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Ein Jahr ohne Polio

Indien setzt im Kampf gegen die Viruskrankheit einen Meilenstein

Von Antje Stiebitz *

In Indien ist die Kinderlähmung offenbar ausgerottet. Seit genau einem Jahr sind in dem Land keine Fälle der auch Poliomyelitis genannten Krankheit mehr aufgetreten, berichtete jüngst die Weltgesundheitsorganisation.

Der Aufwand war groß, doch das Ergebnis war lohnend. Die wohl größte Impfkampagne in der Medizingeschichte trägt Früchte: Seit einem Jahr wurde in Indien kein neuer Poliio.Fall mehr festgestellt. Künftig könnte Indien von der Liste der Polio-Endemieländer gestrichen werden, so die Weltgesundheitsorganisation (WHO).

An jedem »Nationalen Impftag« besuchten fast 2,3 Millionen Impfärzte 209 Millionen Haushalte und verabreichten etwa 172 Millionen Kindern unter fünf Jahren eine Polio-Schluckimpfung. Unter dem Motto »Zwei Tropfen für den Schutz« warb der allseits beliebte Schauspieler Amitabh Bachchan in Werbespots und auf zahllosen Plakaten. Die Daten der »Nationalen Impftage« wurden mit Kreide an zahllose Häuserwände geschrieben. Alleine im Jahr 2011 stellte die indische Regierung 900 Millionen Polio-Schluckimpfungen zur Verfügung. Mobile Teams impften Kinder an Bahnhöfen, in Zügen und an Busbahnhöfen. Impfkampagnen gewaltigen Ausmaßes - und sie zeigen Erfolge.

Am 13. Februar 2011 wurde, laut WHO, in der Stadt Howrah in Westbengalen der letzte Poliofall gemeldet. Noch im Jahr 2009 hatte Indien mit 741 Polioerkrankungen noch mehr Polio-Fälle zu vermelden als alle anderen Länder auf der Welt. Auf der WHO-Liste der Polio-Endemieländer stehen neben Indien noch Pakistan, Afghanistan und Nigeria. Dort tritt Polio endemisch, also örtlich begrenzt, aber dauerhaft auf. Nun gelang dem Subkontinent in nur zwei Jahren der gewaltige Schritt, die Viruserkrankung, die zu bleibenden Lähmungserscheinungen führt, einzudämmen. Allerdings erklärte die WHO, dass ein Land erst als komplett »poliofrei« gelte, wenn drei Jahre lang keine Krankheitsfälle aufgetreten seien.

Die systematische Bekämpfung der Kinderlähmung in Indien begann erst in den späten 1990er Jahren. Bis dahin gab es jährlich 150 000 Fälle der durch Polioviren hervorgerufenen Infektionskrankheit. Bis 2003 konnten die Verbreitungsgebiete stark eingeschränkt werden und die gemeldeten Fälle kamen vor allem aus den besonders armen Bundesstaaten Uttar Pradesh und Bihar. In beiden Staaten werden monatlich 500 000 Kinder geboren, die erst einmal von der Schluckimpfung erreicht werden müssen.

Eine Reihe weiterer Faktoren erschweren einen flächendeckenden Impfschutz: 639 Millionen Menschen in Indien haben keinen Zugang zu sanitären Anlagen, was die Gefahr sich den Virus zuzuziehen, der durch Schmier- oder Tröpfcheninfektion übertragen wird, stark erhöht. Fehlende Hygiene und Mangelernährung führen dazu, dass in Indien viele Menschen unter Durchfall leiden. Dadurch wird der oral verabreichte Polio-Impfstoff vom Darm oft nicht vollständig aufgenommen und die Impfung muss häufiger eingenommen werden, bis die Immunität gewährleistet ist. Hinzu kommt, wie Autoren der Hilfsorganisation Unicef India berichten, dass in muslimischen Gemeinschaften Gerüchte kursierten, dass der Impfstoff »haraam« (unrein) sei oder gar zur Sterilisation der Kinder führe. Trotz dieser Hürden gelang es, die indische Bevölkerung von der Notwendigkeit der Schutzimpfung zu überzeugen.

Anders stellt sich die Situation in Pakistan und Afghanistan dar. Dort erkrankt eine wachsende Zahl der Menschen an dem Virus. Gründe hierfür sind in beiden Ländern die prekäre Sicherheitslage, die Armut und unzureichende Impfkampagnen. Die hohe Anzahl von Kriegsflüchtlingen in Afghanistan und die Flutkatastrophen der letzten zwei Jahre in Pakistan sind weitere Ursachen für den Anstieg der Poliofälle.

* Aus: neues deutschland, 7. Februar 2012


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