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Langwieriger Volkskrieg

Hintergrund. In Indien kämpfen maoistische Guerillagruppen für eine fundamentale Umgestaltung der Gesellschaft

Von John Neelsen *

In ihrer 2003 veröffentlichten, wegweisenden Studie »Dreaming with BRICS« prognostizierte die Investment Bank Goldman Sachs den wirtschaftlichen Niedergang des Westens und den Aufstieg der jungen, bevölkerungsreichen Nationen, wobei langfristig Indien nicht nur Rußland und Brasilien, sondern auch China als weltweit größte Wirtschaftsmacht überholen werde. Jährliche Wachstumsraten von sieben bis acht Prozent seit der neoliberalen Weltmarktöffnung des Landes Ende der 1980er stützen diese Vorhersage. Indien ist Mitglied der G20 und nimmt mit seinen 1,2 Milliarden Menschen heute den neunten Rang unter den Volkswirtschaften ein.

Nur ein Jahr nach Erscheinen besagter Studie warnte der indische Premier Manmohan Singh, die langfristig größte Gefahr für Indiens Zukunft gehe von den Naxaliten aus. Gemeint ist damit eine militante linke Gruppierung, die auf einen Aufstand von Stämmen und der Kaste der »Unberührbaren« angehörigen Landarbeitern und Kleinbauern in Naxalbari in Westbengalen 1967 zurückzuführen ist.

Eben im Jahre 2004 hatten sich trotz der seinerzeitigen Niederschlagung des Aufstandes und späteren vielfachen Spaltung die militantesten Nachfolgeorganisationen zur Communist Party of India (Maoist) zusammengeschlossen. Für sie profitiert nur eine kleine Minderheit, zudem auf Kosten der Mehrheit von dem Wirtschaftswachstum, eine Entwicklung, die nur durch eine revolutionäre, gewaltsame Umgestaltung der bestehenden Ordnung umgekehrt werden könne.

Semikolonial, halbfeudal

Die Naxaliten charakterisieren die indische Gesellschaft als »semi-kolonial« und »semi-feudal«. Ihrem Verständnis nach ist sie indirekt vom Imperialismus – in Gestalt der Bretton-Woods-Institutionen (IWF und WB) sowie der Welthandelsorganisation – beherrscht, direkt immer stärker von (westlichen) transnationalen Konzernen durchdrungen. Zwar wurde die territoriale Fremdherrschaft abgeworfen, nicht aber die Abhängigkeit und Ausbeutung zugunsten ausländischer Interessen. Deren lokale Akteure sind in den obersten Rängen der etablierten Parteien, von Staat und Bürokratie sowie in der Großbourgeoisie (Kompradoren) zu finden. Diese haben eine an nationalen Interessen ausgerichtete Politik verhindert, eine durchgängige Industrialisierung vereitelt, eine vollständige kapitalistische und bürgerlich-demokratische Entwicklung blockiert. Während der Prozeß des Übergangs zum Kapitalismus stockt, wurden die feudalen Produktionsverhältnisse, vor allem das Kastensystem, verfestigt. Materiell profitiert haben die typischerweise den obersten drei Varnas (Kasten) der »Wiedergeborenen« (Priester, Krieger, Händler) zuzurechnenden großen Grundeigentümer, Händler und Geldverleiher, die Träger und politisch einflußreichsten Befürworter der bestehenden politökonomischen Ordnung sind.

