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In der Globalisierungsfalle

Vorabdruck. Hunger und Armut: Die Auswirkungen neoliberaler Politik in Indien

Von Utsa Patnaik *

Die Mehrheit der indischen Wissenschaftler und die Regierung Indiens stellen heute zwei Behauptungen auf, die ich beide für sachlich falsch halte, Behauptungen, die durch eine völlig irrige theoretische Auffassung von der gegenwärtigen Lage untermauert werden. Sie behaupten erstens, daß es im Verhältnis zur Nachfrage (die ihrer Meinung nach normal wächst) ein »Überangebot« von Nahrungsgetreide gäbe, und folgern daraus, daß die Produktion von Nahrungsgetreide zugunsten einer »Diversifikation« gedrosselt werden sollte, sowie zweitens, daß die Armut in Indien in der Periode der Reformen, besonders während der 1990er Jahre, zurückgegangen wäre. Ich halte beide Aussagen für nicht richtig und meine, daß aus theoretischen und faktischen Gründen genau das Gegenteil zutrifft. Erstens gibt es kein Überangebot an Nahrungsgetreide, sondern ein Sinken des Angebots, und wegen des unnormal schnellen Fallens der Kaufkraft seit 1999 einen noch drastischeren Rückgang der tatsächlichen Nachfrage nach Getreide besonders im ländlichen Indien. Daher würde eine richtige Politik darauf hinauslaufen, die Kaufkraft anzuheben und sowohl die tatsächliche Nachfrage als auch den Zugang zu erschwinglichem Nahrungsgetreide wiederherzustellen.

Zweitens, weit davon entfernt, daß der prozentuale Anteil der in Armut lebenden Bevölkerung abnimmt, wie behauptet, lautet der auf aktuellen Daten beruhende sachlich richtige Standpunkt, daß die Armut sehr hoch ist und mindestens drei Viertel der ländlichen und über zwei Fünftel der städtischen Bevölkerung betrifft. Außerdem zeigen die Daten, daß die Armut während der Reformjahre erheblich zugenommen hat und daß in den meisten Bundesstaaten und auf gesamtindischer Ebene mehr Menschen als vorher auf einen schlechteren Ernährungsstatus hinuntergedrückt werden. Weil so viele Wissenschaftler und die Planungskommission ein Bewertungsverfahren benutzen, das einer logischen Basis entbehrt und mit wissenschaftlichen Gründen nicht zu verteidigen ist, kommen sie zu der Schlußfolgerung, daß die Armut zurückgeht.

Gekürzte Entwicklungsausgaben

Indien hat seit 1991 eine Wirtschaftspolitik betrieben, deren Auswirkung auf die Landwirtschaft besonders schwerwiegend war, da es eine einschneidende Kürzung staatlich geplanter Entwicklungsausgaben für ländliche Bereiche mit sich brachte, wozu traditionell Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Bewässerung und Hochwasserschutz gehören -- unerläßlich für die Aufrechterhaltung der Produktion. Wir fügen noch die Aufwendungen für besondere Regionalprogramme sowie für die Dorf- und Kleinindustrie hinzu, um die gesamten »Ländlichen Entwicklungsausgaben« (LEA) zu definieren. Die Arbeitsplätze schaffenden Programme hatten seit der Dürre im Jahr 1987 besondere Bedeutung erlangt.

Während der siebten Planperiode von 1985 bis 1990, in der Zeit vor den Reformen, wurden 510 Milliarden Rupien (7,2 Milliarden Euro) bzw. beinahe vier Prozent des Nettosozialprodukts (NSP) für ländliche Entwicklung und 910 Milliarden (13 Milliarden Euro) oder mehr als sieben Prozent des NSP für die Infrastruktur ausgegeben. Mitte der 1990er Jahre waren die Ausgaben für ländliche Entwicklung auf 2,6 Prozent des NSP zurückgegangen, und zusammen mit der Infrastruktur waren es weniger als sieben Prozent im Vergleich zu elf Prozent während des siebten Planes. Weitere Kürzungen fanden statt, so daß im Zeitraum 2000/2001 der Anteil der Kosten unter diesen Rubriken auf 5,8 Prozent des NSP zurückgefahren und der Anteil der ländlichen Entwicklung halbiert worden war und nur noch 1,9 Prozent ausmachte.

