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Feuerüberfall auf Indiens Finanz- und Handelsmetropole

Premier Singh ortet Drahtzieher "außerhalb des Landes"

Von Hilmar König, Delhi *

In einer Nacht- und Nebelaktion haben terroristische Kommandos am Mittwoch (26. November) an zehn verschiedenen Stellen in der westindischen Finanz- und Hafenmetropole Mumbai -- früher Bombay -- ein Blutbad angerichtet, Geiseln genommen, Passanten, Touristen und hochrangige Polizeioffiziere getötet. Am Donnerstag (27. Nov.) griffen Armee- und Spezialeinheiten der Nationalen Sicherheitsgarde ein, um die Lage unter Kontrolle zu bekommen.

In der Nacht vom Mittwoch zum Donnerstag gegen 22 Uhr, so berichteten Augenzeugen, seien mehr als 20 schwerbewaffnete Männer mit Schlauchbooten vor Mumbais Wahrzeichen, dem Gateway of India, an Land gegangen. Einige wären, mit automatischen Waffen schießend, sofort ins gegenüber liegende Luxushotel »Taj Mahal Palace & Tower« gestürmt. Andere hätten Fahrzeuge gekapert und wären in der Dunkelheit verschwunden.

Etwa eine Viertelstunde später trafen die ersten Meldungen über Feuergefechte aus verschiedenen Stadtteilen ein. Ein anderes 5-Sterne-Hotel, das »Oberoi Trident«, war ebenfalls von den Terroristen gestürmt worden. In beiden Hotels brachen Feuer aus, die erst am Donnerstagvormittag gelöscht werden konnten.

Schießereien gab es auf dem zentralen Bahnhof Chhatrapati Shivaji, im Restaurant »Leopold« von Colaba, am Metro-Kino, im »Madam Cama«-Hostel, am Nariman House, in den Wohngebieten Vile Parle und Mazgaon. Ein Taxi und eine Tankstelle wurden in die Luft gesprengt.

In den beiden gut belegten Hotels -- es ist Touristen- und indische Hochzeitssaison -- nahmen die Angreifer Geiseln. Sie sonderten Touristen mit britischen und US-amerikanischen Reisepässen aus.

Polizei war überfordert

Laut Polizeiangaben vom Donnerstagabend (27. Nov.) wurden mindestens 119 Menschen getötet, darunter acht Ausländer. Unter den Toten befinden sich vier hochrangige indische Sicherheitsoffiziere, darunter der Chef der Antiterror-Abteilung von Mumbai. Sieben Terroristen sollen von den Sicherheitskräften getötet worden sein, die Zahl der Festgenommenen oder Entkommenen blieb unklar. Da Mumbais Polizei offensichtlich überfordert war, dieser an mehreren Schauplätzen gleichzeitig ausgeführten Attacke Paroli zu bieten, eilte die Armee zur Hilfe. Am Donnerstagmorgen trafen zudem 200 Mann der Nationalen Sicherheitsgarde in Mumbai ein und begannen mit Rettungs- und Säuberungsaktionen. Am späten Nachmittag war die Lage jedoch noch immer unübersichtlich. In beiden Hotels gab es nach 16 Uhr Ortszeit mehrere Explosionen. Unklar blieb auch, ob es sich um eine Geiselnahme handelte oder ob sich die Hotelgäste verbarrikadiert hatten. Hunderte wurden befreit. Das Durchkämmen des »Taj Mahal«, Zimmer für Zimmer, dauerte bis in die Nacht. Das Hotel hat weit über 500 Räume.

Indien hat in der Vergangenheit Dutzende Terrorangriffe erlebt -- meistens durch Sprengkörper oder Autobomben, die zeit- oder ferngezündet wurden. Allein in den letzten 12 Monaten fielen solchen Anschlägen unter anderem in Delhi, Jaipur, Ajmer, Bangalore und Assam rund 300 Menschen zum Opfer. Doch anders als bislang gingen die Verbrecher diesmal in der Art eines regelrechten Kommandounternehmens vor. Eine kaum bekannte Gruppe »Deccan Mudschaheddin« soll sich dazu bekannt haben. Der Dekhan ist das Hochland, das sich im Süden Indiens in die Westghats und die Ostghats gliedert. Ein Teil der Westghats liegt im Unionsstaat Maharashtra, dessen Hauptstadt Mumbai ist.

Wirtschaft wird leiden

Sicherheitsexperten sprechen von einer »neuen Dimension« des in Indien verübten Terrorismus. Kommodore Uday Bhaskar erklärte im staatlichen Fernsehen »Durdarshan«, es habe sich in Mumbai nicht um die bloße Fortsetzung einer Anschlagserie gehandelt, sondern um einen noch nicht da gewesenen Angriff auf die innere Sicherheit des Landes. Damit sei die Krise des Sicherheitssystems bloß gelegt. Bhaskar ließ sich in seiner Einschätzung weniger vom Namen der Gruppe leiten, er vermutet vielmehr ein Komplott mit möglichem internationalen Hintergrund, an dem einheimische Gruppen, die berüchtigte Mumbaier Unterwelt sowie »Dschihad«-Ideologen beteiligt sein könnten.

