Empörung über ein Urteil in Indien
Proteste gegen lebenslange Haft für den Menschenrechtsaktivisten Binayak Sen
Von Hilmar König *
Die Schicksale des russischen Ölmagnaten Michail Chodorkowski und des chinesischen
Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo sorgten weltweit für Schlagzeilen. Das Schicksal des Inders
Binayak Sen, der wegen »Aufwiegelung« zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, wurde dagegen in
der internationalen Presse kaum erwähnt.
Im Unionsstaat Chhattisgarh, regiert von der hindunationalistischen Indischen Volkspartei (BJP),
verurteilte ein Gericht Dr. Sen am 22. Dezember zu lebenslanger Haft. Der Land- und Kinderarzt war
der »Aufwiegelung« angeklagt worden. Bereits 2007 stand er wegen »Verrat, krimineller
Verschwörung, Aufwiegelung, antinationaler Aktivitäten, Kriegführung gegen die Nation,
Verbindungen zur KPI (Maoistisch)« vor Gericht. 2009 kam er gegen Kaution frei. Doch die Justiz
verfolgte seinen Fall weiter.
Dr. Sen soll Kontakte zu maoistischen Rebellen unterhalten und als deren Kurier fungiert haben. Als
»Beweis« diente, dass er als Arzt einen inhaftierten maoistischen Ideologen längere Zeit medizinisch
behandelt hatte – mit behördlicher Genehmigung. Weiteres »Beweisstück« war eine nicht
unterzeichnete, angeblich aus dem Gefängnis geschmuggelte Postkarte. Die Kritiker des Urteils
sprechen von »fabrizierten Beweisen, schwindelnden sogenannten Zeugen und widersprüchlichen
Stellungnahmen der Polizei«.
Binayak Sen hat alle Anschuldigungen zurückgewiesen und sich klar gegen die Gewalt der Rebellen
ausgesprochen. Allerdings lehnte er auch vom Staat angewandte Mittel der Gewalt ab. Es ist kein
Geheimnis, dass Sen als zeitweiliger Vorsitzender der Chhattisgarh-Branche der Volksunion für
Bürgerrechte (PULC) scharf gegen Pläne der dortigen Regierung opponiert hatte, Land der Adivasi
(Ureinwohner) zugunsten industrieller Projekte privater Großunternehmen zu beschlagnahmen.
Zudem kritisierte er die mit Hilfe des staatlichen Sicherheitsapparats gebildete »Bürgerwehr« Salwa
Judum, die eigentlich die Bevölkerung vor Übergriffen der maoistischen Guerilla schützen sollte,
stattdessen aber eine Terrormaschinerie in Gang setzte, um vornehmlich lokale
Widerstandsgruppen aus dem Weg zu räumen, damit in- und ausländische Konzerne Zugang zu
Chhattisgarhs Bodenschätzen erhalten. Darin sehen die Sen-Sympathisanten die wahren Gründe für
den Prozess und das Urteil gegen den Menschenrechtler. Sen ist weltweit anerkannt wegen seines
Engagements für die Gesundheitsfürsorge in vernachlässigten ländlichen Gebieten, besonders unter
den Adivasi. Er initiierte den Bau eines Hospitals und entwickelte ein System zur Ausbildung
ländlicher Gesundheitshelfer. Unter Indiens Armen gilt er als Heilsbringer.
Zur Verurteilung kramten die Richter ein Gesetz aus der Kolonialzeit hervor, das ursprünglich der
Bestrafung von Rebellion gegen den König diente. In Großbritannien längst im Papierkorb gelandet,
ist es in Indien immer noch Teil des Strafgesetzbuches, obwohl Jawaharlal Nehru bereits 1951 für
die Abschaffung plädierte.
Gleich nach der Urteilsverkündung brach ein Proteststurm los, der seinen Höhepunkt zum
Gedenktag an die Ermordung Mahatma Gandhis Ende dieses Monats erreichen soll. Es hagelte
Petitionen an Premierminister Manmohan Singh und Staatspräsidentin Pratibha Devi Singh Patil.
Der Nationalrat der Kirchen Indiens, der muslimische All-India Milli Council, das Indian Community
Activists Network, dem 25 demokratische Verbände angehören, Organisationen der Sikh-Minderheit
und viele Persönlichkeiten haben Stellung gegen das Urteil bezogen. Ram Jethmalani, ein
namhafter Strafverteidiger, brüskierte seine eigene Partei, die BJP, als er ankündigte, Dr. Sen bei
dem zu erwartenden Berufungsverfahren vertreten zu wollen. Der ehemalige Gerichtspräsident
Rajinder Sachar erklärte: »Ich schäme mich für eine Rechtsprechung, die ein derart lächerliches
Urteil fällt.« Andere Juristen äußerten, das Gesetz gegen Aufwiegelung sei angewendet worden, um
Menschenrechtler und politisch Andersdenkende zum Schweigen zu bringen. Der Schuldspruch
bedeute grobes Unrecht und nähre Zweifel an der Unabhängigkeit der Justiz in der größten
Demokratie der Welt. Der Sozialwissenschaftler Shiv Vishwanathan sprach von einem
»entsetzlichen Unrechtsakt« und vom »Verrat einer ethischen Vision«. Sen gehöre zu jenen, die den
Stummen eine Stimme gegeben haben. M.J. Akbar, Herausgeber des Magazins »India Today«,
schrieb: »Indien ist eine merkwürdige Demokratie geworden, in der Binayak Sen lebenslänglich
bekommt und man Räubern ein Leben in Luxus erlaubt.« Sen habe »einen fundamentalen, tödlichen
Fehler gemacht. Er war auf der Seite der Armen.« Das sei in Indiens »oligarchischer Demokratie«
ein unverzeihlicher Fehler.
Justizminister Veerappa Moily wies die Kritik indes zurück. Sie beeinträchtige faire Entscheidungen
von Gerichten, verunsichere Richter und führe womöglich zum »Zerfall des Justizsystems«. Die
Protestierenden sollten den Berufungsprozess abwarten.
* Aus: Neues Deutschland, 3. Januar 2010
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