Es gibt keine ökonomischen Gründe für den Glauben, daß »Kapitalinvestition der öffentlichen Hand die private Kapitalanlage verdrängt«, wie das übliche Argument für die Reduzierung der Rolle des Staates in der ländlichen Entwicklung lautet. Genau das Gegenteil hat sich bei bestimmten Anlageformen gezeigt, beispielsweise bei allen Arten von Bewässerungsprojekten, die für eine von Bewässerung abhängige Landwirtschaft wie die indische lebenswichtig sind. Eine private Investition in einen Rohrbrunnen lohnt nur, wo der Grundwasserspiegel wegen der Versickerung aus den vom Staat gebauten Kanalbewässerungssystemen hoch bleibt und wo mit staatlicher Hilfe die in die Gemeinde eingebundene Pflege und Erhaltung des Wassereinzugsgebietes (das Pflanzen von Bäumen und der Gebrauch von Rückhaltedämmen) gefördert wird. Der private Raubbau am Grundwasser hat in vielen Bundesstaaten Indiens einen kritischen Punkt erreicht, an dem der Grundwasserspiegel rapide sinkt und nicht einmal die reichsten Bauern an Wasser herankommen, nachdem sie massiv in Bohrbrunnen und Tauchpumpen investiert haben. Andere infrastrukturelle Investitionen wie ländliche Energieprojekte, Straßen, Brücken, Schulen, Krankenhäuser und so weiter werden nie von privaten Anlegern übernommen.Sie sind aber wesentlich, um die Entwicklung anzukurbeln, und schaffen Lebensunterhalt direkt für diejenigen, die sie bauen, als auch über den wichtigen Multiplikatoreffekt auf Beschäftigung und Einkommen durch höhere Lohneinnahmen, die für einfache Konsumgüter und Dienstleistungen in den Dörfern ausgegeben werden. Dadurch erweitert sich auch der Markt für maschinell gefertigte Textilien und andere Waren.

Das Endergebnis dieser unklugen Kürzung öffentlicher Investitionen und der ländlichen Entwicklungsausgaben war eine Verlangsamung des Produktionssteigerung. Die Wachstumsraten sowohl des Nahrungsgetreides als auch anderer Kulturen haben sich in den 1990er Jahren verglichen mit den vor den Reformen liegenden 1980er Jahren fast halbiert, und beide sind unter die Wachstumsrate der Bevölkerung gesunken, obwohl sich diese auch verlangsamt hat.

Zunehmende Deindustrialisierung

Die Kürzung der staatlichen ländlichen Entwicklungsausgaben und die Beinahe-Halbierung der landwirtschaftlichen Produktionssteigerung haben zusammen eine erhebliche Arbeitslosigkeit hervorgerufen. Während der Periode der Wirtschaftsreformen wuchs die offene Arbeitslosigkeit rasch an, und zugleich sank die Zahl der Beschäftigungstage der Arbeiterschaft ab. Angesichts abnehmenden Wachstums der Ernteerträge war, selbst bei konstanten Arbeitskräftekoeffizienten (eingesetzte Arbeitstage pro Einheit des Ernteertrags), ein Abfallen des Beschäftigungswachstums um fast die Hälfte zu erwarten; aber die Verringerung von Arbeitsplätzen war noch größer, weil die Mechanisierung, insbesondere bei der Ernte, und die Anwendung chemischer Unkrautvernichtungsmittel, im Gegensatz zum Unkrautjäten von Hand, zu sinkenden Arbeitskräftekoeffizienten geführt hat. Zudem hat das Beschäftigungswachstum auf dem Lande außerhalb der Landwirtschaft, das durch die vergleichsweise hohen ländlichen Entwicklungsausgaben in den 1980er Jahren stabil war, in den 1990er Jahren abgenommen.

