Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Kollektives Versagen"

Indien: Gerichtsurteil nach Telekomskandal bringt weiteren Ansehensverlust für Regierung. Mobilfunklizenzen müssen neu ausgeschrieben werden

Von Thomas Berger *

Indiens Koalitionsregierung unter Führung der Kongreßpartei (INC) muß eine weitere Ohrfeige verkraften. Der oberste Gerichtshof des Landes, hat angeordnet, daß alle vor drei Jahren in einem fragwürdigen Verfahren zu Ramschpreisen vergebenen Lizenzen für die Mobilfunkverbindungen der zweiten Generation (2G) eingezogen werden, die acht bisher bevorteilten Unternehmen eine Strafe erhalten und die Frequenzen in einem neuen Bieterverfahren binnen vier Monaten öffentlich ausgeschrieben werden müssen. Dies ist der vorläufige Schlußpunkt unter der größten Korruptionsaffäre, der in der jüngeren Vergangenheit das südasiatische Land erschüttert hatte.

Umgerechnet etwa 30 Milliarden Euro an Einnahmen sollen dem Staat dadurch verlorengegangen sein, daß der damalige Telekomminister Andimuthu Raja die Lizenzen an die ersten Bewerber statt in normaler Ausschreibung vergeben hatte. Raja sitzt in Haft, der »2G-Skandal« brachte allerdings auch weitere Minister sowie Premier Manmohan Singh in Bedrängnis und löste eine landesweite Welle von Antikorruptionsprotesten aus.

Subramaniam Swamy, Vorsitzender der kleinen Janata Party, hatte in der Angelegenheit die Obersten Richter angerufen. Mitunterzeichner seiner eingereichten Klageschrift waren mehrere Nichtregierungsorganisationen, drei ehemalige Vorsitzende der nationalen Wahlkommission sowie weitere frühere Inhaber hoher Ämter. Zwar folgt das Urteil nicht in allen Punkten den Klägern, doch diese können sich über einen Sieg auf breiter Front freuen. Subramaniam warf der Regierung in einer ersten Stellungnahme »kollektives Versagen« vor. Das Kabinett habe Warnungen aus den Reihen staatlicher Behörden seinerzeit nicht ernst genommen.

Die Richter erinnerten während des Prozesses an die politische Dimension der Affäre. Bis in die 1980er Jahre hatte die Zentralregierung die alleinige Verfügungsgewalt über den Telekommuniskationssektor. Dann wurden erstmals private Unternehmen an technischen Verbesserungen beteiligt. Die 1994 formulierte neue Telekompolitik setzte analog zu dem drei Jahre zuvor eingeleiteten Liberalisierungskurs auf eine weitere »Deregulierung«, um vor allem, wie es hieß, »den Bevölkerungsteilen in den Dörfern zu einem vernünftigen Preis den Zugang zu gewährleisten«. Die Bestandsaufnahme der Situation nach der Vergabe des ersten Bündels von Lizenzen habe aber gezeigt, daß dies nicht erreicht wurde. 1999 folgte ein weiterer politischer Grundsatzbeschluß, um den ländlichen Sektor kommunikationstechnisch anzubinden.

Besonders schwer wiegt bei der Affäre, daß Rajas Gebaren sehr wohl bei einigen Behörden die Alarmglocken hatte schrillen lassen, deren Mahnungen aber in höchsten Kreisen der Politik auf taube Ohren stießen. Zu den Kritikpunkten gehörte neben Verfahrensweise und Niedrigpreisen aber auch die Tatsache, daß unter den acht Profiteuren sechs Firmen waren, die noch keinerlei Erfahrung auf dem Sektor vorweisen konnten.

Die Inhaber der bisherigen Lizenzen können ihre seinerzeit bezahlten Gebühren von insgesamt 1,5 Milliarden Euro in den Wind schreiben und haben nach dem Urteil teilweise mit einem herben Einbruch ihrer Aktien an der Börse zu kämpfen. Einige werden sich womöglich aus der Branche zurückziehen. Die Regierung kann immerhin mit der Neuvergabe Mehreinnahmen für die Staatskasse in erheblicher Größenordnung erzielen. Etablierte Telekomkonzerne schielen bereits auf die frei gewordenen Lizenzen. Zudem wackelt immer noch der Stuhl des damaligen Finanz- und heutigen Innenministers Palaniappam Chidambaran. Gegen ihn läuft ein Sonderermittlungsverfahren als möglichen Mitschuldigen, in das sich die Obersten Richter zunächst nicht einmischen wollten.

* Aus: junge Welt, 4. Februar 2012


Zurück zur Indien-Seite

Zurück zur Homepage