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"Seufzer der Erleichterung"

Indien jubelt nach dem Urteil gegen den Pharmakonzern Novartis

Von Hilmar König *

Die Inder und die weltweit agierende Organisation »Ärzte ohne Grenzen« jubeln. Westliche Arzneimittelfirmen hingegen ergehen sich in düsteren Prognosen. Mit dem Urteil des Höchsten Gerichtshofes in Neu-Delhi vom Montag gegen die Schweizer Pharmafirma Novartis im Patentstreit um das Krebsmedikament Glivec machte Indien seinem Namen als »Armenapotheke«, die vor allem Entwicklungsländern relativ billige pharmazeutische Nachahmeprodukte, sogenannte Generika, anbietet, alle Ehre.

Das Echo der elektronischen wie der Printmedien klang nahezu einhellig – Jubel und Beifall. Laut Times of India war in Indien und Dutzenden Entwicklungsländern ein »Seufzer der Erleichterung« zu hören. Ein »historischer Richterspruch«, zitierte das Blatt den Wirtschaftsminister Anand Sharma. Seiner Meinung nach gehen die indischen Patentgesetze konform mit den internationalen Verpflichtungen zum Schutz geistigen Eigentums. Die Regierung hatte im Jahre 2005 striktere Regeln verabschiedet, um Zugang zur Welthandelsorganisation (WTO) zu bekommen.

Von einem »wegweisenden Urteil«, das freie Fahrt für kostengünstige Generika bedeute, sprach The Hindu. Es sei ein Präzedenzfall gegen die sogenannte Evergreening-Praxis westlicher Pharmakonzerne, die durch geringfügige Modifikationen bei bestehenden Medikamenten deren Patentschutz immer weiter verlängern. »Das ist das beste Resultat für Patienten in Entwicklungsländern, da weniger Patente für existierende Medikamente ausgestellt werden«, kommentierte Leena Menghaney, Kampagnenmanagerin für Indien bei der Organisation »Ärzte ohne Grenzen«, im indischen Nachrichtensender NDTV. Immerhin würden Generika aus Indien, darunter auch Präparate gegen HIV, in die ganze Welt exportiert. Grund zum Jubeln hätten jetzt Patienten in Indien und in Entwicklungsländern wie Brasilien, in Afrika südlich der Sahara oder in Thailand.

Das Novartis-Original Glivec kostet 3125 Euro für eine monatliche Dosis, als indisches Generikum 60 Euro. Selbst das ist freilich für einen Großteil der indischen Bevölkerung, von der rund 40 Prozent gerade mal einen Euro am Tag verdienen, unerschwinglich. Nach indischen Angaben sind im Land 300000 Krebskranke auf Glivec angewiesen. Novartis teilte demgegenüber mit, 95 Prozent der 16000 indischen Patienten, denen Glivec verordnet wird, würden das Medikament im Rahmen des Spendenprogramms der Firma kostenlos bekommen.

Der Managing Director von Novartis India Ltd., Ranjit Shahani, sagte auf einer Pressekonferenz in Mumbai, in Indien sei »das Ökosystem für geistiges Eigentum nicht sehr ermutigend«. Seine Firma werde nun vorsichtig mit Investitionen in dem Land sein, besonders bei der Einführung neuer Medikamente. Das gelte nicht nur für Novartis. Er glaube nicht, daß irgendein globales Unternehmen Forschungsarbeit in Indien plane. Ihm pflichtet Erik Gordon von der Ross School of Business an der Universität von Michigan bei. Das indische Urteil bedeute, daß es keinen Grund mehr gebe, in Indien Forschung und Entwicklung zu betreiben, weil dessen »nationale Politik sich feindlich zu Medizinpatenten« verhalte. Zuvor mußten schon Pharmariesen wie Bayer oder Pfizer ähnliche Niederlagen wie Novartis vor indischen Gerichten einstecken.

Die westliche Pharmaindustrie sieht sich in der Zwickmühle: Sie beklagt einerseits, daß Indien »routinemäßig Handelsrichtlinien verletzt« und behält andererseits den mit rund 13 Milliarden Dollar Jahresumsatz höchst lukrativen Markt dieses Landes im Visier. Dieser könnte nach Prognosen von PricewaterhouseCoopers bis 2020 auf ein Volumen von 74 Milliarden Dollar wachsen. Das Tauziehen um die Pfründe wird deshalb anhalten.

Vor diesem Hintergrund warb ­Indiens Finanzminister Palaniappan Chidambaram zu Wochenbeginn in Tokio um mehr Auslandsinvestitionen. Die indische Wirtschaft könne locker jährlich 50 Milliarden Dollar an Direktinvestitionen absorbieren, sagte er. Zumindest bei der ausländischen Pharmaindustrie wird er wohl vorerst damit kaum Gehör finden. Im Gegensatz zu den jubelnden indischen Zeitungen warnte The Mint: Der jüngste Erfolg gegen Novartis könnte sich als kurzfristig erweisen, wenn es der EU bei den laufenden Verhandlungen um ein Freihandelsabkommen mit Indien gelinge, zollrechtlich Produkte beschlagnahmen zu lassen, die im Verdacht stehen, gegen den Schutz geistigen Eigentums zu verstoßen.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 3. April 2013

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