Empirischer Ausgangspunkt der maoistischen Sicht ist die Tatsache, daß die indische Wirtschaftsstruktur weniger einer modernen Industriegesellschaft als der einer aus der Mitte des 19. Jahrhunderts gleicht. Es dominiert weiterhin der Agrarsektor mit einem Anteil von mehr als 60 Prozent der Erwerbspersonen, während sich nur 17 Prozent im Sekundär- und 22 Prozent im Dienstleistungssektor befinden. Auch der Berufsstatus bestätigt dieses Bild: Denn statt der typischen 80–90 Prozent Lohn- und Gehaltsempfänger und einem unbedeutenden Anteil kleiner Selbständiger neben einer minimalen Zahl großer Konzerne und Kapitaleigner dominieren hier auf Dauer die kleinen Selbständigen. Dabei verbirgt sich hinter der formellen Selbständigkeit eine wachsende, in Alternativlosigkeit gründende Misere. Diese basiert auf der völlig unzureichenden Nachfrage nach Arbeitskräften in dauerhaften und den gesetzlichen Vorgaben entsprechenden Positionen, dem formellen Sektor. Hier sind 26 Millionen (das sind weniger als acht Prozent) der über 400 Millionen Erwerbspersonen beschäftigt, davon 70 Prozent beim Staat. Die neoliberale Öffnung hat diese Situation nicht verbessert, sondern unter dem Druck der internationalen Konkurrenz durch steigende Kapitalintensität sogar verschärft. So sollen im laufenden Fünfjahrplan bis 2012 insgesamt lediglich zwei Millionen im Privatsektor, dazu weitere fünf Millionen Menschen im öffentlichen Dienst unterkommen. Die weitaus meisten der 15 Millionen jährlichen Neuzugänge auf dem Arbeitsmarkt werden damit ein Auskommen im informellen Sektor finden müssen. Ungeachtet höherer Ausbildung und Erwartungen werden sie in den städtischen Slums oder auf dem übervölkerten Land als Arbeitslose, Scheinselbständige oder superausgebeutete Tagelöhner ein von Unsicherheit und Prekarität gezeichnetes Leben fristen. Denn während die Gehälter von Managern und Ingenieuren in den letzten 30 Jahren merklich anstiegen, wurde der Anteil der Löhne in der Industrie halbiert.

Während das Bruttosozialprodukt steigt, vertiefen sich Klassenspaltung und soziale Apartheid. Den millionenschweren Superreichen folgen 4,5 Millionen Selbständige und oberste Angestellte mit einem jeweiligen Vermögen von 100000 Dollar (International Herald Tribune, IHT, 7.4.2011) sowie eine kaufkräftige Mittelschicht von 150 (je nach Maßstab bis zu 250) Millionen. Die »restlichen« über 900 Millionen Menschen in Bharat (der indische Name für »Indien«) leben zu zwei Dritteln auf dem Land, die Mehrheit ohne Strom, fließendes Wasser und sanitäre Einrichtungen, viele in absoluter Armut, geplagt von Unterernähung, hoher Kinder- und Müttersterblichkeit, ausgeprägter Analphabetenquote, besonders bei Frauen.

Seit 1951 ist zwar der Anteil der landwirtschaftlichen Erwerbstätigen von 70 auf 60 Prozent gesunken, ihre Zahl dagegen um fast 150 Prozent auf über 235 Millionen gestiegen. Dabei hat sich die Zahl der landlosen Arbeiter vervierfacht. Die klassenspezifische Kehrseite offenbart sich in Tageslöhnen von 20 Cents, Pachtzahlungen von bis zu 60 Prozent der Ernte, Wucherzinsen von jährlich 36 Prozent (teils 60 bis 100 Prozent, IHT, 18.11.10), Schuldknechtschaft, Landverlust, Kinderarbeit und massenhaften Selbstmorden. Von den Landreformen mit dem Ziel legalisierter Besitztitel, niedriger Eigentumsobergrenzen und Umverteilung zugunsten der Landlosen und Kleinbauern haben nur wenige profitiert (unter zehn Prozent); Überschußland wurde nur weniges ausgemacht, verstaatlicht noch weniger, zudem großzügig entschädigt. Nur ganz wenig wurde umverteilt. (Datt/Sundharam 2010, 492ff, 553ff)

Neue demokratische Revolution

Diese sozialökonomischen Sachverhalte werden von den Maoisten auf vier zentrale Widersprüche zurückgeführt: zwischen (1) Imperialisten und indischem Volk, (2) Feudalismus und breiten Massen, (3) Kapital und Arbeit und (4) innerhalb der herrschenden Klasse.

Sie mit friedlichen Mitteln innerhalb der gegebenen politischen Ordnung zu lösen, erscheint ihnen angesichts der herrschenden Klassenverhältnisse und der Erfahrungen der verschiedenen kommunistischen Parteien mit dem Parlamentarismus eine Illusion. Endeten doch alle derartigen Versuche in Kollaboration und Anpassung an die herrschenden Verhältnisse. So proklamieren sie die Eroberung der politischen Macht im Zuge eines langen Bürgerkrieges (»protracted war«) zwecks Verwirklichung der »neuen demokratischen Revolution« als historisch notwendiger Etappe zur Überwindung der ersten beiden Hauptwidersprüche, Imperialismus und Feudalismus und als Vorstufe einer erst darauf möglichen sozialistischen Transformation. Ihre zentrale Aufgabe besteht darin, eine agrarische Revolution neben einer stark an realsozialistische Erfahrungen anknüpfenden Wirtschaftspolitik unter staatlicher Lenkung sowie demokratische politische Verhältnisse durchzusetzen. Hauptträger der Entwicklung ist eine Arbeiter-Bauern-Allianz unter der Führung der maoistischen Partei, mit Kleinbauern und Landarbeitern als Kern und dem städtischen Proletariat in tonangebender Rolle. In dem Kampf zum Umsturz des herrschenden Klassenbündnisses von Imperialisten, Feudalen, Bürokraten und Kompradorenbourgeoisie bieten sich qua Klassenlage und -interessen mittlere und reiche Bauern, Kleinbürger und Kapitalisten bis hin zur Nationalbourgeoisie als Bündnispartner an.

