Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Bohrende Fragen

Indien: Koalition nach Wahlen ein Jahr im Amt. Kluft zwischen Arm und Reich ist weiter gewachsen

Von Ashok Rajput, Neu-Delhi *

Am kommenden Montag will Indiens Premier Manmohan Singh auf einer Pressekonferenz in Neu-Delhi das erste Jahr seiner zweiten Amtszeit bilanzieren. Im Mai 2009 bildete die Kongreßpartei nach einem beeindruckenden Resultat bei den Parlamentswahlen zum zweiten Mal in Folge eine Koalitionsregierung -- die Vereinte Progressive Allianz (VPA). Deren erster Jahrestag wird nun jedoch überschattet von den Attacken der maoistischen Guerilla in mehreren Bundesländern. Erst am Montag war im Distrikt Dantewada des Bundesstaates Chhattisgarh ein Bus auf eine von den Rebellen gelegte Mine gefahren. 31 Passagiere, überwiegend Angehörige des »Koya Kommandos 104« der Spezialpolizei, wurden getötet und 30 verletzt.

Innenminister Palaniappan Chidambaram reagierte sofort und erneuerte sein Gesprächsangebot an die Maoisten, wenn diese ihre Gewalt »suspendieren«, selbst wenn das vorerst nur für 72 Stunden wäre. Zugleich bekräftigte er die seit Monaten verfolgte Strategie, mit aller Härte gegen die militanten Ultralinken vorzugehen. Immer lauter wird der Ruf, die laufende antimaoistische Offensive »Grüne Jagd« mit einem Einsatz der Armee, eventuell sogar der Luftwaffe, zu intensivieren. Zur offiziellen Strategie gehört, in den von der Guerilla kontrollierten Gebieten ernsthaft mit Entwicklungsprojekten zu beginnen. Die staatliche Plankommission verwies in einer kürzlich veröffentlichten Analyse darauf, daß nur 7,5 Prozent der Bewohner der 33 Distrikte, in denen die Maoisten herrschen, Zugang zu Trinkwasser haben und 15 Prozent über elektrische Anschlüsse verfügen.

Solche Zahlen werfen nur ein Schlaglicht auf die miserablen Zustände in diesen Gebieten, in denen nahezu ausschließlich indigene Bevölkerung siedelt. Kein Wunder, daß diese in der Guerilla eine Art »Heilsbringer«, zumindest eine Alternative zu den korrupten und unfähigen Distriktverwaltungen sehen. Bürgerrechtler vom Schlage der namhaften Autorin Arundhati Roy stellen in diesem Zusammenhang bohrende Fragen, ob nicht die sozialen Komponenten, die Unterentwicklung und Vernachlässigung der Stammesgebiete als wesentliche Ursachen für den Widerstand viel ernster genommen werden müßten. Bedeutet »Entwicklung« nur, ideale Bedingungen für das Kapital, für Auslandsinvestoren, die Industrie, die Bergbaukonzerne zu schaffen, deren Profite zu sichern, aber gleichzeitig die Lebensbedingungen der Adivasi-Urbevölkerung zu vernichten? Das aktuelle Beispiel dafür liefert der südkoreanische Multi POSCO, der im ostindischen Bundesstaat Orissa mitten im Stammesgebiet ein Bergwerk aus dem Boden stampft und die Bodenschätze schnurstracks exportiert. Die Adivasi lehnen sich dagegen massiv auf und werden von der Polizei zusammengeknüppelt. Dieser Problemkomplex wird die VPA gewiß auch die folgenden vier Amtsjahre intensiv beschäftigen.

Wenn Normalverbraucher und das Heer der Armen zwölf Monate VPA-Herrschaft resümieren, dann fällt besonders der Preisanstieg der vergangenen sieben Monate für Grundnahrungsmittel sowie für Kraft- und Brennstoffe ins Gewicht. Kartoffeln, Hülsenfrüchte, Obst und Gemüse wurden für die Bedürftigen fast unerschwinglich. Der Staat bekam die Inflation nicht in den Griff. Die Kluft zwischen Arm und Reich wurde noch tiefer. Das Einkommen von 90 Prozent der Bevölkerung wurde nach Einschätzung von Prakash Karat, dem Chef der KPI (Marxistisch) wegen der »falschen Wirtschaftspolitik« drastisch reduziert. Er erinnerte am Dienstag vor Parteiaktivisten daran, daß mehr als zwei Drittel der Inder nicht mehr als 20 Rupien (etwa 40 Eurocents) am Tag ausgeben können. Das vom Premier beschworene »Wachstum für alle« bleibt vorerst Illusion.

* Aus: junge Welt, 20. Mai 2010


Zurück zur Indien-Seite

Zurück zur Homepage