Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Das täglich Brot ist nicht selbstverständlich

Der indische Subkontinent – vielleicht die kommende Supermacht, aber noch die hungrigste Region in der Welt

Von Hilmar König, Delhi *

Jeder achte Mensch auf der Welt hungert – allen Fortschritten zum Trotz. Um das Leiden langfristig zu mindern, braucht es mehr als schnelle Hilfe bei Krisen.

Nisha, das kleine schmächtige Mädchen mit den großen dunkelbraunen Augen und dem ungekämmten Haar, steht bettelnd an der Straßenkreuzung in Gurgaon, der prosperierenden Satellitenstadt Delhis im Unionsstaat Haryana. Gleich wird es wieder an unser Auto kommen und die bekannten drei Wörter sprechen: »Bhuk laggi he.« Das heißt: Ich habe Hunger. Und als immer gleiche Geste führt Nisha dazu ihre schmale, etwas gekrümmte rechte Hand mehrmals zum Mund. Sie bittet nicht um Geld, sondern um etwas zu essen. Gierig greift sie nach der herausgereichten Rolle Kekse und setzt sich damit auf den Grünstreifen, wo sie sogleich von anderen Kindern umringt wird. Sie alle haben Hunger.

Solche Episoden wiederholen sich in Indien, das in den vergangenen Jahren auf bemerkenswerte Wachstumsraten von bis zu acht Prozent blickte und den Status einer Regional- oder gar Supermacht anstrebt, tagtäglich millionenfach in allen Städten. Wirtschaftlicher Erfolg allein garantiert leider nicht, dass alle 1,2 Milliarden Inder genügend zu essen haben. Die Früchte der teils rasanten Entwicklung müssen auch gerecht verteilt werden.

Der gerade veröffentlichte Bericht zum Welthunger-Index 2013 (WHI) weist Südasien, obwohl hier seit 1990 große Fortschritte bei der Bekämpfung des Übels gemacht wurden, immer noch als die Region mit den meisten Hungerleidenden in der Welt aus. Allein ein Viertel von ihnen lebt in Indien. In dem Bericht heißt es: »Soziale Ungleichheit und niedriger Ernährungs-, Bildungs- und Gesellschaftsstatus der Frauen sind in dieser Region Hauptgründe für Unterernährung von Kindern.«

Vor der UNO bekräftigte der indische Außenminister Salman Khurshid unlängst als nächste Aufgabe nach Erreichen der Milleniumsziele 2015, »Armut und Hunger ein für allemal« zu beseitigen. Die ersten Schritte in Indien sind getan: In den vergangenen fünf Jahren konnte die Hungerrate nach Berechnungen der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, des Internationalen Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung sowie des Welternährungsprogramms um 6,5 Prozent gesenkt werden. Im Zeitraum 2008 bis 2010 gab es 227 Millionen hungernde Inder. Heute sind es noch 213 Millionen.

Doch mit einem aktuellen WHI von 21,3 liegt Indien weit hinter China (WHI 5,5) und in der südasiatischen Region auch schlechter als Sri Lanka, Pakistan und Bangladesch. Es gehört immer noch zu den 19 von 120 erfassten Entwicklungsländern, in denen die Hungersituation als »alarmierend« bewertet wird.

Der Welthunger-Index errechnet sich aus drei gleichwertigen Indikatoren: dem Anteil Unterernährter an der Gesamtbevölkerung, in Indien 17,5 Prozent; dem Anteil der untergewichtigen Kinder unter fünf Jahren, in Indien 40 Prozent; der Zahl der Kinder, die innerhalb der ersten fünf Lebensjahre sterben, in Indien sechs Prozent. Laut UNICEF hat Indien einen Anteil von einem Drittel an allen unterernährten Kindern in der Welt.

Die Hälfte aller Todesfälle bei indischen Kindern, so eine Gesundheitsstatistik, ist auf Hunger und Unterernährung zurückzuführen. Rund 400 Millionen Inder leben in absoluter Armut und haben ein Tageseinkommen von weniger als einem Euro. Mindestens die Hälfte von ihnen leidet an chronischem Hunger. Zum Vergleich mit anderen Schwellenländern: In China sind es 11,4 Prozent der Gesamtbevölkerung, in Brasilien 6,9 und in Südafrika fünf Prozent.

