Schlechtes Zeugnis für Indiens Allianz
Auch scheidender Präsident zieht Bilanz
Von Hilmar König, Delhi *
Am 19. Juli wird in Indien ein neues Staatsoberhaupt gewählt. Die Amtszeit von Präsident Abdul
Kalam endet am 24. Juli – Zeit für Bilanzen.
Im Rashtrapati Bhawan, dem Präsidentenpalast in Delhi, hat Abdul Kalam damit begonnen, die fünf
Jahre seiner Präsidentschaft zu bilanzieren. Den Großteil davon erlebte er unter der Ägide der seit
2004 regierenden Vereinten Progressiven Allianz (VPA). Abdul Kalam lagen vor allem Bildung und
Förderung der Jugend am Herzen. Regierungschef Manmohan Singh hat dazu keine andere
Auffassung.
In seinem »Bilanzbericht 2004-2007 an das Volk« konstatierte er unlängst, das Gemeinsame
Minimalprogramm der VPA sei bislang »substanziell« verwirklicht worden, am Ende würde man
sogar mehr erreicht als versprochen haben. Kritisch merkte Singh lediglich die inflationäre
Entwicklung der letzten 15 Monate an. Er betonte auch, vom rasanten Wirtschaftswachstum
müssten alle sozialen Gruppen profitieren. Eine entsprechende Strategie sehe höhere Ausgaben für
Bildung und Gesundheit, mehr Investitionen in die Agrarwirtschaft und die ländlichen Gebiete, mehr
Jobs für die ländliche Jugend sowie stärkere Unterstützung für die sozial Schwachen vor. Singhs
Bericht fand in der Öffentlichkeit nicht die erwünschte Resonanz. In einer Rede vor Industriellen
appellierte er deshalb an deren soziale Verantwortlichkeit. Die Wirtschaft dürfe nicht nur Gewinne
scheffeln, sondern müsse mehr in die Arbeiterwohlfahrt investieren, sonst lege man die Saat für
soziale Unruhe.
Die Kampagne »Brecht eure Versprechen nicht!« präsentierte eine Gegenrechnung als Ergebnis der
Erkundungen von 500 Nichtregierungsorganisationen in 20 Unionsstaaten. Das »Volkszeugnis« gibt
der Allianz lediglich 30 von 100 möglichen Punkten und nennt Nachholebedarf auf den Gebieten
Bildung und Gesundheit, Beschäftigung und Beseitigung von Diskriminierung nach Kaste,
Geschlecht und Religion. Auch die KPI stellte fest, dass vom 9,2-Prozent-Zuwachs vor allem die
ohnehin schon reiche Schicht profitiere. Die ökonomischen Sonderzonen dienten lediglich dem in-
und ausländischen Big Business. Und in der Außenpolitik habe sich ein Pro-USA-Kurs durchgesetzt.
Die KPI(M) monierte die Vernachlässigung des Agrarsektors. Zwei Drittel der Bauern befänden sich
noch immer im Griff von privaten Geldverleihern, was einer der Gründe für die alarmierende
Selbstmordrate unter Klein- und Kleinstfarmern ist. Neoliberale Wirtschaftsreformen würden rigoros
fortgesetzt, und die Versuche, profitable Staatsbetriebe zu privatisieren, hielten an.
Selbst aus den Reihen der Kongresspartei, die in der VPA den Ton angibt, kam Unzufriedenheit. Der
linke Minister Mani Shankar Aiyar meinte, die Alarmglocken sollten angesichts der ungleichen
Verteilung der Früchte aus dem Wirtschaftswachstum geläutet werden. Wenn die Allianz keine
Kurskorrektur vornehme, könnte sie die Unterstützung des »Aam Admi« verlieren, des einfachen
Mannes, der für den Wahlsieg im Mai 2004 gesorgt hatte.
* Aus: Neues Deutschland, 20. Juni 2007
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