Delhi rüstet im Kampf gegen Terror auf
Vor einem Jahr erlebte Indien seinen schlimmsten Anschlag / Hintermänner in Pakistan
Von Hilmar König, Delhi *
Die Terrorattacke in Mumbai am 26. November vor einem Jahr ging als eines der schwärzesten
Kapitel in Indiens jüngere Geschichte ein. Der Sicherheitsapparat wurde vollkommen überrascht.
Über 160 Menschen wurden bei dem Angriff getötet, mehr als 300 verletzt. In Indien und Pakistan
laufen die gerichtlichen Untersuchungen des Massakers.
Es scheint dem Drehbuch eines billigen Actionfilms entnommen: In der Nacht des 26. November
2008 landen am Strand der Hafenstadt und indischen Finanzmetropole Mumbai zwei Schlauchboote
mit jeweils fünf schwer bewaffneten Terroristen. Diese gehen ungehindert an Land, schwärmen in
verschiedene Richtungen aus und kapern sich Autos. Kurz darauf serienweise tödliche Schüsse in
den beiden Hotels »Taj Mahal Palace & Towers« und »Oberoi Trident«, im jüdischen Chabad-
Gemeindehaus, auf dem Chhatrapati-Shivaji-Bahnhof, im »Leopold Cafe« und im Cama-Hospital.
Ein Teil des »Taj« geht in Flammen auf. Die Gangster nehmen Geiseln, die sie später erschießen
werden.
60 Stunden dauert die von den indischen elektronischen Medien live übertragene blutige Tragödie.
Nach drei Tagen gewinnen die Sicherheitskräfte schließlich die Oberhand. Die erschütternde Bilanz
des Überfalls im Stile einer Militäroperation: 166 Tote, überwiegend Zivilisten, darunter 26 Ausländer
und einer der erfolgreichsten Gangsterjäger der indischen Polizei. Experten sprechen von einer
»neuen Dimension« des in Indien erlebten Terrorismus.
Von den zehn Terroristen werden neun erschossen. Mohammed Ajmal Amir Kasab aus der
pakistanischen Provinz Punjab wird gefangen genommen. Seine Aussagen zeichnen das detaillierte
Bild einer Verschwörung, die in Pakistan von der seit 2003 verbotenen extremistischen Gruppierung
Lashkar-e-Taiba (LeT) geplant wurde. Nach dem Verbot tauchte sie unter dem Namen Jamaat-ud-
Dawa als »Wohltätigkeitsorganisation« wieder auf.
Am heutigen Donnerstag (26. Nov.) gedenkt Mumbai des 26. Novembers 2008. Es findet eine Parade der
Polizei statt, die sich in neuer, moderner Ausrüstung präsentiert. Innenminister Palaniappan
Chidambaram enthüllt ein Denkmal. Am Gateway of India trifft man sich zu einer multireligiösen
Andacht. Mumbais neu gegründete »Elite Force One« verabschiedet ihre jüngsten Absolventen.
Doch wichtiger ist, was sich im Verlaufe der vergangenen zwölf Monate verändert hat. Indiens
Innenminister wurde ausgewechselt. Der neue geht energischer vor. Er veranlasste die Bildung
einer Nationalen Sicherheitsagentur, die alle unionsstaatlichen Antiterrormassnahmen koordiniert
und einer zentralen Behörde unterstellt. Die Sicherheit an der 7500 Kilometer langen Küste wurde
erhöht. Marine, Küstenschutz, Handelsmarine und lokale Fischergemeinschaften arbeiten nach
einem abgestimmten Plan zusammen. Schnellboote, Flugzeuge, Radaranlagen wurden in Dienst
gestellt, bislang 65 Küstenpolizeistationen eingerichtet. Für alle Touristen sichtbar wurden die
Sicherheitskontrollen auf Flughäfen und bei der Bahn, in Hotels, staatlichen Gebäuden und
Betrieben, in Häfen sowie bei internationalen Konferenzen drastisch verstärkt. Indien intensivierte
seine Antiterror-Geheimdienstkooperation mit den USA und anderen westlichen Staaten. Nach
Mumbai begriff die internationale Gemeinschaft, dass Terrorschläge in Indien nicht lokale oder
regionale Ereignisse sind, sondern weltweit eine Gefahr darstellen. Die LeT gilt nicht mehr als
pakistanische Bewegung, die sich auf den Kaschmirkonflikt konzentriert, sondern sich global als
Partner von Al Qaida engagiert. Immer neue Einzelheiten werden über LeT-Agenten bekannt, die
von Italien, Spanien, den USA, Kanada oder Bangladesch aus operierten.
Grundlegend verändert hat sich das Verhältnis zwischen Indien und Pakistan. Der Friedensdialog
liegt seit den Anschlägen auf Eis. Während in Indien der Kasab-Gerichtsprozess mit der Anhörung
hunderter Augenzeugen fortschreitet, befinden sich in Pakistan sieben der Planung, Vorbereitung
und Mittäterschaft verdächtige Personen in Gewahrsam, darunter Zaki-ur-Rehman Lakhvi, LeTSpitzenmann
und vermuteter Chefplaner der Terroranschläge. Nach bislang rund 20 Anhörungen
sind die Verdächtigen erst am Mittwoch angeklagt worden. Delhi und Islamabad tauschten zwar eine
Reihe von Dossiers zum Mumbai-Massaker aus. Doch bleibt unklar, ob und wie sich diese juristisch
auswirken werden. Pakistan ließ zum Beispiel bislang offen, ob sein Gerichtshof das Geständnis
Kasabs akzeptieren wird.
Indien ließ den Nachbarn wiederholt wissen, dass es eine zügige Eröffnung des Prozesses und eine
konsequente Bestrafung aller Täter und Hintermänner erwartet. Dies und die Demontage der
gesamten »Terrorinfrastruktur« auf pakistanischem Boden macht Delhi zur Bedingung für die
Wiederaufnahme des Friedensdialogs. Dessen Feinde haben mit Mumbai eins ihrer Ziele erreicht:
die Nachbarschaftsbeziehungen nachhaltig zu torpedieren.
* Aus: Neues Deutschland, 26. November 2009
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