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Heißer Frühling

Indien: Blitzbesuch des italienischen Außenministers und andere ungelöste Konflikte

Von Ashok Rajput, Neu-Delhi *

Die Frühlingstemperaturen in Indien haben die 30-Grad-Grenze erreicht, in einigen Landesteilen sogar schon überschritten. Noch heißer hingegen ist das Klima an der außen- und innenpolitischen sowie an der ökonomischen Front. Gehörig Staub aufgewirbelt hat die Mitteilung von Admiral Robert Willard, Kommandeur der US-Pazifik-Flotte, daß Spezialtruppen des Pentagon in Indien, Bangladesch, Nepal und Sri Lanka stationiert seien. Dementis aus allen vier Hauptstädten folgten zwar sofort, auch wenn sie nicht gerade überzeugend klangen. Die KPI (Marxistisch) forderte am Wochenende von der Regierung in Neu-Delhi, die Karten über offene und geheime militärische Zusammenarbeit mit den USA aufzudecken.

Das zweite außenpolitische »heiße Eisen« sind die Beziehungen zu Italien. Ungelöst bleibt der Konflikt nach einem schweren Vorfall im Februar auf See: Zwei Angehörige der italienischen Marine auf dem Frachter »MV Enrica Lexie« erschossen vor der südindischen Küste zwei Fischer aus Kerala in der Annahme, es handele sich um Piraten. Die beiden Sicherheitsposten befinden sich in indischer Untersuchungshaft. Der Streit geht darum, ob der Vorfall in internationalen oder indischen Gewässern passierte. Ein Blitzbesuch des italienischen Außenministers konnte keine Klärung bringen. Indien will die Täter nach Landesrecht vor Gericht bringen.

Einen starken außenpolitischen Akzent tragen die anhaltenden Proteste von Atomgegnern im Bundesland Tamil Nadu. Dort entsteht bei Kudankalam mit russischer Assistenz ein Kernkraftwerkskomplex. Zwei der insgesamt sechs Blöcke stehen kurz vor der Inbetriebnahme. Der Widerstand dagegen war in den letzten Wochen unüberhörbar und veranlaßte Neu-Delhi zum Eingreifen. Die Zentralregierung entzog vier Nichtregierungsorganisationen, die maßgeblich die Proteste initiierten, die Lizenz, weil sie angeblich Fonds aus den USA und Westeuropa zur Organisierung des Widerstands gegen Kudankalam mißbraucht hatten. Nicht nur Rußland vermutet, daß hinter den berechtigten Protesten der Anwohner westliche Firmen aus Konkurrenzgründen stecken könnten.

Etwas Positives gibt es zum Verhältnis zwischen Indien und Pakistan zu berichten. Islamabad hat mit der Aufstellung einer »Negativliste« für Waren und Güter den Indern signalisiert, ihnen im Handel den Meistbegünstigungsstatus einzuräumen. Das hat auf beiden Seiten der Grenze begeisterte Zustimmung gefunden. Indiens Industrie- und Kommerzminister Anand Sharma sprach von »einer der wesentlichen vertrauensbildenden Maßnahmen« zur Normalisierung der bilateralen Beziehungen. Die pakistanische Außenministerin Hina Rabbani Khar schätzte das ähnlich ein: Von diesem Schritt würden beide Völker profitieren. Man wolle nicht noch einmal 40 Jahre in Feindschaft leben.

Innenpolitisch sind die zu Ende gehenden Wahlen zu den Parlamenten in fünf Bundesstaaten wichtig. Sie entscheiden auch über die Stabilität der Zentralregierng. Ende Februar legte ein Generalstreik aller elf Gewerkschaften weite Landesteile lahm. Erstmals in der Geschichte des unabhängigen Landes zogen alle großen Verbände an einem Strang, weil sich die 1991 eingeleiteten marktwirtschaftlichen Reformen gravierend gegen die Interessen der Arbeiter richteten. Gefordert wurde u. a., die bestehenden Arbeitsgesetze strikt zu beachten, einen nationalen Fonds für soziale Sicherheit zu schaffen und eine Mindestlohngarantie einzuführen. Nahezu zeitgleich mit dem Generalstreik kam die Hiobsbotschaft, daß die Industrieproduktion von 6,4 Prozent im Vorjahr auf 0,5 Prozent geschrumpft ist. Es drohen drastische Benzinpreiserhöhungen von bis zu vier Rupien pro Liter, die die Inflation anheizen werden.

Die Würfel, ob Indien einen Teilboykott der Olympischen Spiele in London praktizieren wird, sind noch nicht gefallen. Aber es ist damit zu rechnen, daß das indische Team an der Eröffnung und am Abschluß der Spiele nicht teilnehmen wird – aus Protest gegen die Sponsorschaft des US-amerkanischen Multis Dow Chemicals. Diese Firma übernahm in der 1980er Jahren die indische Tochter des Chemiegiganten Union Carbide. Letztere ist der Verursacher der Giftgaskatastrophe 1984 in Bhopal, bei der 16000 Bürger starben und bis zu 500000 verletzt wurden. Union Carbide kam mit der Zahlung einer lächerlichen Entschädigung davon. Dow Chemicals lehnt jede Verantwortung ab.

* Aus: junge Welt, 5. März 2012


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