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Wo Träume zu Alpträumen werden

Mumbai - Moloch und Hoffnungsträger zugleich. Wo der Handel ebenso blüht wie die Armut. Ein Streifzug durch die größte Metropole des indischen Subkontinents

Von Thomas Berger *

Der Taxifahrer, ein graubärtiger Muslim, hebt resignierend die Hände und blickt dann starr nach vorne. Es geht im Schneckentempo voran, vier, vielleicht fünf Meter, gut eine Autolänge. Nun steht der Wagen wieder, und mit ihm alle anderen Fahrzeuge ringsum. Das schwarz-gelbe Taxi eingekeilt in einen Wust aus privaten Pkw, Bussen und Mopeds - zur Linken sitzt eine junge Frau auf dem Sozius, noch bis vor wenigen Jahren kein alltägliches Bild. Als Schutz vor der Abgaswolke hat sie ein Tuch vor Mund und Nase geklemmt.

Verkehrsinfarkt

Verkehr in Mumbai bedeutet eine harte Geduldsprobe für alle, die sich auf dem täglichen Weg zur und von der Arbeit oder aus anderen dringenden Gründen dem Verkehr aussetzen müssen. »Alles Gewohnheit«, heißt es hier, doch Ausländer, die dieses Szenario nicht gewohnt sind, kann der motorisierte Kriechgang schon mal an den Rand des Wahnsinns treiben. Vor allem dann, wenn jemand aus der Innenstadt zum außerhalb gelegenen Flughafen muß und nicht genügend Zeit eingeplant hat. Da sitzt dann der Fahrgast im Wagen, trommelt ungeduldig mit den Fingern und fragt den Taxifahrer bisweilen, ob der denn nicht auf eine Alternativroute ausweichen könnte. Kann er nicht, denn diese Strecke ist schon der schnellste Weg. Auf der nach Kilometern kürzesten Verbindung würden er und sein Passagier noch länger im Stau stehen.

Mumbai, Moloch an der indischen Westküste: 18 Millionen Einwohner, vielleicht inzwischen sogar 20, wer kann das schon so genau sagen. Bald vielleicht drittgrößte Stadt der Welt, Indiens wichtigste Metropole. Das wirtschaftliche Herz des Subkontinents - knapp die Hälfte des indischen Bruttoinlandsproduktes geht auf das Konto von Stadt und Umgebung. Mumbai wächst in nördliche Richtung. Eine Stunde kann man mit der Vorortbahn etliche Kilometer beispielsweise bis nach Thane fahren. Früher ein selbständiger Ort, ist es längst wie andere zu einem Viertel an der Peripherie der Megastadt mutiert.

Mumbai, das früher Bombay hieß, erhielt seinen neuen Namen in Anlehnung an die mächtige Mumbadevi, eine lokale Hindu-Gottheit. Eher als irgendwo anders auf dem Subkontinent wurde hier die Abkehr von kolonialen Bezeichnungen vollzogen. Andere Großstädte folgten dem Beispiel: Aus Madras wurde Chennai, aus Kalkutta Kolkata. Neuerdings wird selbst die IT-Metropole Bangalore als Bangaluru in den Atlanten vermerkt.

Der Name änderte sich, viele der alten Probleme blieben: Je mehr Menschen auf dem eng begrenzten Platz siedeln, desto größer und scheinbar unlösbarer werden sie. Schon der Verkehr kann als beredtes Beispiel dafür stehen. Zu eng die meisten Straßen für die sich beinahe explosionsartig vergrößernde Zahl von Fahrzeugen. Für die Blechlawine werden Schneisen geschlagen, Hochstraßen und Überführungen gebaut. Doch wann beispielsweise mit dem Bau einer U-Bahn begonnen werden kann, steht in den Sternen. Während der öffentliche Nahverkehr Stiefkind der Stadtverwaltung bleibt, konkurrieren 400000 Pkw, 800000 Zweiräder, 58000 Taxen sowie Tausende Busse und Laster um den Platz auf den Straßen.