Raju, 13 Jahre alt, begegnen wir im Zug von Jalpaiguri nach Delhi. Er steigt auf einem Bahnhof in einer der ärmsten Gegenden Bihars zu. Nicht als Passagier. Er reinigt den Fußboden des Abteils mit einem selbstgefertigten Besen. Raju staunt, als wir ihn bitten, sich zu uns zu setzen. Das passiert ihm wohl zum ersten Mal. Zunächst beantwortet er zögerlich und scheu unsere Fragen. Dann taut er auf und erzählt, dass er unter dem Kehricht auch Essbares findet. Und ab und zu wirft man ihm eine Rupie für seinen Service hin. Möchte er nicht lieber zur Schule gehen? »Ich gehe nach der Arbeit in die Nachmittagsklasse.« Stolz beweist er, dass er schreiben kann, sogar in Englisch. Den Tagesverdienst liefert er seinen Eltern ab. Aber trotzdem reicht es nur zu einer Mahlzeit am Tag für die siebenköpfige Familie. Und auch das nicht immer. »Manchmal gibt es gar nichts.«

Erfahrungen wie diese – »foodless days« (Tage ohne Essen) – machen 24 Prozent der indischen Bevölkerung. Mit einer Reihe von Gesetzen und praktischen Maßnahmen will die Regierung diesen beschämenden Zustand ändern. Seit 2005 läuft das Programm MGREGA, das je einem Familienmitglied im ländlichen Raum 100 Tage im Jahr eine Beschäftigung an einem kommunal wichtigen Projekt zu einem Mindestlohn garantiert. Auch wenn es bei der Durchsetzung vieler Ausführungsbestimmungen noch hapert, z. B. der Betreuung von Kleinkindern oder der Versorgung mit Trinkwasser an den Projektstellen, und es bei der Auszahlung der Löhne mitunter Schwierigkeiten gibt, ist der Regierung damit ein wesentlicher Schritt bei der Minderung der Armut gelungen.

Auch das Mittagessen an Schulen ist trotz Mängeln an Qualität, Menge und und Hygiene eine bedeutende staatliche Maßnahme für Kinder aus bedürftigen Familien. Es ist verbunden mit dem Recht auf Bildung und wird landesweit für 120 Millionen Kinder an 1,2 Millionen Schulen bereit gestellt. Mit dem Schulessen werden zwei Fliegen mit einer Klappe erwischt: Arme Eltern schicken ihre Sprösslinge, die sonst im Haushalt oder auf dem Feld mithelfen müssten, hauptsächlich deshalb zur Schule, weil diese dadurch wenigstens eine warme Mahlzeit am Tag erhalten.

Zu einem entscheidenden Schlag gegen Armut und Hunger glaubt die Regierung mit dem im September vom Parlament abgesegneten Gesetz zur Nahrungsmittelsicherheit ausgeholt zu haben. 800 Millionen bedürftige Inder würden von der darin vorgesehenen Bereitstellung verbilligter, staatlich gestützter Grundnahrungsmittel profitieren. In fair price shops wären monatliche Lebensmittelbezüge – fünf Kilo Getreide pro Kopf – für einen Bruchteil des Marktpreises erhältlich: ein Kilo Reis für drei Rupien, ein Kilo Weizen für zwei Rupien und ein Kilo Schrotmehl für eine Rupie. Etwa 83 Rupien sind ein Euro. Das wäre in der Tat eine spürbare finanzielle Entlastung der armen Haushalte. Nisha und Raju dürfen vielleicht damit rechnen, sich in nicht allzu ferner Zukunft einigermaßen satt zum Schlafen zu legen.

Ajay Maken, verantwortlich für Öffentlichkeitsarbeit in der regierenden Kongresspartei, sprach von einem »Bollwerk im Kampf gegen Unterernährung und Nahrungsmangel«. Sechs Monate haben die Unionsstaaten Zeit, dem Gesetz praktische Wirkung zu verschaffen, die Infrastruktur aufzubauen und die Bedürftigen zu registrieren. Die staatlichen Nahrungsmittelsubventionen erhöhen sich um etwa ein Drittel und machen dann 1,2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus.

Dieses gewaltige Vorhaben wird kein Selbstläufer sein, sondern bedarf konzentrierter und koordinierter Anstrengungen an vielen Fronten. Die Ernten 2012/13 von 104,40 Millionen Tonnen Reis und 92,5 Millionen Tonnen Weizen dürften dafür vorerst ein ordentliches Polster darstellen. Energischer müsste aber auch den jährlichen Verlusten von über einer Million Tonnen Getreide durch Verrotten, Diebstahl, Schiebereien und Ungezieferfraß vorgebeugt werden. Und wie will die Regierung Korruptionspraktiken bei der Durchsetzung des Rechts auf Nahrung ausschalten, wie sie bei anderen staatlichen Projekten üblich sind?

Zudem wird es immer schwieriger, angesichts zunehmender Wasserknappheit, sinkender Grundwasserspiegel, sich ausbreitender Bodenerosion, schrumpfender Agrarflächen und abnehmender Bodenfruchtbarkeit sowie nach wie vor rapide wachsender Bevölkerung die Nahrungsgrundlagen zu sichern. Ganz zu schweigen vom Klimawandel, der auch Südasien vor neue Herausforderungen stellt und den Kampf gegen den Hunger zu einer Daueraufgabe macht. Der Ruf »Bhuk laggi he« – »Ich habe Hunger« – wird nicht über Nacht verstummen.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 16. Oktober 2013


Zurück zur Indien-Seite

Zur Seite "Armut, Elend, Hunger"

Zurück zur Homepage