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Indiens halbe Demokratie

Ein beunruhigendes Landesporträt vor den anstehenden Parlamentswahlen

Von Mandakranta Sen, Kolkata (Kalkutta) *

Anläßlich der bevorstehenden Parlamentswahlen in Indien veröffentlichte die Tageszeitung "junge Welt" einen Exklusivbeitrag der in Kolkata (Kalkutta) lebenden Lyrikerin und Roman­autorin Mandakranta Sen. jW-Lesern, so heißt es im Vorspann zu dem Artikel, ist Mandakranta Sen u. a. bekannt durch ihren Vortrag auf der XIII. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz 2008, in dem sie die wichtigsten Strömungen der heutigen indischen Literatur vorstellte.´

Indien ist die größte Demokratie der Welt, mit einer Bevölkerung von mehr als einer Milliarde Menschen (laut Volkszählung von 2001 exakt 1027015247) und dem weltweit größten Wahlgang mit 671 Millionen Wahlberechtigten. Das sind die glorreichen Fakten, mit denen wir uns brüsten könnten, wenn unsere Realität nicht eine andere Sprache sprechen würde.

Zwar muß das Datum erst noch offiziell verkündet werden, aber so wie es im Moment aussieht, wird Indien im April oder Mai 2009 seine 17. allgemeinen Wahlen abhalten, in denen der 16. Premierminister seit der Unabhängigkeit bestimmt wird (eigentlich der 18., wenn wir berücksichtigen, daß Gulzarilal Nanda zweimal vorübergehend als Premierminister eingesprungen ist). Vielleicht wird Rahul Gandhi das Rennen machen, der bislang aussichtsreichste Kandidat der Indischen Kongreßpartei (Indian National Congress – INC). Aber auch das wurde noch nicht offiziell bestätigt, und nach anfänglich kursierenden Gerüchten ist in den Medien jetzt wieder die Rede von den altbekannten Kandidaten Manmohan Singh oder Sonia Gandhi. Den Wahlsieg könnte aber auch Lal Krishna Advani erringen, der ehemalige Parteipräsident, Innenminister, stellvertretende Premierminister und Hardliner der Indischen Volkspartei (Bharatiya Janata Party – BJP), oder Modi, der Messias des Massakers von Gujarat.[1] Sogar Mayawati Kumari, die oberste Chefin der Bahujan Samaj Party (BSP) aus Uttar Pradesh,[2] hat Erfolgschancen. Was immer die Zukunft für uns auch parat hält, Indiens Vergangenheit gibt uns keinen Anlaß, auf etwas Neues zu hoffen, das wirklich Veränderungen oder Verbesserungen bringen würde. Während der 62 Jahre seit der Unabhängigkeit wurde Indien in gut 55 Jahren entweder von der offen feudalistischen Kongreßpartei oder der streng fundamentalistischen Indischen Volkspartei regiert. Das ist die Art von Demokratie, mit der wir ständig abgespeist werden, egal ob unter Ram-Raj (Dynastie von Rama, dem epischen Helden und Leitbild der BJP) oder unter Nehru-Raj.[3]

Das einzig Neue nach über 30 Jahren ist der Umstand, daß die Parlamentswahl 2009 unter den Bedingungen neu festgelegter Wahlbezirke ausgetragen wird (mit Ausnahme der Bundesstaaten Arunachal Pradesh, Assam, Jharkhand, Manipur und Nagaland). Diese Veränderungen wurden von der Delimitation Commission of India [4] angeordnet. Einige der wesentlichen betreffen Wahlbezirke, die mit anderen zusammengelegt wurden, um die Unbeständigkeit in der Bevölkerungsentwicklung bezüglich verschiedener Wahlmandate zu beseitigen, und um die Reservierung von Mandaten zu verhindern. Sicherlich wird das die Wahltrends auf die eine oder andere Weise beeinflussen.

