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Die tödliche Viertelstunde von Jaipur

Innerhalb von 15 Minuten starben in der westindischen Stadt bis zu 85 Menschen

Von Hilmar König, Delhi *

Eine Serie von Sprengstoffexplosionen erschütterte am Dienstagabend (13. Mai) die rajasthanische Hauptstadt Jaipur. Bis zu 85 Menschen wurden bei den Anschlägen getötet und 200 verletzt.

Es war Feierabendzeit in der »Pink City«, die in- wie ausländische Touristen wegen ihrer Exotik anlockt. In der Altstadt herrschte reges Treiben auf den Basars, vor den architektonischen Sehenswürdigkeiten - darunter der berühmte Palast der Winde »Hawa Mahal« - in den Restaurants, Geschäften und Gotteshäusern. Besonders stark frequentiert waren die dem Affengott Hanuman geweihten Tempel, denn immer dienstags treffen sich die Hindus hier zur Andacht.

Nahe dieser Stätten hatten die Verbecher ihre acht mit Stahlkugeln gefüllten Bomben auf Fahrrädern, Rikschas, in Autos und in einem Laden deponiert. Innerhalb von 15 Minuten zündeten sie die Sprengsätze. Einen, der nicht detonierte, konnten Spezialkommandos entschärfen. Am Mittwoch stand die exakte Zahl der Toten noch nicht fest. Die Angaben schwankten zwischen 60 und mehr als 80. Bemerkenswert ist, dass die Sprengkörper zu einem Zeitpunkt hochgingen, da Indien und Pakistan vor Wiederaufnahme ihres Friedensdialogs stehen. Politiker beider Länder äußerten sich dieser Tage wiederholt konstruktiv zur Gestaltung des Nachbarschaftsverhältnisses. Und Indiens Außenminister Pranab Mukherjee reist noch in diesem Monat zu Verhandlungen nach Islamabad.

Wer hinter den Anschlägen steckt, kann gegenwärtig nur vermutet werden, denn Jaipur war erstmals Ziel einer solchen koordinierten Attacke. Die Stadt wird mehrheitlich von Hindus bewohnt, weist aber auch eine beträchtliche muslimische Minderheit auf. Beide Gemeinschaften kommen relativ gut miteinander aus. Der Unionsstaat Rajasthan wird von der hindufundamentalistischen Indischen Volkspartei BJP regiert. Abgesehen von lokalen Geplänkeln zwischen verschiedenen Religionsgruppen, darunter auch Christen, gab es hier bislang keine größeren Auseinandersetzungen. Dennoch gehen die Überlegungen der Sicherheitsorgane wohl zuerst in Richtung extremistischer muslimischer Organisationen. Genannt wurden inzwischen die verbotene Islamische Studentenbewegung Indiens SIMI sowie die Harkat ul-Jihad-e-Islami, die ihren Hauptsitz in Bangladesch hat, sowie die beiden militanten, in Pakistan beheimateten Gruppen Lashkar-e-Taiba und Jaish-e-Mohammad. Konkrete Beweise fehlen bislang allerdings noch für deren Urheber- oder Mittäterschaft. Politische Beobachter suchen nach Motiven für das Verbrechen. Am 13. Mai beging man in Indien den 10. Jahrestag der Nukleartests, die im rajasthanischen Pokhran stattfanden. Besteht da ein zumindest symbolischer Zusammenhang?

Vor wenigen Tagen wurden in Jammu und Kaschmir in einer blutigen Operation militante Rebellen eliminiert, die offensichtlich kurz zuvor über die Grenzlinie aus dem pakistanischen Kaschmirteil infiltriert waren. Handelte es sich in Jaipur nun um eine Revanche?

Und schließlich: Die »Pink City« lebt seit Wochen im »Kricketfieber«, denn das Jaipur-Team liegt an der Tabellenspitze der kürzlich aus der Taufe gehobenen spektakulären Indischen Kricketprofiliga IPL. Das mit viel Showbrimborium veranstaltete Turnier, zu dem auch knapp bekleidete ausländische Cheerleader gehören, geriet in die geharnischte Kritik von indischen Moralisten und Puristen. Wären die zu einer solchen Tat fähig?

Viele Fragen, an deren Beantwortung nach Jaipur geeilte Spezialkommandos der Nationalen Sicherheitsgarde und der Schnellen Eingreiftruppe, Sprengstoffexperten, Polizei und Geheimdienste arbeiten. In einem Punkt sind sie sich bereits einig: Ohne »beträchtliche lokale logistische Assistenz« hätte die Bombenserie nicht ausgelöst werden können.

Wie in solchen Fällen üblich, hat Indiens Regierung landesweit die Sicherheit auf Flughäfen, Bahnhöfen, an markanten religiösen und touristischen Stätten sowie vor wichtigen Gebäuden verschärfen lassen. Über Jaipurs abgeriegelte Altstadt wurde am Mittwoch von 9 bis 18 Uhr eine Ausgangssperre verhängt. Zwei Verdächtige wurden inzwischen festgenommen.

Die Tragödie vom Dienstag zählt zu den schweren Terrorakten, von denen Indien in den letzten Jahren heimgesucht wurde.

Im Juli 2006 waren nach sieben Bombenexplosionen in Vorortzügen Mumbais 186 Todesopfer zu beklagen. Im Februar 2007 detonierten vier Sprengsätze im zwischen Indien und Pakistan verkehrenden Samjhauta-Express und rissen 68 Passagiere in den Tod. Im März 2007 und im August desselben Jahres wurden bei Attacken in Hyderabad 53 Menschen getötet, und im November 2007 gab es in verschiedenen Städten Uttar Pradeshs 13 Tote nach Bombenanschlägen.

* Aus: Neues Deutschland, 15. Mai 2008


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