Im Shoppingkomplex

Mumbai boomt. Überall wachsen moderne Gebäude in die Höhe. In der Straße, die am Hauptbahnhof vorbeiführt, ist ein riesiger Shoppingkomplex entstanden. Wo vor zwei Jahren noch auf einer Großbaustelle hektische Betriebsamkeit herrschte, geht nun die wachsende Mittelschicht auf Einkaufsbummel in einem klimatisierten Betonklotz mit unzähligen Geschäften. Auch die Filiale eines globalen Fast-Food-Giganten darf dabei nicht fehlen. Die mittelklassigen Hoteliers ringsum haben die Gelegenheit beim Schopf ergriffen und die Preise verdoppelt: Kostete ein Zimmer im »Ripon Palace«, eine Querstraße vom modernen Konsumtempel entfernt, jahrelang für innerstädtische Verhältnisse günstige 795 Rupien, werden dem Gast für das gleiche Zimmer nun 1695 Rupien abverlangt - umgerechnet 30 Euro.

Platz ist knapp, und dieser Mangel treibt die Preise stetig nach oben. Für Grund und Boden, für Wohnungen, für Hotelzimmer. Mit Immobilien läßt sich großes Geld machen, und ob für ein neues Gebäude alle notwendigen Genehmigungen vorliegen, wird meist nicht gefragt. Ein paar Scheinchen über den Tisch geschoben, schon gibt es ohne Prüfung den begehrten Stempel. Erst später mag sich herausstellen, daß das Objekt über die Grundstücksgrenzen hinaus auf die Straße ragt oder die Statik nicht stimmt.

Einst war auch Mumbai ein Zentrum der Textilindustrie. Heute ist die Branche nahezu tot, die Fabriken von damals wurden zu Industriebrachen, durch deren zerbrochene Scheiben bisweilen der Wind pfeift. Umweltschützer und Stadtplaner haben dafür plädiert, aus diesen Flächen Grünanlagen zu machen, um der Stadt und ihren Bürgern etwas Luft zum Atmen zu verschaffen. Doch erwies sich das große Geld als stärker - mehrere Filetgrundstücke sind von Maklern bereits an Investoren verhökert worden, die dort ähnliche Einkaufstempel wie den am Hauptbahnhof errichten wollen.

Flüchtlinge vom Land

Mumbai ist Traum und Alptraum zugleich. Die Landflucht ist wohl nirgends offensichtlicher als hier. Mit nichts außer dem, was sie auf dem Leibe tragen, treffen alltäglich weitere Menschen ein. Nicht nur aus allen Ecken des Unionsstaates Maharashtra kommen sie, deren Regionalhauptstadt Mumbai ist. Selbst in entfernteren Regionen des Landes entfaltet die Stadt ihre Anziehungskraft, lockt mit ihrer Schokoladenseite, also der potentiellen Chance, vielleicht der bisherigen Armut zu entrinnen. In den allermeisten Fällen eine höchst trügerische Hoffnung. Diejenigen, die vor Mißernten durch Dürre und Überschwemmung geflohen sind oder als Tagelöhner auf großen Gütern noch nie über ein eigenes Stück Land verfügten, haben ländliche Armut lediglich gegen städtische eingetauscht.

Nun hausen sie in windschiefen Hütten oder Blechverschlägen, zehn und mehr Familienmitglieder auf wenigen Quadratmetern. Die einen schlagen sich mit Gelegenheitsjobs durch, anderen bleibt nur das Betteln. So wie jener Greis, der vor dem belebten Umsteigebahnhof Dadar den Vorbeihastenden die Hände entgegenstreckt. Oder jener Mann mittleren Alters, der in der geschäftigen Grand Road zwischen der Tankstelle und einem der zahlreichen Bekleidungsläden hockt und in dessen Blechdose hin und wieder eine Rupee-Münze klimpert. Sein Oberkörper ist frei, die ganze Gestalt mit einem eigentümlichen Ausschlag geplagt, der blasenartig Brust, Rücken, Arme und sogar das Gesicht überzieht.

Mumbai, das Monstrum. Der urbane Krake, der all diejenigen verschlingt, die mit ihren Träumen und hochfliegenden Plänen scheitern. Nirgendwo indienweit ist das Wohlstandsgefälle größer, klafft die Schere zwischen arm und reich weiter auseinander. Mindestens fünf unterscheidbare Kategorien von Slums gibt es hier. Aber auch, oft sogar in derselben Straße, die höchsten Hochhäuser. Konzerne mit ihren Firmenzentralen sowie Indiens Börse residieren in den Bürotürmen, deren Silhouette entlang der Uferstraße Marine Drive unter anderem von den Hängenden Gärten aus, einem der wenigen Parks, bewundert werden kann. In anderen befinden sich noble Appartments: vollklimatisierte Wohneinheiten mit Rundumblick auf die halbe Stadt.