Bei der Frage der strategischen Umsetzung waren die Maoisten bei der Analyse der Konfliktkonstellationen in der indischen Gesellschaft auf vier besonders unterdrückte und daher für den Kampf mobilisierbare Gruppen gestoßen: Adivasis (Stammesangehörige oder indigene Völker), »Unberührbare«, Minoritäten (vor allem reli­giöse) und Frauen. Die Verschiedenheit der Widersprüche erfordert unterschiedliche Lösungen. So setzen sich die Naxaliten gegen das Patriarchat ein und haben schätzungsweise 30 Prozent Frauen unter ihren Kadern. Bezüglich der (religiösen) Minoritäten kämpfen sie gegen den Hindu-Fundamentalismus (Hindutva) und für eine säkulare Ordnung. Bei Adivasis und »Unberührbaren« sehen sie das sozial-politische Fundament der Gesellschaft akut berührt: So treten sie bei den indigenen Völkern für das Selbstbestimmungsrecht bis hin zur Sezession ein; bei den »Unberührbaren« geht es um die Abschaffung des Kastensystems als Inbegriff der feudalen Produktionsverhältnisse und die Verwirklichung bürgerlicher Rechte.

Nach Ansicht der Maoisten sind die Fußtruppen und der Hebel im langfristigen militärischen Kampf um die Macht im Staat unter diesen beiden marginalisierten, sozial und ökonomisch am meisten unterdrückten Gruppen von über 200 Millionen »Unberührbaren« und 95 Millionen Stammes­angehörigen, das sind 17 bzw. acht Prozent der Bevölkerung, auf dem Lande zu suchen.

»Unberührbare« sind traditionell von Landbesitz ausgeschlossen, typischerweise als Landarbeiter oder in niederen (unreinen) Dienstleistungsberufen oder z.B. im Straßenbau tätig. Die Politik der »positiven Diskriminierung« in Form von 25 Prozent reservierten Plätzen in staatlichen Ausbildungs-, Verwaltungs- und politischen Institutionen hat in beiden Gruppen einer kleinen Elite zum Aufstieg in die herrschende Klasse verholfen. Gleichzeitig haben sie unter Überwindung ihrer traditionellen wechselseitigen Abkapselung ihr politisches Einfluß- und Sanktionspotential durch Gründung eigener Parteien zu bündeln vermocht. Umgekehrt haben ihnen das neue Selbstbewußtsein, Quotenregelung, Regierungsbeteiligung und die Durchsetzung eigener Bundesstaaten (im Nordosten, zuletzt im Jahr 2000 mit Uttarakhand, Jharkhand und Chhattisgarh) in vielen Fällen die Feindschaft der ihnen traditionell religiös und wirtschaftlich übergeordneten Kastenvertreter eingebracht. Neben gesteigerte Abpressung von Mehrarbeit tritt– begünstigt durch ineffiziente oder auch unwillige Verfolgungsbehörden (200000 anhängige Verfahren, Verurteilungsquote zwei Prozent) – nicht selten die Einschüchterung durch physische Gewalt, oft in brutalster Form. So wurden die »Unberührbaren« von den Naxaliten als zentrale Zielgruppe identifiziert: klassenspezifisch als Proletarier, kastenspezifisch wegen ihres Status und der virulenten Konflikte mit den oberen Landbesitzerkasten, die Mitte der 1990er eigens Kampforganisationen gegen sie ins Feld schickten.

