Indien: Der US-Krieg eint das Land
Die Öffentlichkeit lehnt den globalen Herrschaftsanspruch der Supermacht USA ab
Den folgenden Beitrag haben wir der Schweizer Wochenzeitung WoZ entnommen.
Von Joseph Keve, Istanbul
(...) Für einmal scheint ganz Indien einer Meinung zu sein: Die Regierung, alle Parteien, sämtliche Gewerkschaften, hunderte von nichtstaatlichen Organisationen und praktisch die gesamte Bevölkerung verurteilen den «ungerechten, unmenschlichen» Krieg der USA gegen den Irak. Noch vor kurzem schien das Land gespalten – zwar hatten sich viele gegen die geplante Attacke ausgesprochen, die Regierung unter Führung der hinduistisch-nationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP) aber blieb auffallend still. Weder sie noch die oppositionelle Kongresspartei schienen sich mit der Weltmacht USA anlegen zu wollen. Nur ein Grossteil der Medien sprachen (wie Vinoid Mehta, Chefredaktor des Magazins «Outlook») von «der Hand voll rechtsgerichteter christlicher Fundamentalisten», die «die freie Welt gekidnappt» hätten, um «Blutvergiessen, Elend, Hass und Aufruhr über die Menschheit zu bringen».
Die Schweigsamkeit der politischen Klasse endete noch vor den ersten Luftangriffen auf Bagdad. Premierminister Atal Behari Vajpayee verurteilte das 48-Stunden-Ultimatum der US-Regierung an Saddam Hussein. Mit Kriegsbeginn wurden die Töne schärfer.
Die Aggression «tritt die Uno-Charta mit Füssen», sagte Jaipal Reddy, Sprecher der Kongresspartei. Sie «verunglimpft den Sicherheitsrat, verletzt internationales Recht, beschädigt das Konzept der nationalen Souveränität und stellt einen gefährlichen, inakzeptablen Präzedenzfall dar».
Dabei hatte George Bush alles unternommen, um Indien in seine «Koalition der Willigen» einzubinden. In der ersten Märzwoche telefonierte er mit Vajpayee, um sich dessen Unterstützung für seine Irak-Politik zu sichern. Als Vajpayee keine Zusage abgab, versprach Washington der Regierung in Neu-Delhi, Pakistans Präsident Pervez Muscharraf in der Kaschmir-Frage noch mehr unter Druck zu setzen. Aber Vajpayee erinnerte sich offenbar daran, dass Bush das Gleiche schon einmal – vor der Attacke auf Afghanistan – versprochen hatte. Damals hatte sich Bush auf Usama Bin Laden und Afghanistan konzentriert; heute sind es Saddam Hussein und der Irak; morgen könnten Saudi-Arabien und Pakistan das Ziel sein. Von General Muscharraf ist derzeit übrigens wenig zu hören und zu sehen. Das Letzte, was man von ihm vernahm, war eine Rede auf einem Treffen mit Geschäftsleuten in Lahore Mitte Februar. Damals zitierte ihn das Wochenmagazin «India Today» mit den Worten: «Pakistan könnte nach dem Irak das nächste Ziel sein. Und niemand wird uns dann zu Hilfe eilen.» Die anschwellenden antiamerikanischen Emotionen werden Muscharraf in den nächsten Monaten vor erhebliche Probleme stellen.
Als Bushs Drängen ohne Wirkung blieb, versuchte Robert Blackwill, der US-Botschafter in Neu-Delhi, eine andere Strategie: Er winkte mit Aufträgen. «Wenn Saddam gewaltsam entwaffnet ist, wird es zu einem Regimewechsel im Irak kommen, der viel Wiederaufbauarbeit verlangt», sagte er der Tageszeitung «Times of India». Dann könnte Indien «zwei Aufgaben erfüllen – einerseits die physische Rekonstruktion des Irak, andererseits den Aufbau einer Zivilgesellschaft im Irak». Die Reaktion auf diese Offerte war vernichtend: «Der Aggressor sagt uns, dass wir am Fest der Geier willkommen sind», kommentierte Arjun Singh, Parlamentsabgeordneter der Kongresspartei, das Angebot.
Mittlerweile haben sich die negativen Folgen des US-Kriegs auf die indische Wirtschaft herumgesprochen. Indische Militärstrategen warnen schon seit längerem, dass der Krieg weitaus verheerendere Konsequenzen haben könnte als von Washington erwartet; der Irak sei nicht so leicht zu besiegen, sagen sie. ÖkonomInnen befürchten auch Auswirkungen auf die indische Handelsbilanz. Steigende Ölpreise würden im Inland zu einer Verlangsamung des Wirtschaftswachstums, zu einer Steigerung der Inflationsrate von derzeit knapp drei auf rund acht Prozent und zu einer Schwächung des Exports führen. Dazu sinken wahrscheinlich die Deviseneinnahmen: Die rund vier Millionen indischen WanderarbeiterInnen, die bisher in den Golfstaaten Beschäftigung fanden, werden im Zuge des absehbaren Aufruhrs in der Region weniger Geld überweisen können. Das beunruhigt die Regierung am meisten. Etwa eine halbe Million indischer MigrantInnen fanden bisher im Irak und dessen Nachbarländern ein Auskommen. Inzwischen haben Fluggesellschaften wie Air India Notfallpläne für die Repatriierung dieser WanderarbeiterInnen erstellt.
Früher war Indien eine mächtige Stimme im Chor der blockfreien Staaten gewesen. Auch heute noch lehnt die Öffentlichkeit den globalen Herrschaftsanspruch der Supermacht USA ab. «Haben die aus den Anschlägen vom 11. September 2001 eigentlich nichts gelernt?», fragen sich SchülerInnen in Malad, einem Vorort von Bombay. Dass die Regierung inzwischen deren Vorbehalt teilt und offen äussert, hat mit der von Mahatma Gandhi und Jawaharlal Nehru (dem ersten Ministerpräsidenten Indiens) begründeten Tradition der Gewalt- und Blockfreiheit nichts zu tun. Aber rechnen können die Hinduisten auch.
Aus: WoZ, 27.03.2003
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