Wohnblocks im Slum

Davon können die meisten nicht einmal träumen. Trotzdem tut sich etwas: In Dharavi, das mit seinen 500000 bis eine Million Bewohnern als größter Slum Asiens gilt, wachsen seit einigen Jahren neue Wohnblocks in die Höhe. Mietskasernen aus Beton an Stellen, wo sich wie nebenan einst das Meer der Elendshütten aus Ziegeln und Blech erstreckte. Auf einer Fläche von gut zwei Hektar sind vor einigen Wochen die Bulldozer gerollt. Ein paar Bruchstücke liegen noch herum, ansonsten sind Bauarbeiter gerade mit dem Fundament für einen weiteren Block beschäftigt.

Manche Familien freuen sich auf die neue Bleibe, andere sind skeptisch. Vor allem aber müssen sie für die Zwischenzeit eine Notunterkunft finden - eins der vielen ungelösten Probleme beim Megaprojekt Slumumbau, an dem Staat und private Konzerne beteiligt sind. »Es gibt Fortschritte«, betont U. Birajdar, der über 20 Jahre als Sozialarbeiter in Dharavi gearbeitet hat. »Doch das Vorhaben hat viele Schwachstellen, und um manche Fragen haben sich die Planer offenbar gedrückt.« Birajdar verweist unter anderem auf einige Blöcke, die seit geraumer Zeit fertig, aber längst nicht bezogen sind, wegen »ungeklärter Baumängel«. Inzwischen sind erste Fensterscheiben im Erdgeschoß schon wieder kaputt. An einem weiteren Block wurde die Arbeit vor der Fertigstellung einfach eingestellt.

Die nahegelegene Schule, Bildungsstätte für etwa 2000 Kinder, ist ein abschreckender grauer Kasten. Das Büro des Direktors ist genauso heruntergekommen wie jeder der Klassenräume: Putz bröckelt, und dunkle Flecken überziehen die Wände. Die beiden einfachen Stahlschränke sind noch der solideste Teil der Ausstattung. In einem Lagerraum auf der anderen Gebäudeseite versinken einige Akten der letzten Regionalwahl, zu der die Schule Stimmlokal war, im Staub. Auch sonst ist zu erkennen, daß niemand wenigstens zu Besen oder Lappen greift. Armut und staatliches Versagen ziehen Lethargie nach sich, räumt auch Devendra Desai ein. Er kann das zwar irgendwie verstehen - akzeptieren allerdings nicht.

Der Spielemann

Desai, ein kleiner Geschäftsmann, kennt diese Schule am Rande von Dharavi gut. Es ist einer der Orte, wo er eine Spielebibliothek eingerichtet hat. In der Regel einmal wöchentlich kommt einer der Busse seines Vereins vorbei, freudig erwartet von Mädchen und Jungen. Denn immer dann werden aus dem einzigen Schrank in dem verstaubten Lagerraum die dort eingeschlossenen Utensilien geholt: Spiele unterschiedlichster Art, die nicht nur für ungewohnte Zerstreuung sorgen, sondern auch Fähigkeiten wie Konzentration und Kombinationsgabe fördern und trainieren.

Ein Vierteljahrhundert ist es her, daß Devendra Desai seine erste Spielebibliothek gegründet hat. Inzwischen sind allein 26 Filialen an Schulen in Mumbai daraus geworden. Statt früher eines Busses fahren nun drei, mit Spielzeug beladen, durch die Slums der Metropole. Selbst in seinem kleinen Büro im Stadtteil Fort hält der 61jährige einige Spiele bereit, zu denen sich auch öfter ein paar arme Jungs von der Straße einfinden. Desai, selbst unverheiratet und kinderlos, hat eine Mission. Zwar mag der kleine Verein immer wieder personell und finanziell an seine Grenzen stoßen, doch schafft er stets aufs Neue, andere Menschen für sein Projekt zu begeistern.

Auch ausländische Freunde helfen dem Aktivisten dabei, indischen Mädchen und Jungen das ihnen 1989 in der UN-Kinderrechtskonvention festgeschriebene Grundrecht auf Spiel und freie Entfaltung zu realisieren. Längst ist der Verein damit über Mumbai hinaus im Einsatz. Im Unionsstaat Gujarat, woher Desais Familie stammt, in Varanasi und weiteren Großstädten werden Spielebibliotheken eingerichtet oder andere Organisationen dabei beraten. So wie im südlichen Bundesstaat Tamil Nadu, wo eine lokale Nichtregierungsorganisation nach dem Tsunami von 2004 in den Küstendörfern Kindern bei der Traumabewältigung half.