Aufstieg der Linken

Die letzten Wahlergebnisse von 2004 erfüllten uns mit Hoffnung. Die Linken eroberten aus eigener Kraft die bislang höchste Zahl von Parlamentssitzen, was sie in die Lage versetzte, die UPA-Regierung [5] daran zu hindern, entscheidende und gegen die Bevölkerung gerichtete Beschlüsse zu fassen. Tatsächlich waren es nur die linken Parteien, die sich mit Vehemenz gegen jeden Schritt, den die UPA-Zentralregierung gegen das Volk vornehmen wollte, gewehrt haben, seien es nun die weitere Privatisierung des Versicherungs- oder Bankenwesens und der Luftfahrt, Investitionen aus dem Pensionsfonds der staatlichen Angestellten in den offenen Aktienmarkt, Maßnahmen zur Erreichung sogenannter voller Konvertibilität der indischen Währung oder beabsichtigte Änderungen der indischen Arbeitsgesetze, um die Interessen der Fabrikbesitzer besser zu schützen. Die Linke hat hart darum gekämpft sicherzustellen, das kleine und mittlere Industriebetriebe und die Kleinbauern Indiens in den Genuß kontinuierlicher Finanzierungsprogramme der Regierung kommen. Gleichzeitig hat sie auch energisch gegen die Neigung der Zentralregierung protestiert, alle Subventionen im Landwirtschaftssektor nach und nach zurückzunehmen. Die Linke ist beileibe nicht aus allen Kämpfen siegreich hervorgegangen, denn Siege sind prinzipiell niemals leicht zu haben, erst recht nicht in einer vielschichtigen feudalen Gesellschaft wie der unseren. Was unsere Herzen aber höher schlagen läßt, ist die Tatsache, daß der beharrliche Kampf der Linken – sowohl gegen die Zentralregierung als auch in den einzelnen Bundesstaaten – ihnen auch zusätzlichen Rückhalt in Gebieten wie Rajasthan und Kaschmir eingebracht hat. Gegenwärtig sitzen in der Gesetzgebenden Versammlung von Rajasthan drei Parlamentarier von der Kommunistischen Partei Indiens/Marxisten (CPI/M) und im Parlament des Bundesstaates Jammu & Kaschmir ein weiterer, der zum zweiten Mal in Folge gewählt wurde. Im Unterhaus, dem zentralen Parlament, hielt diese Situation nicht lange an. Am 8. Juli 2008 zogen die linken Parteien ihre Unterstützung für die UPA-Regierung zurück, um gegen das Nuklearabkommen der UPA mit den USA zu protestieren.[6] Damit waren wir wieder am Ausgangspunkt angelangt.

Hält nun das Jahr 2009 irgend etwas Erfreuliches für uns, die indischen Linken, bereit? Die Antwort ist ein großes NEIN. Schauen wir uns an, warum. Die drei indischen Bundesstaaten Westbengalen, Kerala und Tripura gelten als Hochburgen der Linken. Von diesen dreien verfügt Tripura über zwei Parlamentssitze der CPI(M), die ihr wahrscheinlich erhalten bleiben. Kerala mit seinen 20 Parlamentssitzen wird derzeit Zeuge eines beispiellosen Grabenkampfes zwischen V. S. Achuthanandan, dem Ministerpräsidenten der von der CPI(M) angeführten Regierung der Linken Demokratischen Front, und Staatssekretär P. Vijayan, ebenfalls von der CPI(M), der die Partei viele Stimmen kosten dürfte. Ungeachtet dessen werden die Linken dort gewinnen, allerdings werden sie weniger Parlamentssitze erringen als bisher. Auch in Westbengalen sind die Aussichten der Linken nicht übermäßig günstig. Sicher wird die Linke Front mehr Sitze gewinnen als andere Parteienbündnisse, aber wenn die Kongreßpartei und Mamata Banerjees Oppositionspartei Trinamool Congress (TMC) vor der Wahl noch ein funktionales Bündnis eingehen, wird das wahrscheinlich das Wahlergebnis für die Linke Front schmälern.

