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Gandhis Leben ist seine Botschaft

Zwei Berliner verbreiten unentwegt die Ideen des vor 60 Jahren ermordeten Mahatma

Von Jochen Reinert *

Am Morgen des 30. Januar 1948 löschte ein fanatischer Hindu das Leben Mahatma Gandhis aus, der seinen Landsleuten »Ahimsa« (Gewaltfreiheit) gepredigt hatte. Die Berliner Gandhi-Experten Peter Rühe und Christian Bartolf widmeten ihr Leben der Verbreitung der Vision des großen indischen Freiheitskämpfers – auf sehr unterschiedliche Weise.

Ein kleines Wunder in einem Seitenflügel der Lübecker Straße 44 in Berlin-Moabit: Im gerade gegründeten Gandhi-Informationszentrum dehnt sich an hohen Wänden eine umfangreiche Bibliothek, Schriften von und über Mahatma Gandhi, Führer der indischen Unabhängigkeitsbewegung. Die beiden »Väter« des Zentrums, Peter Rühe und Christian Bartolf, sind von ihrer Mission erfüllt, Gandhis Botschaft in den eben wiedervereinten deutschen Landen zu verbreiten.

Der Programmierer Rühe und der Politologe Bartolf publizierten schon seit Anfang der 80er Jahre Texte zu Mahatma und erregten 1984 mit ihrer ersten Gandhi-Ausstellung Aufmerksamkeit. Doch diese Gemeinsamkeit ist längst Geschichte. »Wir haben uns lange gut ergänzt«, erinnert sich Peter Rühe, »aber Mitte der 90er Jahre trennten wir uns.« Die beiden Anhänger Mohandas Karamchand Gandhis, der den Ehrennamen »Mahatma« (Große Seele) erhielt, schlugen verschiedene Wege ein, um seine Botschaft lebendig zu halten.

Graben nach Wurzeln der Gewaltfreiheit

Den Politologen Christian Bartolf drängte es, »die Wurzeln der Gewaltfreiheit in den unterschiedlichen Traditionen zu dokumentieren«. Schon als Student an der Berliner Freien Universität stieß er auf den Tolstoischen Einfluss auf Gandhi, widmete sich dem russischen Denker in seiner Diplomarbeit – ein Forschungsfeld, das Bartolf weiter bestellt. Zugleich suchte er die Zusammenhänge zwischen Gandhi und dessen südafrikanischem Mitstreiter Hermann Kallenbach zu ergründen, regte den einstigen DDR-Botschafter Herbert Fischer in Indien an, seine Begegnungen mit Gandhi in einer Schrift zu schildern. »Mir geht es darum, verborgene Traditionen sichtbar zu machen«, sagt Bartolf, »wiederzubeleben, was verschüttet war, Gedankenlinien bis hin zu Hannah Arendt in den west-östlichen Dialog einzubringen.«

Das Graben nach den Wurzeln der Gewaltfreiheit mündete 1993 in der erstmaligen Verbreitung des »Manifests gegen die Wehrpflicht und das Militärsystem«. Christian Bartolf befasste sich mit den beiden Anti-Wehrpflicht-Manifesten von 1926 und 1930, die von Gandhi, Einstein, Tagore, Thomas Mann und vielen anderen signiert worden waren, und aktualisierte sie durch einen kurzen prägnanten Text. Das neue Manifest will »jeden dazu ermutigen, sich vom Militärsystem zu emanzipieren« und in der Tradition von Mahatma Gandhi und Martin Luther King »Methoden des gewaltfreien Widerstands anzuwenden«. Als Beispiele werden genannt: Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen, ziviler Ungehorsam, Kriegssteuerverweigerung sowie Nichtzusammenarbeit mit der militärischen Forschung, der Rüstungsproduktion und dem Waffenhandel. Die anhaltende Resonanz ist für Bartolf erstaunlich. »Das Manifest ist heute in 25 Sprachen übersetzt und von hunderten Persönlichkeiten und Organisationen aus zahlreichen Ländern unterzeichnet«, gibt er zu Protokoll.

