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Liebe als "Familienschande"

Auch in Indien sind sogenannte Ehrenmorde alles andere als Einzelfälle

Von Thomas Berger *

In Indien werden die Rufe nach einer Ergänzung des Strafrechts um einen eigenen Punkt zu sogenannten Ehrenmorden lauter. Auslöser ist ein Drama, das sich kürzlich in der Nähe von Delhi abspielte. Zwei junge Leute waren von Angehörigen ermordet worden. Nidhi (20) und ihr Freund Dharmender (23) waren bereits seit drei Jahren ein Paar und hatten nun in der 90 Kilometer von ihrer Heimat entfernten Hauptstadt heimlich geheiratet. Als sie in ihr Dorf zurückgekehrt waren, töteten Nidhis Eltern erst ihre Tochter. Kurz darauf enthaupteten sie den Schwiegersohn, nachdem sie ihn mißhandelt hatten. »Ich habe nichts Falsches getan, und ich würde es wieder tun«, sagte der neben weiteren Angehörigen verhaftete Vater.

Im Bundesstaat Haryana, wo sich die Bluttat Mitte September ereignete, gelten Angehörige der gleichen Unterkaste aus demselben Dorf als Bruder und Schwester und dürfen demnach gemäß der Tradition nicht heiraten. Mehrfach bereits haben die Khaps, eine spezielle Form althergebrachter Dorfräte, »Urteile« gefällt, nach denen es zu »Ehrenmorden« kam.

Bemerkenswert ruhig hat sich die Politik verhalten. Weder von der in Delhi die Regierung anführenden Kongreßpartei (INC) noch von der größten Regionalpartei Haryanas, der INLD, wurde der Doppelmord offiziell verurteilt. Offenbar wollen sich ihre Vertreter nicht öffentlich gegen die im Bundesstaat starke Tradition stellen. In dieses Bild paßt auch, daß erst vor wenigen Monaten der Vorstoß von Nichtregierungsorganisationen ins Leere lief, gesetzlich stärker gegen solche Verbrechen vorzugehen, die wenigstens der Oberste Gerichtshof Indiens als besonders verwerflich eingestuft hat.

Wer in Indien aus Liebe heiratet, gerade auf dem Lande, riskiert damit nicht selten sein Leben. Einige Fälle hat das Bündnis »Stop Honour Killings« dokumentiert. Es berichtete u.a. von einem Mordfall, der im August geschah: Im südöstlichen Unionsstaat Andhra Pradesh wurde eine junge Frau getötet und ihr Ehemann schwer verwundet. Das Paar – er Hindu, sie Muslima – hatte ein Jahr zuvor heimlich geheiratet und war auf Besuch im Heimatdorf, als der Bruder des Mordopfers mit einem Messer erst auf seine Schwester einstach und danach deren Mann verletzte. Es ist nur ein weiterer von etwa 1000 »Ehrenmorden« pro Jahr in Indien. Einer 2011 veröffentlichten Studie zufolge ist die Dunkelziffer noch weitaus höher. Laut dieser Untersuchung ist die Zahl solcher Fälle in den letzten Jahren auch wegen des zunehmenden »Männerüberschusses« auf dem Heiratsmarkt angestiegen. Dies wiederum liegt daran, daß seit Einführung der Ultraschalluntersuchungen in der Schwangerschaft in den 80er Jahren in Indien weibliche Föten oft abgetrieben werden. Ein weiterer Grund für die Verfolgung Liebender: Immer mehr junge Leute wehren sich gegen die traditionelle Zwangsverheiratung.

Im Juni erhielt übrigens ein indisches Ehepaar offiziell Asyl in Australien, weil es von Verwandten mit dem Tode bedroht worden war. Die aus Haryanas Nachbarbundesstaat Punjab Stammenden hatten eine interkonfessionelle Ehe geschlossen. Die australische Einwanderungsbehörde hatte den Asylantrag zwar zunächst abgelehnt, ein Gericht in Canberra erkannte im Widerspruchsverfahren aber ein besonderes Schutzrecht des Flüchtlingspaares an.

* Aus: junge Welt, Freitag, 25. Oktober 2013


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