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Teilerfolg für Narmada-Retter

Protest hat umstrittenes Staudammprojekt wieder auf politische Tagesordnung in Indien gesetzt

Von Stefan Mentschel, Delhi*

Die bekannte Bürgerrechtlerin Medha Patkar und ihre Bewegung zur Rettung des Narmada-Flusses haben dieser Tage eindrucksvoll auf das Problem verwehrter Entschädigungen für zehntausende Vertriebene der Staudammprojekte in Zentralindien aufmerksam gemacht. Vor dem Obersten Gericht des Landes erzielten die Aktivisten jetzt einen Teilerfolg.

Zu Wochenbeginn herrschte am Jantar Mantar Aufbruchstimmung. Seit Mitte März hatten mehrere hundert Aktivisten und Sympathisanten der Bewegung zur Rettung des Narmada-Flusses, der »Narmada Bachao Andolan« (NBA), vor der historischen Sternwarte im Herzen Delhis für die Rechte der durch ein umstrittenes Staudammprojekt Vertriebenen demonstriert. Nun bereiteten sie sich auf die Rückreise ins zentralindische Narmada-Tal vor, wo die NBA seit 20 Jahren gegen Großstaudämme kämpft. Entlang des Flusses sollen 30 riesige, 135 mittlere und rund 3000 kleine Dämme entstehen, die die Lebensgrundlage Hunderttausender bedrohen.

Auslöser für den jüngsten Protest war eine Entscheidung der zuständigen Behörden, den Sardar Sarovar Damm in den kommenden drei Monaten von 110 auf 122 Meter zu erhöhen. Für rund 35 000 Familien würde das die sofortige Umsiedlung bedeuten, bevor ihre Dörfer mit dem im Juli einsetzenden Monsun in den Fluten des Stausees versinken.

»Die Behörden können eine solche Entscheidung nicht treffen, ohne die Betroffenen für den Verlust ihres Landes zu entschädigen«, betont Medha Patkar. Laut Gesetz stehen jeder Familie zwei Hektar fruchtbares Ackerland zur Verfügung. Doch die Landesregierungen hätten nichts getan, um der Mehrheit angemessenen Ersatz zur Verfügung zu stellen, so die Bürgerrechtlerin. Und ihr Mitstreiter Vasant Kulkarni fragt: »Wenn die seit den 80er Jahren vertriebenen 11 000 Familien bislang nicht entschädigt wurden, wie soll dann für weitere 35 000 Familien in nur drei Monaten Ersatzland gefunden werden?«

Mit der Forderung nach Baustopp und Entschädigung protestierten die NBA-Aktivsten, viele von ihnen selbst von Umsiedlung und Vertreibung betroffen, tagelang in der indischen Hauptstadt – ohne Erfolg. Auch ein Treffen mit Premier Manmohan Singh endete ergebnislos. Erst als sich Medha Patkar am 29. März entschloss, in den Hungerstreik zu treten, begann sich das Blatt zu wenden. Im Lauf der Tage bekundeten immer mehr Menschen ihre Solidarität mit den Aktivisten. Bürgerrechtler, Studenten und Professoren, Künstler sowie Vertreter politischer Parteien und Organisationen schlossen sich dem Protest an. Mehrere Abgeordnete, unter ihnen namhafte Politiker linker Parteien, auf deren Unterstützung die Regierung im Parlament angewiesen ist, forderten von Premierminister Manmohan Singh, den Bau zu stoppen, bis die Vertriebenen entschädigt sind. Auch die Medien begannen, ausführlich über das Ereignis zu berichten.

Der zunehmend unter Handlungsdruck stehende Premier entsandte am 7. April drei seiner Minister ins Narmada-Tal. Und obwohl die Spitzenpolitiker nur einen einzigen Tag Zeit hatten, fanden sie zahlreiche Unregelmäßigkeiten. Unter anderem bemängelten sie, dass tausende Betroffene lediglich »auf dem Papier« umgesiedelt worden seien, denn die bereit gestellten Siedlungen seien unbewohnbar. »Dieser Bericht könnte von uns sein«, so NBA-Aktivistin Dipti gegenüber dem ND. Am Montag nun hat der Oberste Gerichtshof entschieden: Vorerst wird weiter gebaut. Allerdings müssen die Kompensationsmaßnahmen in angemessenem Umfang umgesetzt werden. Sollte das nicht geschehen, können die Arbeiten gestoppt werden. Eine weitere Anhörung soll am 1. Mai stattfinden.

Zwar hätten dem Gericht zahlreiche Beweise vorgelegen, um den Bau am Sardar Sarovar Damm sofort einstellen zu lassen, ärgert sich Dipti. Gleichzeitig wertet die junge NBA-Aktivistin die Entscheidung als Teilerfolg. Die eindeutige Forderung der Richter nach angemessener Entschädigung als Bedingung für den Weiterbau sei ein ermutigendes Zeichen für die Bewegung, denn nun seien die Unionsstaaten zum Handeln gezwungen. Medha Patkar hat nach der Entscheidung ihren Hungerstreik beendet. Im Narmada-Tal will sie die Pol-Khol-Kampagne, die Enthüllungs-Kampagne starten, um Korruption und Millionen-Betrug im Rahmen der Entschädigungsprogramme endgültig ans Tageslicht zu bringen. Unterstützt wird die NBA dabei von einer breiten Öffentlichkeit, die sie am Jantar Mantar für sich gewinnen konnte.

* Aus: Neues Deutschland, 20. April 2006

Siehe auch:
"Wir sind nach wie vor eine starke Bewegung"
Bürgerrechtler Agarwal über den Kampf gegen ein gigantisches Staudammprojekt in Indien (8. Januar 2005)


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