Keine »dritte Front«

Es ist also nicht viel zu erwarten von den linken Parteien oder der schwer definierbaren Dritten Front, die uns von einem anderen Indien träumen lassen will, aber wenig Realitätsbezug hat. Sie ist zum Beispiel schon vor der Wahl eine Koalition mit der von Jaylalitha Jayaram geführten [tamilischen] Partei All-India Anna Dravida Munnetra Kazhagam (AIADMK) in Tamil Nadu eingegangen, wo die CPI(M) bei den Wahlen 2004 zwei Sitze gewann. Ich gebe zu, daß mir unklar ist, welche Ziele diese Koalition verfolgt. Wenn man einer Partei die Hand reicht, die von einer vollständig korrupten Person wie Jaylalitha angeführt wird, dann wendet man sich damit von seinen treuen Wählern ab, die engagiert, bewußt und gewissenhaft sind und sich verraten fühlen müssen, zumindest aber irritiert sind. In Andhra Pradesh, wo die CPI(M) über einen Parlamentssitz verfügt, tritt die Partei zusammen mit der von Chandra Babu angeführten Telugu Desam Party an, die auch eine ausgemachte Trägerin einer regionalistischen politischen Philsosphie ist. Selbst wenn eine linke Partei eine starke Basisorganisation mit einer spürbaren regionalen Verankerung haben sollte, muß sie dann aber nicht auf jeden Fall einen internationalistischen (oder zumindest auf die gesamte Nation bezogenen) Standpunkt vertreten? Auch wenn sich solche Verbindungen zeitweise als nutzbringend erweisen können, so haben sie in Indien doch auf lange Sicht immer wieder der Glaubwürdigkeit der Linken geschadet.

Aus diesem Grund müssen wir rückblickend feststellen, daß es keine Anzeichen für eine wie auch immer geartete Dritte Front gibt und wir definitiv die gleiche alte Leier zu hören bekommen werden. Die Zentralregierung wird aus einer Koalition verschiedener Parteien gebildet werden, die entweder von der INC oder der BJP geführt wird. Wenn wir uns die zu erwartenden Ergebnisse in den einzelnen Bundesstaaten ansehen, dann wird Uttar Pradesh mit seinen 80 Parlamentssitzen (das größte Regionalparlament der Indischen Union) eine ziemlich (wenn nicht die) bedeutende Rolle darin spielen, wie sich das Unterhaus und damit die Zentralregierung künftig zusammensetzen wird. Bei der letzten Parlamentswahl im Jahr 2007 konnte Mayawati Kumari, die selbsternannte Diva der Dalits, einen Erdrutschsieg davontragen. Sie verfügt mit ihrer skrupellos rachsüchtigen Machtpolitik gegenwärtig über eine extrem starke Position, und darum ist sie in keiner Weise daran interessiert, schon vor der Wahl irgendeine Koalition einzugehen. Aber es dürfte interessant sein zu sehen, mit wem sie sich nach der Wahl einlassen wird. Angesichts der Verhandlungen, die Mulayam Singh und ihre Samajwadi Party (SP) und die INC über eine mögliche Koalition führen, kann man sich vorstellen, daß Mayawati Kumarai eine der beiden Parteien favorisieren wird, um sich über diesen Weg mit dem höchsten Amt ehren zu lassen und die zweite Frau an der Spitze der Regierung und, noch wichtiger, die erste Dalit-Premierministerin Indiens zu werden. Wenn sie wirklich die Sache der unterdrückten Dalits dieses Landes vertreten würde, dann wäre das natürlich phantastisch. Was die BJP betrifft, so hat sie bereits ihren altgedienten Parteiführer Kalyan Singh verloren, der sich jetzt im Wahlkampf mit ganzer Kraft für die rivalisierende Samajwadi Party einsetzt. Trotzdem kann das nicht als klarer Vorteil von Frau Mulayam gesehen werden, weil die Muslime in Uttar Pradesh noch nicht vergessen haben dürften, daß Singh Ministerpräsident war, als Karsevaks [7] im Dezember 1992 Babri Masjid [8] zerstörten.

Gute Aussichten für die BJP

Im Bundesstaat Maharashtra wird bei diesen Wahlen ein Bündnis aus der Regionalpartei Shiv Sena (SS) und der Volkspartei (BJP) bevorzugt werden, vor allem vor dem Hintergrund des Terroranschlags in Mumbai. Die Kongreßpartei hat versucht, sich mit der Nationalist Congress Party (NCP) von Sharad Pawar zu verbinden, aber die Chemie stimmt offenkundig nicht mehr, seit sich Pawar mitten im Wahlkampf selbst als Kandidat für den Posten des Premierministers in den Vordergrund schob. Großartig! Eine andere berüchtigte Stimme, die im Bundesstaat Maharashtra erst kürzlich großen Lärm geschlagen hat, ist die neugegründete Partei Maharashtra Nava Nirman Sena, deren politisches Programm einzig darin besteht, Terror gegen indische Bürger auszuüben, die in Mumbai arbeiten, aber ursprünglich aus anderen Landesteilen stammen. Seltsamerweise war diese selbsternannte Bürgerwehr nirgendwo zu sehen, als Mumbai mit dem Schrecken der Anschläge des 26. November 2008 zu kämpfen hatte. Statt dessen war es die National Security Guard (NSG) allein, zusammengesetzt aus Kommandoeinheiten aus ganz Indien, die letztlich die Stadt rettete. Persönlich brenne ich darauf zu sehen, wie diese Partei am Ende bei den Wahlen abschneidet – ob sie für ihren Stolz auf Mumbai belohnt oder ob sie abgestraft wird, weil sie völlig charakterlos ist.

