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Ehefrau mit acht Jahren

Indien: Angesichts zunehmender sexueller Gewalt fordern Politiker die Absenkung des gesetzlichen Heiratsalters von Mädchen – angeblich zum Schutz vor Übergriffen

Von Thomas Berger, Vijayawada *

Die schockierende Geschichte von Reshma schaffte es bis auf die Titelseiten der großen indischen Zeitungen. So widmete The Hindu dem Martyrium der 16jährigen aus dem nordindischen Unionsstaat Haryana (westlich der Hauptstadt Delhi) einen Hauptbeitrag. Auf dem Weg zum Haus ihrer Großmutter war Reshma am 9. September von einer Gruppe Männer entführt und brutal vergewaltigt worden. Das Verbrechen wurde jedoch erst jetzt im ganzen Land bekannt. Die junge Frau erstattete zehn Tage nach dem traumatischen Ereignis Anzeige bei der Polizei – trotz der Drohung der Täter, ihre ganze Familie umzubringen und mit einer Handykamera gemachte Aufnahmen der Vergewaltigung zu veröffentlichen. Dem Vater des Mädchens zeigten die Täter die Bilder – er nahm sich danach das Leben.

Der Vorfall ist einer von vielen: Insbesondere im nördlichen Indien steigt die Zahl sexueller Übergriffe, von Kidnappings und Vergewaltigungen. Skandalös sind auch die Schlußfolgerungen, die etliche Politiker aus der Entwicklung ziehen. Sie fordern, das gesetzliche Mindestalter, das Mädchen bei ihrer Hochzeit haben müssen, schnellstens von 18 auf 14 Jahre zu senken und sie so vor Gewalttaten zu schützen.

Zugleich kämpfen im ganzen Land lokale Initiativen gegen die noch immer weit verbreitete Praxis, Minderjährige zu verheiraten. Weltweit wurde vergangene Woche aus Anlaß des ersten UN-Weltmädchentages am 11. Oktober ein Ende der Zwangsvermählung von Mädchen gefordert. Sie müsse »wie Sklaverei geächtet werden«, verlangten Menschenrechtsaktivistinnen. Der »International Day of the Girl Child« wurde auf Initiative des Kinderhilfswerks Plan International ins Leben gerufen, seine Einführung 2011 von der UN-Vollversammlung beschlossen. Auf einer Veranstaltung zu diesem Aktionstag in der südindischen Großstadt Vijayawada wandten sich etliche Rednerinnen vehement gegen die Kinderehe. Noch immer werde in Indien jedes zweite Mädchen verheiratet, bevor es das 18. Lebensjahr vollendet hat. Weltweit trifft dieses Schicksal nach Angaben der Vereinten Nationen jedes Jahr fast zehn Millionen minderjährige Mädchen. Expertinnen machten darauf aufmerksam, daß diese Ehen neben dem Leid, das sie insbesondere den Mädchen oft bringen, Armut und Bildungsdefizite verfestigen. »Kinder werden aus der Schule genommen und bekommen selbst Kinder, die sie oftmals kaum ernähren können und darum früh verheiraten«, sagte Andrea Wagner-Hager, Geschäftsführerin der Organisation Care Österreich, vergangene Woche in Wien.

Im Westen ist das Phänomen vor allem durch die verfilmte Lebensgeschichte der 2001 im Alter von 37 Jahren ermordeten »Banditenkönigin« und Frauenrechtlerin Phoolan Devi bekannt, die in Nordindien bereits als Elfjährige mit einem weitaus älteren Mann verheiratet, später mehrfach vergewaltigt wurde und sich als Anführerin einer Gruppe Dacoits (Räuber) an ihren Peinigern rächte.

Bis heute, so Rednerinnen in Vijayawada, werden teilweise schon Achtjährige vermählt. In einem berühmten Tempel im Südosten des Unionssstaates Andhra Pradesh, wo Vijayawada liegt, wird alljährlich eine Massenhochzeit von bis zu 10000 Paaren aus armen Familien gefeiert, viele der Bräute sind noch Kinder. Inzwischen habe man die Zahl der Minderjährigen »auch dank unserer Kampagnen auf nur noch 26 im vergangenen Jahr« senken können, so eine Rednerin, die als Projektmanagerin in dieser Region im Einsatz ist.

Die Forderung, das ohnehin noch viel zu selten eingehaltene offizielle Heiratsalter abzusenken, entrüstet die Frauenrechtlerinnen im Frauenverein Vasavya Mahila Mandali (VMM), der zu der Veranstaltung in Vijayawada eingeladen hatte. Gleichwohl sehen sie das Problem, 14-, 15jährige Mädchen, die in diesem Alter in der Regel die Schule beendet haben, vor früher Verheiratung und sexuellen Übergriffen gleichermaßen wirksam zu schützen. Von der freien Wahl eines Partners spricht ohnehin keiner: Nach wie vor sind etwa 95 Prozent aller Eheschließungen in Indien von den Familien arrangiert. Geheiratet wird zudem noch immer meist streng nur in der eigenen Religionsgemeinschaft sowie bei den Hindus innerhalb der eigenen Kaste und Subkaste.

Daß bei den Vergewaltigungsfällen überdurchschnittlich viele Opfer – so auch Reshma – zu den niedrigsten Kasten gehören, wird von den gleichen Politikern, die einer Absenkung des Heiratsalters das Wort reden, vehement bestritten. Ein Abgeordneter der regierenden Kongreßpartei (INC), der sogar öffentlich befand, die meisten vergewaltigten Frauen seien doch selbst schuld, wurde von seiner Partei nur mit einer sanften Rüge bedacht.

* Aus: junge Welt, Freitag, 19. Oktober 2012


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