Niemand sollte annehmen, daß erwerbslose Landarbeiter fortziehen und in der Industrie Arbeit finden. Während der Reformzeit ist es auch in der verarbeitenden Industrie zu enormen Arbeitsplatzverlusten gekommen, und der Anteil des sekundären Sektors am Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist in den 1990er Jahren von 29 auf rund 22 Prozent zurückgegangen. Kurz gesagt, Indien hat eine Deindustrialisierung erlebt. Die landwirtschaftliche Depression hat den Anteil der Landwirtschaft am BIP von etwa einem Drittel zu Beginn der 1990er Jahre auf etwas über ein Fünftel ein Jahrzehnt später reduziert, aber die Arbeitskräfte und die von der Landwirtschaft abhängige Bevölkerung sind kaum geringer geworden, was sich im Rückgang des Pro-Kopf-Einkommens widerspiegelt. Mithin sind die beiden materiell produktiven Sektoren geschrumpft, und der einzige Sektor, der sich in unnormaler Art und Weise aufgebläht hat, ist der tertiäre oder Dienstleistungssektor, der nun mehr als die Hälfte des BIP erbringt.

Mit Softwaretechnik verbundene, hohe Einkommen erbringende Dienste, das Auslagern von Geschäftsprozessen, Inlandstourismus und dergleichen stellen nur einen kleinen Teil des Dienstleistungssektors dar. Den größeren Teil der Arbeitsplätze machen noch immer Aktivitäten geringer Produktivität aus, bei denen verdrängte Landarbeiter auf einem niedrigen Einkommensniveau verbleiben, während sie die Bedürfnisse der gut verdienenden Elite erfüllen, die ihr Realeinkommen schnell verbessern konnte. Das verfügbare Einkommen hat für diese Schicht sogar schneller zugenommen, weil ein Teil der neoliberalen Reformen die Reduzierung der direkten Steuersätze einschloß. Die Industrieländer haben diese gut verdienende Minderheit im Auge, die in Indien zehn bis 15 Prozent der Bevölkerung ausmacht, wenn sie für ihre Fabrik- und Landwirtschaftserzeugnisse den Zugang zum Markt fordern, und 100 bis 150 Millionen Menschen stellen zweifellos einen großen potentiellen Markt dar. Aber die Lage der gewaltigen Mehrheit der hauptsächlich ländlichen Bevölkerung, die nicht nur auf niedrigem Einkommensniveau verharrt, sondern deren Position heute beträchtlich schlechter ist als vor 15 Jahren, darf nicht unberücksichtigt bleiben. Da entwickelt sich eine potentiell höchst destabilisierende Situation.

Während der Einkommens- und Beschäftigungsrückgang infolge des deflationären Kurses der erste Hauptgrund für den Verlust an Kaufkraft im ländlichen Indien darstellt, besteht der zweite Hauptgrund im unklugen Öffnen für den globalen Markt durch eine komplette Handelsliberalisierung seit Mitte der 1990er Jahre, zu einer Zeit, als sich die Weltmärkte im Abschwung befanden und die Rohstoffpreise nachgaben -- ein Einbruch, der bis heute anhält.

Ruinierte Bauern

Die Anbauflächen Indiens verfügen mehr als in den meisten Entwicklungsländern über die Möglichkeit, eine weitgefächerte Bandbreite von Produkten hervorzubringen -- nicht nur die Feldfrüchte und Obstsorten, die im Sommer in gemäßigten Breiten gedeihen, sondern auch die typisch tropischen Kulturen, die in Industrieländern mit einem gemäßigten Klima gar nicht wachsen. Nachfrage nach den Produkten unseres Landes bestand seit mehr als 300 Jahren überall in den Industrieländern, sowohl für den direkten Verbrauch als auch, um ihren Rohstoffbedarf zu befriedigen. Allerdings hat historisch das Wachstum von Exporten aus der tropischen Landwirtschaft unter Freihandelssystemen immer zu einer Verringerung der einheimischen Nahrungsgetreideproduktion und -verfügbarkeit geführt und die Masse der Bevölkerung in zunehmende Unterernährung und in Extremfällen in Hungersnot gestürzt. In dem halben Jahrhundert vor der indischen Unabhängigkeit fiel die Nahrungsgetreideproduktion pro Kopf um fast 30 Prozent, während die für den Export bestimmten Kulturen zehnmal schneller zunahmen als das Nahrungsgetreide.