Im großen und ganzen wird ein gutes Abschneiden der BJP in all jenen Bundesstaaten erwartet, in denen sie bereits regiert, also in Madhya Pradesh, Chhattisgarh, Gujarat, Karnataka und auch in Bihar, wo die Janata Dal United Party (JDU), ein Bündnispartner der UPA, in festen Händen zu sein scheint. Auf Wählerstimmen bezogen wird die BJP im Stammesstaat Jharkhand wahrscheinlich bei dieser Wahl dem UPA-Bündnispartner Jharkhand Mukti Morcha (JMM) überlegen sein, weil die Bevölkerung bei den Nachwahlen zum Regionalparlament im Januar 2009 den früheren Ministerpräsidenten Shibu Soren von der JMM bereits abgelehnt hat. Dieser Bundesstaat ist schon jetzt der direkten Regierungsgewalt der Staatspräsidentin Pratibha Devisingh Patil unterstellt. Andererseits wird die Kongreßpartei in Bundesstaaten wie Rajasthan, Haryiana, Assam, Andhra Pradesh, Orissa und im Nationalterritorium der Hauptstadt Delhi wahrscheinlich mittelmäßige bis gute Wahlergebnisse einfahren. In Orissa regiert eine stabile Koalition aus BJP und Biju Janata Dal (BJD) mit einem populären Ministerpräsidenten an der Spitze, obwohl die erst kürzlich erfolgten gewaltsamen Übergriffe im Bezirk Kandhamal der Kongreßpartei einen guten Vorwand boten, die Repression dort zu verstärken. Die Kongreßpartei wird höchstwahrscheinlich sogar aus dem Bundesstaat Jammu & Kaschmir ein Mandat für das Oberhaus bekommen, denn ungeachtet des Aufrufs zum Wahlboykott seitens separatistischer Gruppierungen im Kaschmir-Tal hat sich in der Vergangenheit eine unerwartet große Zahl von Leuten an den Wahlen beteiligt (durchschnittlich rund 60 Prozent in sechs Wahlgängen) und der Jammu & Kashmir National Conference (NC), einem UPA-Bündnispartner, ihre Stimme gegeben. Ein solches Ergebnis lag, gelinde gesagt, jenseits realer Erwartungen.

Zankapfel Kaschmir

Jammu & Kaschmir war immer schon ein bösartiger Tumor im Kopf der Indischen Union, von den Briten genau zum Zeitpunkt der Erlangung der Unabhängigkeit dorthin gepflanzt und von den Erben Nehrus großgezogen. Indien hat mit seiner benachbarten Nation Pakistan bereits drei große Kriege geführt (ganz zu schweigen von zahlreichen kleineren Konfrontationen). Zwei dieser Kriege standen in direkter Verbindung mit der Frage der Kontrolle über Kaschmir. Während die INC scheinbar den Status quo bis in alle Ewigkeit aufrechterhalten möchte, läßt die BJP weiter ihre Muskeln spielen und erhebt Anspruch auf das Gebiet im Namen des Hindutva.[9] Politische Parteien wie die Jammu & Kashmir National Conference oder die People’s Democratic Front wollen, daß Kaschmir Teil der Indischen Union bleibt, egal ob mit oder ohne »Azad Jammu and Kashmir«[10] und die Federally Administered Northern Areas (FANA), die sich unmittelbar unter pakistanischer Verwaltung befinden. Radikal-islamische Gruppierungen wie Jaish-e-Mohammed, Hizbul-Mujahideen und Lashkar-e-Taiba kämpfen offen für eine pakistanische Herrschaft, während die Jammu & Kashmir Liberation Front (JKLF) unter der Führung von Yasin Malik und die All Parties Hurriyat Conference (APHC) es lieber sähen, wenn Kaschmir souverän und unabhängig wäre.