Recht auf Selbstbestimmung

Was die indigenen Völker betrifft, so steht die Anerkennung ihres Rechts auf Selbstbestimmung durch die Naxaliten in völligem Gegensatz zum Verständnis und der Politik des offiziellen Indien, das den Zustrom Fremder als Unternehmer oder Arbeitssuchende zum Schaden der einheimischen Völker in deren Siedlungsgebiete zugelassen hat. Die Marginalisierung der sowieso schon nach Wirtschaftskraft, Ausbildung und Lebensstandard Benachteiligten, wegen ihrer Sprache und Kultur Diskriminierten wurde im Zuge der privatkapitalistischen Entwicklung noch verstärkt. Die mehrheitlich von Stämmen besiedelten Gebiete bergen über 80 Prozent der Rohstoffvorkommen des Landes. Ausländisches und einheimisches Kapital zum Abbau und zur Weiterverarbeitung von Uran, Bauxit, Kohle etc. anzuziehen, hier Sonderwirtschaftszonen einzurichten, Staudämme zur Energieerzeugung anzulegen, dafür brauchte man schnell viel und billiges Land. Der Staat garantierte dessen Bereitstellung ohne Rücksicht auf Interessen, Rechte und Lebensweise der Ortsansässigen. Damit aber wurde die Axt an die traditionelle Lebensweise und Kultur der indigenen Völker und ihr besonderes, über das formelle Stammeseigentum hinausgehende, ihre kollektive Identität stiftende Verhältnis zum Boden gelegt. 40 Millionen Menschen, darunter 40 Prozent Adivasis, wurden im Laufe der Zeit enteignet und zwangsweise auf nicht selten unfruchtbares Land ohne Infrastruktur umgesiedelt, Kompensationsversprechen in drei von vier Fällen nicht eingehalten. Angesichts weit entfernter Gerichte und einer in die Kolonialzeit zurückreichenden kriegerischen Tradition wurde Widerstand zur Existenzfrage, der mit Gewalt zu brechen versucht wird. Ein quasi rechtsfreier Raum mit Straflosigkeit für die Sicherheitskräfte und mit ihnen kollaborierende Milizen oder Spezialeinheiten, inklusive Militär, wurde umso leichter geschaffen, wo sich die Widerstandsbekämpfung als Reaktion auf eine »terroristische« Gefahr begründen ließ.

Aus maoistischer Sicht boten sich die Adivasis angesichts deren verschärfter Konflikte mit dem Staat umso mehr als Zielgruppe, Basis und Bündnispartner an, als sie in weitgehend vernachlässigten, meist undurchdringlichen Dschungelgebieten leben. Die Defizite an staatlichen Einrichtungen, angefangen bei Infrastruktur, Verwaltung und Polizei, Schulen und Gesundheitswesen, bieten umgekehrt günstige Voraussetzungen für den Aufbau einer Guerillaarmee und die Gewinnung befreiter Gebiete nicht zuletzt angesichts der (noch) sehr ungleichen Kräfteverhältnisse; beispielhaft dafür steht das wenig zugängliche 92000 Quadratkilometer große, die Ländergrenzen von Chhattisgarh, Orissa, Maharashtra und Andra Pradesh überschreitende Gebiet von Dandakaranya.

Mit diesen Gebieten als Kern haben sich die Maoisten in einem breiten Gürtel von der Grenze Nepals durch das östliche Zentralindien bis weit in den Süden eine militärische Basis mit teilweise eigenen Verwaltungsstrukturen geschaffen.

Gegen den »Legalismus«

Die indischen Maoisten sind nach dem Aufstand von militanten Land- und Plantagenarbeitern, Kleinbauern und Pächtern in Naxalbari im Grenzgebiet zu Nepal unter Führung einer radikalen Gruppe um Charu Mazumdar und Kanu Sanyal in der 1964 von der CPI abgespaltenen CPI (Marxist) entstanden.