Theoretisch könnten mehr Rohstoffexporte aus Entwicklungsländern mit einer höheren Lebensmittelproduktion für den Inlandsbedarf einhergehen. Aber das ist nur möglich, wenn erheblich mehr investiert wird, um die Produktivität zu steigern, denn Boden ist eine nicht produzierbare Ressource, deren »Angebot« nur über Investitionsmaßnahmen zunehmen kann, die erlauben, auf einem Hektar zu produzieren, wozu früher zwei notwendig waren. Es ist auch erforderlich, daß die einheimische Massennachfrage wächst und nicht durch Einkommen dämpfende Maßnahmen oder überhöhte Besteuerung gehemmt wird, wie es unter Kolonialsystemen der Fall war.

Höchst beunruhigend am gegenwärtigen Vorstoß in Richtung Handelsliberalisierung ist, daß er im Rahmen eines Investitionen reduzierenden, deflationären Systems stattgefunden hat. Ich habe 1992 vorausgesagt, daß bei dem vorhandenen deflationären Klima die Handelsliberalisierung in Indien die Ernährungssicherheit unterhöhlen wird, und genau das ist eingetreten. Sobald seit 1991 der Handel freigegeben war, wurden innerhalb weniger Jahre acht Millionen Hektar Land von der Ernährung dienenden auf Exportkulturen umgestellt, was zu einem Rückgang der Pro-Kopf-Nahrungsgetreideproduktion führte. Aber die Bauern zogen keinen Nutzen daraus, weil sie seit der Mitte des Jahrzehnts dem Einbrechen der globalen Rohstoffpreise ausgesetzt waren und in zunehmende Verschuldung und Zahlungsunfähigkeit stürzten. Fast 9000 dokumentierte Selbstmorde von Bauern in Indien zwischen 1998 und 2005 sind nur die Spitze des Eisbergs. Es herrscht eine tiefgreifende Agrarkrise, und der Verbrauch von Nahrungsgetreide befindet sich in Indien wieder auf dem Niveau von vor 50 Jahren.

Handelsliberalisierung und Exportschub sind sinnvoll, wenn sich lokale und globale Märkte ausdehnen aufgrund einer expansiven Entwicklungsstrategie, die Wachstum in den materiell produktiven Sektoren, zunehmende Beschäftigung und Einkommen fördert. Aber wenn das Gegenteil geschieht, wenn sowohl global als auch in der lokalen Wirtschaft die vorherrschende politische Ansicht strikt deflationär ist wie gegenwärtig, dann bringt Handelsliberalisierung einen Abbau des materiellen Wohlstands in Entwicklungsländern mit sich. Indiens Erfahrungen seit 1991 bieten dafür ein gutes Beispiel.

Aufhebung der Schutzzölle

Als Unterzeichner des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT) schaffte Indien 1994 alle quantitativen Handelsbeschränkungen ab und stellte sich ab April 2001 auf Zölle um. Dabei wurde zur gleichen Zeit der durchschnittliche Zollsatz auf 35 Prozent gesenkt, oder deutlich unter den gebundenen Satz, der 100 Prozent für Feldfrüchte und 150 Prozent für verarbeitete landwirtschaftliche Produkte betrug. Indiens Handelsliberalisierungsdrang hätte zeitlich nicht ungelegener kommen können, denn die Märkte der Industrieländer befanden sich in der Rezes­sion, und die Weltmarktpreise für Primärprodukte kamen mit einem Absturz von 40 bis 50 Prozent ihrer Dollarpreise pro Einheit aller Kulturen -- Getreide, Baumwolle, Jute, Zucker, Tee, Kaffee -- und bis zu 80 Prozent bei einigen Ölpflanzen zwischen 1995 und 2001 gewaltig ins Trudeln.

Abgesehen von einer kurzen Steigerung 2002 sind die Preise ständig gefallen, und einige sind heute niedriger als 1986. Der Preis, den die Produzenten erhalten, liegt sogar unter dem Weltmarktpreis, weil für viele Produkte die Tätigkeit der staatlichen Absatzbehörden durch private transnationale Gesellschaften ersetzt wurde.

