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Indien blockiert

Von Hilmar König *

Ein Generalstreik hat am Donnerstag weite Teile Indiens lahmgelegt. Private Unternehmen und Schulen, Märkte, Banken, Geschäfte und Kinos blieben in vielen Bundesstaaten geschlossen. Autobahnen wurden blockiert, Züge fuhren verspätet oder gar nicht. In Neu-Delhi und anderen Städten gab es Demonstrationen und Kundgebungen von Oppositionsparteien, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen. In seltener Einmütigkeit standen auf dem zentralen Versammlungsplatz Jantar Mantar in der Landeshauptstadt Politiker der rechten Indischen Volkspartei und der KP Indiens (Marxistisch) nebeneinander auf der Tribüne. Besonders die Technologie-Hochburgen Bangalore und Hyderabad im Süden des Landes, wo Firmen wie Microsoft und Google ihre Niederlassungen haben, waren von dem Ausstand betroffen. Auslöser der Protestaktionen waren vor einigen Tagen von der regierenden Vereinten Progressiven Allianz angekündigte Wirtschaftsreformen und eine drastische Erhöhung der Preise für Dieselkraftstoff.

Der Preis für den Treibstoff war in der vergangenen Woche um zwölf Prozent gestiegen. Gleichzeitig beschloß die Koalitionsregierung von Premier Manmohan Singh, die Anzahl der Gasflaschen für subventioniertes Haushaltsgas auf sechs im Jahr pro Familie zu begrenzen. Das trifft einen Großteil der Bevölkerung hart und treibt die Inflationsrate weiter hoch. In den letzten sechs Monaten hatte sich zum Beispiel Gemüse bereits um 20 Prozent verteuert.

Das Reformpaket, das ausländischem Kapital den Zugriff auf Indiens Kleinhandel, auf Übertragungsrechte im Funk und Fernsehen sowie auf die zivile Luftfahrt öffnen und den Weg zur Teilprivatisierung von vier profitablen, bislang staatlichen Industriezweigen öffnen soll, wird von der Geschäftswelt und der wohlhabenden Mittelklasse als »Big Bang« bejubelt. Nicht nur linke Kritiker brandmarken es hingegen als gegen den armen Teil des Volkes gerichtet. Besonders darunter zu leiden, so war auf der Kundgebung am Donnerstag in Neu-Delhi unterstrichen worden, hätten die Bevölkerung auf dem Lande und der »aam admi«, der »kleine Mann«. Besonders die Existenz von über 200 Millionen Kleinhändlern stehe auf dem Spiel, wenn westliche Supermarktketten sich ausbreiten könnten.

Die Vorsitzende der Regionalpartei Trinamool Congress (TC), Mamata Banerjee, die auch Chefministerin des Bundesstaates Westbengalen ist, kündigte an, am heutigen Freitag die Regierungskoalition zu verlassen. Ihr Eisenbahnminister und fünf Staatsminister sollen aus der Regierung abberufen werden. Die 19 Unterhausabgeordneten der TC werden dann auch nicht mehr mit der herrschenden Allianz stimmen. Damit gerät diese in die Minderheit und wäre künftig auf die Unterstützung von vier kleinen Parteien angewiesen, die nicht der Koalition angehören. Klappt das nicht, wären vorgezogene Neuwahlen des Parlaments fällig.

* Aus: junge Welt, Freitag, 21. September 2012


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