Aus der Retrospektive handelte es sich bei dem Aufstand in der Tat um ein Vorbild: Die Akteure waren vor allem Stammesangehörige (hier Santhals) und Unberührbare, die als Landarbeiter, Kleinbauern und Pächter mit Grundeigentümern um Landrechte bzw. Höhe der Pacht kämpften und zur Verteidigung ihrer Interessen ab Oktober 1966 Bauernkomitees gegründet hatten. Zahlreichen Landbesetzungen und der Beschlagnahme von Reisvorräten im März 1967 folgten gewaltsame Zusammenstöße mit Grundbesitzern und lokalen Polizeikräften, bei denen Tote vor allem auf seiten der Bauern zu beklagen waren. Im Juli wurde der Aufstand durch ein massives Aufgebot an Polizei- und Grenztruppen durch die von der CPI (Marxist) angeführte Landesregierung in Kalkutta, die den Aufstand als »falsch, zerstörerisch und anti-marxistisch-leninistisch« verurteilte, zerschlagen, ihre Anführer gefangengesetzt. Während die CPI (Marxist) zunehmend auf die friedliche Transformation der indischen Gesellschaft setzte und den parlamentarischen Weg als Regierungspartei in drei Bundesstaaten (Westbengalen, Tripura, Kerala) beschritt, wurde 1969 die CPI (ML) [Marxist-Leninist] als Partei von Berufsrevolutionären aus dem Untergrund heraus gegründet. Sie diagnostizierte die Hauptwidersprüche der Gesellschaft in deren semi-kolonialem und semi-feudalem Charakter und proklamierte den bewaffneten Kampf in ländlichen Gebieten mit Landbesetzungen, Ernteaneignung und schließlich auch der Auslöschung von Klassenfeinden. Wo sie nicht schnell der militärischen Repression durch die Landesregierung, in deren Gefolge auch Charu Mazumdar 1972 in Polizeigewahrsam ums Leben kam, zum Opfer fiel, löste sie sich in eine Vielzahl von Splittergruppen auf. Aus den über 30 Nachfolgeorganisationen schälten sich in Laufe der Zeit zwei Hauptströmungen heraus, die sich vornehmlich hinsichtlich der Rolle des bewaffneten Kampfes unterschieden. So wollten die einen – zu nennen sind vor allem die CPI (ML)-Liberation, die CPI (ML)-New Democracy und die CPI (ML)-Kanu Sanyal) – ihn nur als letztes und defensives Mittel eingesetzt wissen und begannen, dem Parlamentarismus eine positive Bedeutung zuzumessen, daher sind sie zunehmend aus dem Untergrund aufgetaucht.

Gegen diesen als legalistisch und reformistisch verworfenen Weg haben die beiden Gruppen Peoples’ War Group und das Maoist Communist Centre sowie die kleinere CPI (ML)-Party Unity am bewaffneten Kampf und der Strategie des »protracted war« festgehalten. 2004 vereinigten sie sich zur CPI (Maoist), deren Zahl von 15000 Kämpfern und weiteren 40000 Aktivisten sich seitdem drastisch erhöht hat. Mit dem Ziel der Eroberung der politischen Macht im Bund vor Augen, liegt ihr Hauptaugenmerk auf dem Aufbau einer People’s Guerilla Liberation Army (PGLA), die, von einer vom Zentralkomitee gewählten Central Military Commission angeführt, als politisch-militärisches Instrument zur Verwirklichung der »new democratic revolution« dienen soll. Darüber hinaus wurden in bisher rund der Hälfte der Bundesstaaten eigene »state committees« sowie bisher zwei Landesgrenzen überschreitende »special area committees« (SAC) in Gebieten besonderer strategischer Bedeutung gegründet.

Wie Fische im Wasser

Regionen, in denen die CPI (Maoist) faktisch die Macht übernommen hat, wurden zu »Special Guerilla Zones« (SGZ) mit »Special Zonal Committees« erklärt, von denen bis Ende 2008 drei bekannt geworden sind (North Telengana; Andra Pradesh/Orissa und Dandakaranya, das angrenzende Gebiete in Chhattishgarh, Orissa und Maharashtra). Die Tätigkeiten der verschiedenen Komitees werden durch fünf Regionalbüros koordiniert.

Generell läßt sich feststellen, daß die Zahl der bewaffneten Aktionen sich in den letzten 30 Jahren nach Auskunft des Innenministeriums im Jahresmittel von knapp 300 auf heute rund 1600 mehr als verfünffacht hat. Ähnliches gilt für die Zahl der Opfer, die sich von etwa 80 pro Jahr Anfang der 80er über 400 (1990er) auf über 820 pro Jahr im letzten Jahrzehnt erhöht hat. Mögen diese offiziellen Angaben auch nur einen Bruchteil der tatsächlichen Opfer umfassen, ihre Gesamtzahl (12000) ist höher als die in den beiden anderen Krisengebieten Indiens, im Nordosten oder selbst in Kaschmir. Beunruhigender für die Regierung muß die nach der Gründung der Partei drastisch angestiegene Zahl von betroffenen Distrikten in immer mehr Bundesstaaten sein.