Auch Premierminister Manmo-han Singh mutmaßte in einer Rede an die Nation, die Hintermänner des Gewaltakts seien »außerhalb des Landes« zu suchen. Man werde den Nachbarstaaten »deutlich sagen«, dass Indien es »nicht hinnehmen wird«, wenn es als »Ausgangsbasis für Angriffe auf uns« verwendet werde, sagte Singh, ohne ein bestimmtes Land beim Namen zu nennen.

Ohne Zweifel nehmen Mumbai als Finanz-, Geschäfts- und Handelsmetropole, aber auch die Ökonomie Indiens insgesamt schweren Schaden. Das Auslandskapital, das allein zwischen April und August 14,6 Milliarden Dollar in die indische Wirtschaft gepumpt und in und um Mumbai beträchtlich investiert hat, dürfte sich ebenso verunsichert fühlen wie die Tourismusindustrie. Diese verzeichnete in den ersten neun Monaten 2007 einen Zuwachs von zehn Prozent, was Einnahmen von 8,8 Milliarden Dollar brachte. Der furchtbare Schlag von Mumbai wird noch viele Nachwirkungen haben. Über beide Flughäfen der Stadt wurde vorerst der Ausnahmezustand verhängt.

Lexikon: Mumbai -- Bombay

Als portugiesische Seefahrer ein verschlafenes Fischerdorf Anfang des 16. Jahrhunderts zum Handelshafen machten, nannten sie es Bom Bahia, gute Bucht. 1661 kamen die Engländer in den Besitz von Hafen und Insel. Unter dem Namen Bombay machten sie die Stadt zu einem Zentrum von Britisch Indien. Besonders im historischen Stadtteil Colaba sind rund um das Wahrzeichen Gateway of India zahlreiche Bauten aus der bis 1947 dauernden Kolonialzeit erhalten. Um sich von den Kolonialmächten zu distanzieren, benannte die Regionalregierung die Megastadt am Arabischen Meer Mitte der 90er Jahre in Mumbai um. Der Name wird der Hindu-Göttin Mumbadevi zugeschrieben.

Die Millionenmetropole am Arabischen Meer ist der ökonomische Mittelpunkt Indiens. Das Finanzzentrum mit der bedeutendsten Börse des Landes hat auch den wichtigsten Hafen und ist Indiens führender Industrie- und Handelsplatz. Nach Angaben der Verwaltung beschäftigen im Großraum Mumbai rund 12 000 Fabriken insgesamt 600 000 Arbeiter. Ein wichtiger Wirtschaftsfaktor ist auch die Filmindustrie, die den Ruf der Stadt als »Bollywood« begründet hat.

Die Hauptstadt des Unionsstaates Maharashtra rund um den historischen Kern auf einer langgestreckten Insel hat mehr als 12 Millionen Einwohner, im Großraum sind es knapp 18 Millionen. Mehr als die Hälfte der Menschen lebt unter erbärmlichen Umständen in übervölkerten Slums. Da sie bei Volkszählungen nicht erfasst werden, kann die Einwohnerzahl auch deutlich über den offiziellen Angaben liegen. Mumbais Bewohner drängen sich auf einer Stadtfläche von 468 Quadratkilometern, der Großraum umfasst knapp 3900 Quadratkilometer. ND/dpa

Chronik

In Indien gab es wiederholt folgenschwere Terroranschläge. Die meisten werden militanten Islamisten angelastet:
  • 30. Oktober 2008: Bei einer Bombenserie im Nordosten Indiens sterben im Bundesstaat Assam über 80 Menschen.
  • 26. Juli 2008: Mindestens 56 Menschen werden getötet und mehr als 150 verletzt, als in der westindischen Millionenmetropole Ahmedabad kurz hintereinander 16 Bomben explodieren.
  • 13. Mai. 2008: Bei einem Terrorangriff in der nordwestindischen Touristenmetropole Jaipur sterben mindesten 63 Menschen, 118 werden verletzt. Innerhalb weniger Minuten waren acht Bomben detoniert.
  • 25. August 2007: In der südindischen Millionenstadt Hyderabad werden bei zwei Anschlägen mindestens 42 Menschen getötet und 50 weitere verletzt.
  • 19. Februar 2007: Einem Terroranschlag auf einen Schnellzug fallen 69 Menschen zum Opfer. 60 Passagiere werden bei der Explosion von zwei Brandbomben im sogenannten Friedenszug von Neu Delhi in die pakistanische Stadt Lahore verwundet.
  • 11. Juli 2006: In der westindischen Millionen-Metropole Mumbai explodieren in voll besetzten Vorortzügen und auf Bahnhöfen sieben Bomben. Bei der Anschlagserie kommen 187 Menschen ums Leben. Mehr als 700 werden verletzt.
  • 8. September 2006: Bei zwei verheerenden Bombenanschlägen auf Teilnehmer eines muslimischen Festes sterben im westindischen Bundesstaat Maharashtra mindestens 37 Menschen. Mehr als 100 tragen teils schwere Verletzungen davon.
  • 29. Oktober 2005: Drei Tage vor dem populären Hindu-Lichterfest Diwali werden bei einer Bombenserie in der Hauptstadt Neu Delhi mindestens 60 Menschen getötet und mehr als 250 verletzt. (dpa/ND)


* Aus: Neues Deutschland, 28. November 2008


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