hindu«. Dabei habe der Chefminister schon damals erklärt, es werde keine Chemiefabrik und folglich keine Bodenübernahme ohne Zustimmung der Bevölkerung geben. Damit hätten sich die Proteste eigentlich erübrigt.

Inzwischen meldete »The Hindu«, Buddhadeb Bhattacharjee habe das Projekt Nandigram aufgegeben, »weil die ortsansässige Bevölkerung dessen Notwendigkeit nicht versteht und es nicht will«. Man werde der Zentralregierung einen anderen Standort vorschlagen. Im Interesse der Schaffung neuer Arbeitsplätze sei die weitere Industrialisierung absolut notwendig, doch unter keinen Umständen wolle man dafür Blut vergießen. Nandigram sei ihm eine Lehre. »Aber ich appelliere auch an unsere Gegner, Unterstützer der Linken nicht anzugreifen.«

* Aus: Neues Deutschland, 10. April 2007


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