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Indien soll "moralischen Kompass" neu ausrichten

Demonstration der Militärmacht und Proteste zum Tag der Republik

Von Hilmar König *

Indien beging seinen Tag der Republik diesmal mit ungewöhnlichen Akzenten. Außer der traditionellen Militärparade und Festumzug am Sonnabend in Delhi gab es an mehreren Orten in der Hauptstadt Proteste. Vor allem Studenten forderten ein Ende der Gewalt gegen Frauen. Auch Staatspräsident Mukherjee widmete sich dem Thema in seiner Ansprache.

»Freiheit ohne Angst« und »Respektiert das Geschlecht, das euch geboren hat« stand auf Plakaten junger Aktivisten im Zentrum der Hauptstadt. »Wir wollen Gerechtigkeit«, tönten Sprechchöre. Arvind Kejriwal von der Partei »Aam Aadmi« rief dazu auf, die »richtigen Volksvertreter in die Politik zu holen.« Sie könnten dafür sorgen, dass die Gewalt gegen Frauen abnimmt.

Proteste am Nationalfeiertag - am 26. Januar 1950 hatte das unabhängige Indien seine Verfassung angenommen - waren etwas Neues. Anlass waren die brutale Vergewaltigung der Studentin Jyoti Singh Pandey und ihr Tod im Dezember. Das Verbrechen löste eine Volksbewegung aus: Zehntausende gingen auf die Straßen und forderten die Todesstrafe für die sechs Täter und endlich die Respektierung der Rechte der Frauen. Unüberhörbar riefen die Demonstranten angesichts dieser nationalen Schande dazu auf, die Feiern zum Tag der Republik abzusetzen oder zu boykottieren.

Dazu vermochte sich die Regierung allerdings nicht durchzuringen. Aber Präsident Pranab Mukherjee kam nicht umhin, einen beachtlichen Teil seiner Botschaft an die Nation diesem beschämenden Thema zu widmen. Er nannte die junge Frau »ein Symbol all dessen, wonach das neue Indien strebt«. Die Nation müsse jetzt ihren »moralischen Kompass« neu kalibrieren, die Frauenrechte seien ein »Prinzip der Zivilisation«. Es gehe nicht nur um den Verlust eines wertvollen Lebens, sondern Indien habe einen Traum verloren. Pathetisch sagte er: »Wenn wir eine Frau brutal behandeln, verwunden wir die Seele der Nation.«

Auch Delhis Chefministerin Sheila Dikshit ging auf das Schicksal Jyoti Singh Pandeys ein und versicherte, sie werde alle Hebel in Bewegung setzten, um die Sicherheit von Mädchen und Frauen in der Hauptstadt zu gewährleisten. Gemeinsam müsse man einen Wandel in der patriarchalischen Gesellschaft bewirken.

Allerdings hatte das die ganze Nation bewegende Thema keinen Einfluss auf die Gestaltung der Feierlichkeiten auf der acht Kilometer langen Paradestrecke vom Präsidentenpalast auf dem Raisina-Hügel über den Boulevard Rajpath bis zum Roten Fort. Wie all die Jahre zuvor demonstrierte die Regionalmacht ihre militärische Stärke - mit Marschflugkörpern, mit der Langstreckenrakete »Agni-V«, die Atomsprengköpfe tragen kann, mit Kampfpanzern und Düsenjets, mit Frühwarnsystemen und dem Defilee von Eliteeinheiten der Streitkräfte, der Grenztruppen und der Polizei. Den martialischen Eindruck milderten tanzende Schulkinder, Folkloregruppen und üppig dekorierte Festwagen aus 14 Bundesstaaten. Coleen Braganza von der Agentur DNA kommentierte das Spektakel so: »Ein Land, das die Sicherheit seiner Frauen, seiner ungeborenen Kinder, seiner weiblichen Babys nicht garantieren kann, hat kein Recht, der Welt seine Militärmacht zu demonstrieren.« Das offenbare nur, wie schmerzlich und hoffnungslos weit entfernt »die arrogante Regierung von ihren Bürgern ist.«

Immerhin hatte der Staatspräsident auf Schwachstellen in der »größten Demokratie der Welt« verwiesen. Er erwähnte Korruption, Ungleichheit der Bürger, Bildungsmangel, ungerechte Verteilung des nationalen Reichtums und festgefahrenen Parlamentarismus. Die Früchte des Wirtschaftswachstums dürften nicht zum Monopol der Privilegierten an der Spitze der Pyramide werden. Das vornehmliche Ziel müsse die Beseitigung von Hunger, Entrechtung und menschenunwürdiger Existenz sein.

* Aus: neues deutschland, Montag, 28. Januar 2013


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