Was aber will die einfache Bevölkerung des Kaschmir-Tales, die seit zwei Jahrzehnten zwischen den von Pakistan unterstützten aufständischen Militanten und einem anmaßenden indischen Militär aufgerieben wird? Nach einer Erhebung des Meinungsforschungsinstituts Market & Opinion Research International (MORI) im Jahr 2002 in Kaschmir wünschen sich die Befragten Frieden, und mehr als 85 Prozent der Bevölkerung halten folgende Maßnahmen zur Erlangung des Friedens in der Region für sinnvoll: ökonomische Entwicklung, freie und faire Wahlen, direkte Verhandlungen zwischen der indischen Regierung und der Bevölkerung von Kaschmir, Beendigung der Gewalt und Beendigung des Überschreitens der Line of Control [11] durch militante Kräfte. Wohingegen laut einer 2007 vom Centre for the Study of Developing Societies, Neu Delhi, durchgeführten Umfrage 87 Prozent der Befragten im Kaschmir-Tal die Unabhängigkeit gegenüber einer Union entweder mit Indien oder Pakistan vorziehen würden. Wie schon weiter oben festgestellt, wird Jammu & Kaschmir bei den allgemeinen Wahlen 2009 zugunsten der regierenden UPA stimmen, was aber für seine Bevölkerung höchstwahrscheinlich keinerlei Unterschied bedeuten würde.

Seit 2004 war zwischen Indien und Pakistan ein Friedensprozeß im Gange, der nach den Anschlägen vom 26.11.2008 in Mumbai einen herben Rückschlag erlitt. In Pakistans junger Zivilregierung scheint alles völlig drunter und drüber zu gehen angesichts Indiens unverhohlener Beschuldigung Pakistans, direkt oder indirekt in die Anschläge verwickelt zu sein. Zunächst sah es nach einem sofortigen vierten indisch-pakistanischen Krieg aus, der sicher wie ein Aufputschmittel für den Patriotismus der indischen Wähler gewirkt hätte. Dankenswerterweise war die UPA-Regierung so klug, mit Zurückhaltung zu reagieren, was sie in eine günstigere Posi­tion bringt. Auch wenn die BJP immer noch den Krieg will und garantiert, den Kaschmir-Konflikt – vorausgesetzt, daß die indische Bevölkerung ihn wieder in den Mittelpunkt ihres Interesses rückt – auf ihre militante Hindutva-Weise zu lösen, was ja ihr Markenzeichen ist. Die letzte Entwicklung im indisch-pakistanischen Tauziehen um die Mumbai-Gewaltakte kann trotz Pakistans Eingeständnis, daß der Plan für diese Anschläge auf seinem Territorium gefaßt wurde, als wichtiger diplomatischer Sieg der UPA (und INC) gewertet werden, was im kommenden Wahlkampf eine der wichtigsten Waffen ihres Rivalen BJP stumpf machen wird.

Politik vs. Spiritualität

Nur im Hindutva, so mahnt die BJP, zeige sich die ursprüngliche Seele Indiens, wohingegen der Islam nichts als eine bloße Erweiterung sei. Ich greife dieses abgedroschene Thema nur deshalb auf, um zu rekapitulieren, daß sowohl Indien als auch Pakistan beide als freie und souveräne Länder unmittelbare Produkte aus Muhammad Ali Jinnahs (1876–1948, Gründer des Staates Pakistan – d. Red.) umstrittener Zwei-Nationen-Theorie sind, auch wenn diese Theorie vom Außenministerium der indischen Regierung offiziell negiert wird. Aber noch wichtiger ist, daß die erwähnte Umfrage des MORI-Instituts über Kaschmir von 2002 ein überwältigendes Ergebnis von 92 Prozent zu der Frage erbracht, daß der Staat Kaschmir nicht auf der Basis von Religion oder Ethnizität geteilt werden soll. Der Vorsitzende der JKLF, Yasin Malik, der seine militante Vergangenheit hinter sich gelassen hat und einen absolut friedlichen Weg beschreitet, hat die Kashmiri Pandits (eine Hindu-Brahmanen-Gemeinde des Kaschmir-Tales, von denen viele im Zuge des indischen Unabhängigkeitskampfes vertrieben wurden) gebeten, in ihr Heimatland zurückzukehren. Auf dem Weltsozialforum 2004 in Mumbai erklärte Malik: »Wir möchten, daß die Mütter, Schwestern und Brüder unserer Kashmiri Pandits zurückkehren. Dies ist ihr Land. Sie haben genauso das Recht, hier zu leben wie wir. Jetzt ist die Zeit gekommen, in der die Muslime Kaschmirs eine konstruktive Rolle spielen müssen, damit wir die Kultur wiedererrichten können, für die wir in der ganzen Welt berühmt sind.« Er machte weiter geltend, der wahre Geist eines unabhängigen Kaschmir sei nicht in der Politik zu finden, er gründe sich vielmehr auf der Spiritualität des Zusammengehens der muslimischen und hinduistischen Philosophien.