Während die Preise für indische Erzeuger von Exportprodukten fielen, wurde durch die Reform des Finanzsektors ihr Zugang zu kostengünstigen Krediten eingeschränkt. Seit der Verstaatlichung der Banken 1969 waren die Landwirtschaft und die Kleinindustrie als vorrangige Sektoren behandelt worden, die Bankkredite zu einem niedrigeren als dem durchschnittlichen Zinssatz erhielten. Aber das war mit den Finanzreformen zu Ende, und die Bauern wurden in die Abhängigkeit von privaten Geldverleihern und teuren Krediten (zu Wucherzinssätzen von 36 bis 60 Prozent im Jahr) getrieben. Andere entscheidende Produktionskosten einschließlich der Energiepreise wurden im Zusammenhang mit den neoliberalen Phrasen über das Kürzen von Subventionen (die im Vergleich mit Industrieländern schon dürftig waren) erhöht. Reduzierter Zollschutz bedeutete, daß Erzeuger von Reis, frischem Obst und Molkereiprodukten infolge des Zustroms gewöhnlich stark subventionierter ausländischer Waren Einkommensverlusten ausgesetzt waren.

Mehr als 6000 verschuldete Landwirte, hauptsächlich Baumwollbauern, haben zwischen 1998 und 2005 allein im Bundesstaat Andhra Pradesh Selbstmord begangen, als ihre Regierung, die mit der Weltbank ein Programm zur strukturellen Anpassung auf Landesebene vereinbart hatte, die Energiepreise fünfmal erhöhte, auch als die Baumwollpreise um die Hälfte zurückgingen. Auch im Punjab gab es über 1000 Selbstmorde von Bauern hauptsächlich im Baumwollgürtel. Neue Selbstmordserien wurden in Karnataka und Vidarbha registriert, und von 2001 bis 2005 wurden über 1250 Selbstmorde in Wayanad (Kerala) verzeichnet, als die Preise für die einheimischen Erzeuger von Kaffee, Tee und Gewürzen noch steiler abstürzten als die Weltmarktpreise, sobald große Gesellschaften den Aufkauf und die Vermarktung übernommen hatten. Daher betrug der Kaffeepreis, den der Pflanzer erhielt, nur ein Viertel, und der Preis für Tee und Pfeffer nur ein Drittel dessen, was 1999 üblich war.

Zunehmender Hunger

Indien hat von 1999 bis 2005 Rekordmengen Weizen und Reis ausgeführt, und sein Anteil am globalen Reis- und Weizenexport hat recht deutlich zugenommen. Trotz der drastischen Verlangsamung des Produktionswachstums exportierte Indien im Verlauf der beiden Jahre 2002 und 2003 22 Millionen Tonnen Nahrungsgetreide, und der Anteil des Getreideexports an der Gesamtausfuhr wuchs von unter einem Fünftel auf fast ein Viertel an. Der gestiegene Anteil des Handels am BIP spiegelt eine höhere Integration in den Welthandel wider. Während des schweren Dürrejahres, das mit dem Monsun 2002 begann, und obwohl die Getreideproduktion um 30 Millionen Tonnen niedriger war als im vorangegangenen Jahr, wurde von Juni 2002 bis November 2003 von der damaligen Regierung eine Gesamtmenge von 17 Millionen Tonnen Nahrungsgetreide ausgeführt. Oberflächlich sieht es so aus, als ob die Strategie der Handelsliberalisierung »funktioniert« hätte.

Die entscheidende Tatsache jedoch, die in offiziellen Veröffentlichungen und in den Schriften der Pro-Reform-Wirtschaftswissenschaftler verdrängt wird, besteht darin, daß die enorm angewachsene Getreideausfuhr zustande kam, weil immer mehr Mägen leergeblieben sind, denn Millionen Landarbeiter und Bauern verloren ihre Arbeit und mußten Einkommenseinbußen erleiden. Der Verzehr von Nahrungsgetreide hat heute in Indien im Ergebnis eines massiven Rückgangs der Kaufkraft besonders in den Dörfern infolge einer Kombina­tion von zunehmender Arbeitslosigkeit, steigenden Investitions- und Kreditkosten für Bauern sowie der Einwirkung des globalen Preisverfalls einen historischen Tiefpunkt erreicht.

* Utsa Patnaik ist Professorin für Wirtschaftswissenschaften am Zentrum für Ökonomische Studien und Planung der Jawaharlal-Nehru-Universität in Neu-Delhi

Erscheint in diesen Tagen:
Utsa Patnaik: Unbequeme Wahrheiten. Hunger und Armut in Indien. Aus dem Englischen übertragen von Annemarie Hafner. Draupadi Verlag, Heidelberg, 240 S., 19,80 Euro

* Aus: junge Welt, 14. September 2009


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