Mumbai hat viele Gesichter, schreckliche ebenso wie reizvolle. Eine Stadt, die vom ständigen Kontrast lebt. Unsägliche Armut neben protzigem Reichtum, In­diens Zentrum des Diamantenhandels und die Glitzerwelt der Bollywood-Filmindustrie neben Obdachlosen und Sterbenskranken. Derweil neue Hochhäuser himmelwärts wachsen, verfällt dicht daneben historisch wertvolle Bausubstanz. Auch im Bankenviertel, keine fünf Gehminuten von Devendra Desais Büro entfernt, gibt es solche Beispiele. Ein schon sehr betagtes Haus hat sich aber gehalten, strahlt mit seiner hellblauen Fassade und einigen architektonischen Schmuckelementen steinerne Würde aus.

Jüdisches Leben

Die Keneseth Eliyahoo Synagoge steht seit 120 Jahrenim Stadteil Fort, eines von insgesamt neun jüdischen Gotteshäusern der Stadt. Diese hier ist religiöse Heimstatt für eine kleine Gemeinde von sogenannten Bagdad-Juden - also Nachfahren jener, die im 19. Jahrhundert aus dem Mittleren Osten einwanderten. »Einst gab es an die 50000 Juden in Mumbai«, sagt Isaac Ben-Sion. »Heute sind es noch 4500.« Trauer schwingt in seiner Stimme, als er diesen Satz sagt.

Der 67jährige Mann mit dem runden, freundlichen Gesicht ist der Hüter der Synagoge, die keinen eigenen Rabbi hat, sondern durch die Ältesten der Gemeinde betrieben wird. Auch ein Großteil seiner eigenen Familie ist schon weg: »Meine Schwester, meine Enkel, sie alle leben nun in Israel«, erzählt er. Er hält die Stellung, denn einer muß schließlich auch den Besuchern erklären, daß es einst eine blühende jüdische Gemeinschaft in Bombay gab, die seit der Rezession der Textilbranche, wo viele seiner Glaubensbrüder tätig waren, arg geschrumpft ist.

Zum Auswandern zwingt allein wirtschaftliche Not, nicht etwa Sorge wegen drohender Verfolgung und Antisemitismus. »Als Juden leben wir hier in völliger Sicherheit«, sagt Ben-Sion. Die religiösen Konflikte gebe es in erster Linie zwischen Hindus und Muslimen, nicht mit den ganzen kleinen Minderheiten. Von denen existieren in Mumbai unzählige nebeneinander, insgesamt in erstaunlicher Eintracht. Parsen oder Jains haben ähnlich wie die Juden gerade in der Vergangenheit eine große Rolle bei der wirtschaftlichen Entwicklung dieses Fleckens auf dem Subkontinent gespielt. Bis heute sind manche Branchen vorrangig in ihrer Hand.

Vor dem Tempel

Der Moloch ist multikulturell, dieser Umstand fällt auch bei der Taxifahrt immer wieder auf. Gerade hat der schwarzgelbe Wagen ruckelnd und quietschend den Mahalakshmi-Tempel passiert, eines der größten hinduistischen Heiligtümer in der Stadt. Die Haji Ali Tomb, wo ein namhafter muslimischer Geistlicher begraben ist, liegt in Sichtweite. Zum etwas vorgelagert in der Meeresbucht errichteten Bauwerk führt ein betonierter Weg. Unzählige Bettler sitzen und stehen an der Seite, denn der Zakat, eine Spende für die Ärmsten, ist religiöse Pflicht der Gläubigen.

Damit möglichst viele der oft verkrüppelten Gestalten etwas bekommen, können die Barmherzigen hier und da ihre Scheine in die entsprechende Zahl von Ein-Rupee-Münzen eintauschen. Verhärmte Witwen und Männer mit Beinstumpf strecken bittend ihre Hände aus, ein Leprakranker klappert mit seinem am Arm aufgehängten Gefäß. Das einstige Bombay mag boomen - doch für diese Menschen und Millionen andere ist Mumbai das Monstrum, das sich im Extremfall auch nicht darum schert, wer auf seinen Straßen krepiert.

* Aus: junge Welt, 19. April 2008 (Wochenendbeilage)


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