Es ist eine Tragödie, daß diese Wahrheit kaum jemand hören will. Jinnah hätte sie nicht geglaubt, und Nehru hätte sie nicht gelten lassen. Von der BJP ganz zu schweigen. Aber die von der INC kontrollierte indische Regierung ist auch eher in der schwierigen Position, die Philosophie über die Politik stellen zu müssen, solange Jaish-e-Mohammed, Lashkar-e-Taiba, Harkat-ul-Mujahideen oder Hizbul-Mujahideen in Kaschmir und anderswo aktiv sind. Es wird allgemein angenommen, daß diese religiös fundamentalistischen und terroristischen Gruppierungen vor allem seit 1989 – nach dem Ende des sowjetisch-afghanischen Krieges – von Pakistans mächtigem Geheimdienst gefördert und angeleitet werden. Die afghanischen Mujaheddin wurden von der CIA geschaffen, um gegen die UdSSR zu kämpfen. Sobald dieser Krieg vorüber war, wurden diese Mujaheddin an die Line of Control verlegt. Bis zu diesem Zeitpunkt stand Pakistan den USA näher, während Indien sich zaghaft an die Sowjetunion anlehnte. Das war die Weltlage vor 1991, dem Jahr, in dem der von der Sowjetunion angeführte Block zusammenbrach, was zu einer offenen Polarisierung im weltweiten Kräfteverhältnis führte. Es ist sicher nicht zu weit hergeholt, sich vorzustellen, daß es in Wahrheit die CIA war, die Pakistan zu ihrem Unternehmen gegen Indien ermutigte, das heißt, sowohl sein Militär als auch die Militanten in der Kaschmir-Region in Marsch zu setzen. Zum damaligen Zeitpunkt störte es die USA noch nicht, daß sich eine Gruppierung namens Al-Qaida neu gegründet hatte.

Rolle der USA

Die Situation veränderte sich erst im Jahr 2002. Genaugenommen mit dem 11. September 2001. Plötzlich waren die USA in der Lage, genau zu definieren, was Terrorismus ist, mit Ausnahme natürlich jenes Terrorismus, der von den USA selbst praktiziert wurde. Indien konnte sich nicht beschweren, weil die USA sich nun zu seinen Gunsten mit Pakistan auseinandersetzten. Von Indien war denn auch kein Sterbenswörtchen zu hören, als Bush seine Truppen in Irak einmarschieren ließ. Die Regierung fühlte sich später sogar verpflichtet, den für Indien nachteiligen Nuklearvertrag zu unterzeichnen. Und Indien schwieg lange zu Israels Greueln in Gaza. Vielleicht hält Indien die USA jetzt für eine befreundete Nation. Aber denkt ganz Indien, was seine Zentralregierung denkt? Ist es nicht vielmehr Sache des indischen Volkes, diesen Job zu erledigen? Können wir wirklich diese egoistisch und von oben diktierte Pseudofreundschaft akzeptieren, wenn auch wir zu Opfern der von den USA zu verantwortenden globalen wirtschaftlichen Depression werden? (Obwohl wir es dank der unbeugsamen linken Opposition nicht in dem Ausmaß werden, wie die UPA-Regierung es uns zugedacht hat.) Können wir, das gemeine Volk von Indien, von der neuen Clique im Weißen Haus irgend etwas Besseres erwarten? Können wir auf sie zählen, wenn es darum geht, wenigstens sicherzustellen, daß den aufständischen separatistischen Terrorbewegungen, die sich in jedem Winkel Indiens tummeln, kein Geld mehr aus dem Ausland zufließt? Wie beispielsweise jenen, die im Nordosten operieren, oder der ewig richtungslosen Gorkhaland-Bewegung im Norden Westbengalens und den hinterhältigen Pseudo-Maoisten, die der von Mamata Banerjee geführten rechtsgerichteten TMC-Party in Westbengalen offen die Hände reichten und Ost-Indien in ein Chaos stürzen? Wer wird all diese Fragen beantworten? Die Demokratie fordert aber Antworten auf diese Fragen. Die Demokratie träumt von einer Regierung, die all ihre Konfusion klären kann. Offen gesagt ist die indische Demokratie dazu jetzt nicht in der Lage. Und im Ergebnis werden wir wahrscheinlich auch durch die kommenden Wahlen keine wirklichen Antworten auf diese gutgemeinten Fragen erhalten.

