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Zerstörte Frauengesichter

Oberste Richter Indiens und Opferverbände fordern schärfere Maßnahmen gegen Säureattacken

Von Thomas Berger *

Mit einem kompletten Verbot des landesweiten Säurehandels hat Indiens Oberster Gerichtshof, der Supreme Court, gedroht, sollte die Regierung nicht bis Anfang kommender Woche einen konkreten Plan vorlegen, um den Erwerb strikten Sanktionen zu unterwerfen. Hintergrund ist der neueste Fall einer Säureattacke, der im Mai eine junge Frau zum Opfer gefallen war. Daß das Kabinett kurz vor dem schrecklichen Anschlag erst die Strafen für solcherlei Verbrechen auf zehn Jahre Haft bis lebenslänglich angehoben hatte, genügt den Richtern nicht. Aus ihrer Sicht muß es potentiellen Tätern auch möglichst schwer gemacht werden, überhaupt an Säure für solche Überfälle zu kommen.

Der Vorfall vom 2. Mai hatte landesweit für Entsetzen gesorgt. Preeti Rathi, das Opfer, ist an den Folgen der Attacke gestorben und Anfang Juni beigesetzt worden, nachdem die Familie die Zusage erhalten hatte, daß die zentrale Ermittlungsbehörde CBI die Suche nach dem Täter übernimmt. Der unbekannte Mann hatte Säure auf die aus Delhi stammende 23jährige geschüttet, als sie im drittgrößten Bahnhof der Wirtschaftsmetropole Mumbai den Zug verließ. In Mumbai wollte sie eine Stelle als Krankenschwester antreten. Vater und Tante, die sie begleitet hatten, wurden ebenso wie drei weitere Fahrgäste des Zuges durch Säurespritzer verletzt. Preeti selbst kämpfte im Krankenhaus um ihr Leben. Doch die Säure, die unmittelbar ihr rechtes Auge zerstört hatte, fraß sich auch bis in die Lungen, so daß sie schließlich an Organversagen starb. Den genauen Hintergrund der Tat kennt bisher niemand. Spekuliert wird auf einen abgewiesenen Verehrer – die häufigste Variante bei solchen Taten.

Ob Indien, Bangladesch oder Pakistan – überall in Südasien kommt es wegen enttäuschter »Liebe« oder aus familiären Streitigkeiten zu Säureattacken, die nicht nur das Opfer – wenn es überlebt - auf immer entstellen, sondern auch das unmittelbare Umfeld schwer treffen. So war es auch bei Sonali Mukherjee, die 2003 im Alter von 17 Jahren ein Trauma und schwerste Verletzungen erlitt. Drei abgewiesene Kommilitonen schütteten in einem scheinbar unbeobachteten Moment Säure auf das Mädchen. Wie die verstorbene Preethi vor dem Anschlag sehr hübsch, hat sie nun ein Gesicht, das auf den ersten Blick Erschrecken auslöst: Eine wilde Masse geschundener Haut mit dem Rest einer Nase und leeren Augenhöhlen. Dennoch ist es ein Gesicht, das viele kennen, denn Sonali schaffte es 2012, bei der indischen Variante der Fernsehshow »Wer wird Millionär?« umgerechnet 40000 Dollar zu gewinnen und ihre Leidensgeschichte publik zu machen. So wurde ihr der Umzug nach Delhi möglich, wo sie inzwischen die 27. Operation über sich ergehen ließ. »Als sie zu uns kam, hatte sie 98 Prozent Verätzungen«, zitierte der US-Kanal CNN voriges Jahr Sonalis behandelnden Arzt Sanjeev Bagai. Er und sein Team versuchen das in ihrer Macht stehende, um der heute 27jährigen schrittweise den Anflug eines Gesichts wiederzugeben.

Stop Acid Attacks (SAA), eine Dachvereinigung von Betroffenenverbänden, listet auf der Webseite www.stopacidattacks.org zahlreiche Geschichten von Opfern auf, die vom Kampf um Gerechtigkeit sowie von den persönlichen und finanziellen Lasten der medizinischen Behandlungen erzählen. Eine, die trotz aller Widrigkeiten nicht aufgegeben hat, ist Laxmi aus Delhi, die erst 16 war, als 2005 der grausige Anschlag auf sie verübt wurde. Im Frühjahr 2013 sind die beiden Täter zu Haftstrafen von sieben und zehn Jahren verurteilt worden. Immer noch ein viel zu mildes Urteil, kritisiert nicht nur SAA, wo für solche Taten generell lebenslänglich und die Einstufung als besonders hinterhältiges Verbrechen gefordert wird. Opfer dürften zudem mit den teuren Operationen, die viele Familien an den Rand des Ruins bringen, nicht allein gelassen werden. Im Fall von Sonali sind die beiden Täter, die ihr Leben zerstörten, nach lediglich zwei Jahren Haft wieder auf freiem Fuß – ob es nach der neuen Gesetzesgrundlage zu einem weiteren Prozeß kommt, ist ungewiß.

* Aus: junge Welt, Freitag, 12. Juli 2013


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