Das Land zu erobern, um schließlich die Städte als Festungen des Gegners einzukreisen und einzunehmen, ist nur durch eine tiefe Verwurzelung der Guerilla in der Bevölkerung (wie Fische im Wasser) trotz interner Widerstände, Lasten (Besteuerung) und Druck durch staatliche Repres­sion möglich. Diese wird einerseits durch fühlbar positive Maßnahmen der Maoisten, andererseits durch die repressive Politik der Regierung sichergestellt. Zur ersteren gehören Landaneignung und Umverteilung, Hilfe bei der Landwirtschaft, Erziehung und die Einrichtung von Volksgerichten. Daneben beteiligen sie sich an Aktionen zur Verbesserung des Lebensstandards und drückten regional eine Verdopplung der Tageslöhne durch. Neben Überfällen auf Polizeistationen und Munitionslager machten die Naxaliten vor allem durch erfolgreiche Aufrufe zur Blockierung von Straßen und Zerstörung von Eisenbahnknotenpunkten sowie Telekommunikationsanlagen von sich reden, die tagelang das gesamte regionale Geschäftsleben lähmten. Darüber hinaus sind eine Reihe von legalen Vorfeldorganisationen im Kulturbereich, unter Frauen, Studierenden und zur Interessenvertretung unter Landarbeitern eingerichtet worden.

Die Naxaliten stellen sechs Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit Indiens und einer Politik, die, zunächst unter starker staatlicher Intervention, seit den späten 1980er Jahren mit Hilfe der neoliberalen Weltmarktöffnung eine nachholende ökonomische Entwicklung im Verbund mit Eliminierung absoluter Armut und Chancengleichheit umsetzen wollte, Fragen nach deren Ergebnissen. Angesichts sich eher verschärfender Ungleichheit, zunehmender Klassen- und Kastenkonflikte, fortdauernder sozialer Unsicherheit mit einem auch zukünftig dominanten Agrarsektor stellen sie die Losung von »India shining« und die Aspirationen auf Weltgeltung als Träume einer kleinen urbanen kosmopolitischen Minderheit im Gegensatz zur Misere und Hoffnungslosigkeit von 80 Prozent der Bevölkerung in Frage. Sie machen dafür zum einen die Herrschafts- und Produktionsverhältnisse einer abhängigen Dritte-Welt-Gesellschaft verantwortlich. Sie resümieren zum anderen das Scheitern der parlamentarisch-demokratischen Ordnung zur Systemtransformation zugunsten der Entrechteten.

Damit sind in einer Zeit des vorgeblichen Endes von Ideologien bzw. einer neoliberal geprägten Ordnungspolitik zentrale Fragen nach Rolle und Charakter des Staates, nach Klassen- und Ausbeutungsverhältnissen, Voraussetzungen und Strategien einer Entwicklung zugunsten der Massen gestellt. Daß damit zunächst gesellschaftliche Konflikte erst einmal angeheizt, eine Militarisierung ihrer Lösung, nicht zuletzt seitens der herrschenden Klassen angesagt ist, braucht nicht zu verwundern. Wer die Opfer einer »terroristischen Politik« den Aufbegehrenden anzulasten versucht, übersieht zuerst, daß es sich um reaktive Gewalt der Unterdrückten handelt, und darüber hinaus, daß die von ihnen verursachten Opfer im Verhältnis zu denen struktureller Gewalt nur einen Bruchteil ausmachen.

Literatur:
  • Anand, Vinod: Naxalite ideology, strategy and tactics, S. 19–32, in: Security in South Asia, Studies and Comments 9, Hanns-Seidel-Stiftung, München 2009
  • Chakravarti, Sudeep, Red Sun, Neu-Delhi 2009
  • Datt, Ruddar und Sundharam, K. P. M.: Indian Economy, Chand & Co, New Delhi 2010
  • Getzschmann, Lutz: Indien und die Naxaliten, isp-Verlag, Köln 2011
  • Mehra, Ajay: India’s Experiment with Revolution, Heidelberg Papers in South Asian and Comparative Politics, working paper 40, 2008
  • Neelsen, John, Demokratischer Aufbruch in Südasien? – Bürgerliche Herrschaft in peripheren Gesellschaftsformationen, S. 74–99, in: Österreichisches Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (ÖSFK), LIT Verlag, Wien/Berlin 2010
  • Roy, Arundhati: Gandhi, but with guns, The Guardian (Artikelserie, März/April 2010)
  • CPI (Maoist): »Party Programme« und »­Strategy and Tactics of the Indian Revolu­tion«
* Prof. Dr. John P. Neelsen lehrt Soziologie an der Universität Tübingen.

Aus: junge Welt, 26. April 2011


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INDIEN – Perspektiven einer aufsteigenden Weltmacht aus der Peripherie
Von John P.Neelsen (16. November 2005)




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