Es ist offensichtlich, daß es die USA gegenwärtig wenig interessiert, was immer auch in Kaschmir (oder sonstwo in der Region) passiert, solange sicher ist, daß von den Dschihadis keine direkte Gefahr für die USA ausgeht. Ich wage zu behaupten, daß die Verantwortlichen in den USA die Wunde sogar bewußt schwären lassen. Solche Machenschaften gehören seit jeher zum Machtpoker der Vereinigten Staaten. Es ist an Indien selbst, sich um seine Probleme zu kümmern, egal ob im Inland oder mit dem Ausland. Unglücklicherweise ist sich das alte Indien auch 62 Jahre nach Erlangung seiner Unabhängigkeit und nach 16 Parlamentswahlen seiner Reife immer noch nicht bewußt und handelt nicht entsprechend.

Übersetzung aus dem Englischen von Jürgen Heiser

Anmerkungen des Übersetzers:
  1. Das Gujarat-Massaker wurde 2002 von Regierungschef Narendra Modi angezettelt, einem altgedientem BJP-Funktionär. Hindunationalisten töteten rund 2000 Muslime, Hunderttausende verloren Heim und Arbeit
  2. Die BSP wurde 1984 von Kanshi Ram als Interessenvertretung der Dalits gegründet. »Dalits« ist die Selbstbezeichnung der »Unberührbaren«, der Ausgeschlossenen des indischen Kastensystems
  3. Anspielung auf die Nehru-Gandhi-Dynastie; Jawaharlal Nehru war von 1947-64 Indiens erster Premierminister (Kongresspartei)
  4. Staatliche Kommission zur Neufestlegung der Wahlbezirke
  5. Die von Premierminister Manmohan Singh geführte Regierung der Vereinigten Fortschrittlichen Allianz (United Progressive Alliance – UPA), der insgesamt zwölf Parteien angehören
  6. Die von der Kommunistischen Partei Indiens/Marxisten (CPI/M) angeführte Linke kündigte die über vierjährige Unterstützung der UPA-Minderheitsregierung formell auf
  7. hindunationalistische Freiwillige
  8. Am 6. Dezember 1992 wurde nach lange andauerndem politischen Streit zwischen den Hauptkontrahenten und Repräsentanten sogenannter Hindu-, Muslim- und indischer Interessen im nordindischen Ayodhya eine fast 500 Jahre alte Moschee dem Erdboden gleichgemacht
  9. Hindutva bezeichnet ein politisches Konzept, das die Ausrichtung Indiens nach hinduistischen Regeln zum Ziel hat
  10. Indien bezeichnet seinen Teil am umstrittenen Territorium Kaschmirs als »Jammu & Kashmir« und den unter pakistanischer Kontrolle stehenden Teil als »pakistanisch besetztes Kaschmir (POK)«, während Pakistan diesen Teil als »Azad (dt. freies) Jammu und Kashmir« bezeichnet und den unter indischer Kontrolle als »indisch besetztes Kaschmir (IOK)«
  11. Der Begriff »Line of Control« bezieht sich auf die 740 km lange militärische Kontrollinie zwischen Indien und Pakistan in der Provinz Kaschmir. Ursprünglich als »Waffenstillstandslinie« des Ersten Indisch-Pakistanischen Krieges (1947–49) bekannt, wurde diese Demarkationslinie nach dem Waffenstillstand des Dritten Indisch-Pakistanischen Krieges (1971) und dem Shimla-Abkommen (1972) umbe­nannt

* Aus: junge Welt, 4. März 2009


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