Kriegsdienstverweigerung – das sollte für Christian Bartolf kein leeres Wort bleiben. Er selbst verweigerte sich jeglichem Militärdienst und engagierte sich – bestärkt von Gandhis Worten »Der erste Schritt zur Abschaffung des militärischen Ungeistes ist zweifellos die Abschaffung der Wehrpflicht« – viele Jahre lang als professioneller Berater für Kriegsdienstverweigerer. Von 1991 bis Ende 2006 verhalf er über 20 000 Beratungssuchenden zur Anerkennung als Verweigerer. Enttäuschend für ihn, dass die Evangelische Kirche nun keinen landeskirchlichen Beauftragten für die Beratung mehr hat.

Spurensuche an Erinnerungsstätten

Der Programmierer Peter Rühe ging derweil für längere Zeit nach Indien und gründete 2002 die GandhiServe-Stiftung. Seine Spezialität ist die Sammlung und die Konservierung visueller Materialien über Gandhi. »Ich hatte großes Glück«, erzählt er, »die von Vithalbhai Jhaveri und Kanu Gandhi angelegten, weltweit umfangreichsten Fotosammlungen über Mahatma und die indische Unabhängigkeitsbewegung archivieren zu können.«

Rühe begibt sich in Indien immer wieder auf die Spuren Gandhis, unterhält intensiven Kontakt zu den Nachkommen der »Großen Seele«. Da ist es kein Wunder, wenn der deutsche Reisende in Gandhi-Erinnerungsstätten gefragt wird: »Kennen Sie Peter Rühe?« Im Mani Bhavan von Mumbai war es die ehrwürdige Usha Mehta. Lächelnd erinnert sich Rühe: »Ushabehn, Schwester Usha, wie sie von allen genannt wurde, war meine gandhische Ziehmutter, die mich Anfang der 80er Jahre auf den Gandhi-Pfad brachte.«

Die Motivation für die unentwegte Sammlung und Sicherung Gandhischer Bild- und Tondokumente fasst Rühe in den Satz: »Wenn man Gandhi gerecht werden will, muss man sein Leben im Detail präsentieren und die unterschiedlichen Medien nutzen, um ein breites Publikum zu erreichen.«

Im Detail präsentieren – das ist für Rühe auch deshalb unverzichtbar, weil Gandhi seine Anhänger auf die Frage nach seiner Lehre immer wieder mit dem weisen Satz beschied: »Mein Leben ist meine Botschaft.« In diesem Sinne hat Rühe mehr als 10 000 Fotos und 3000 andere Dokumente archiviert. Dabei tritt er bewusst hinter die Originale zurück. Zwar publizierte er im Phaidon Verlag (London/New York) eine profunde Bildbiografie Gandhis, sieht sich aber vor allem als Unterstützer von Dokumentarfilmen, Fernsehproduktionen oder Ausstellungen.

Die »Große Seele« – ein Superstar?

Mit etwas gemischten Gefühlen registriert Rühe: »Gandhi ist ein Kunstobjekt geworden. In vielen Filmen, in Theaterstücken, ja in Opern begegnet er uns als Hauptgestalt, als Übervater.« Als Beispiel führt er den Film »Lage Raho Munna Bhai« an, eine in der Welt junger Leute angesiedelte poppige Gandhi-Story, 2006 die Nr. 1 an Indiens Kinokassen. Gandhi gerät hier zur Pop-Ikone – aber Rühe sieht auch, »dass auf diese Weise Menschen erreicht werden, die sich sonst nicht mit Gandhi beschäftigen würden«.

Ähnliches beobachtet er auch in Großbritannien oder den USA, wo im April eine Gandhi-Oper an der New Yorker Metropolitan auf die Bühne kommt. Für Rühe kein Wunder: »Bei Umfragen um das Jahr 2000 nach den wichtigsten Gestaltern des 20. Jahrhunderts war nicht nur Gandhi immer dabei, sondern auch Martin Luther King, der Dalai Lama oder Mutter Teresa, die sich auf ihn bezogen.«

»Die von Gandhi vorgelebten Ideen der Gewaltfreiheit, der Wahrheit und der Liebe sind zeit- und grenzenlos«, ist Rühe sicher. Dabei denkt er an Gandhis Engagement für soziale Gerechtigkeit ebenso wie an seinen Umgang mit der Natur. »In einer Welt, die auf eine ökologische Katastrophe zutreibt, bietet er Lösungsansätze: ein Leben im Einklang mit der Natur, ein nachhaltiges Leben ohne maßlosen Verbrauch an Ressourcen und Energie.«

Der deutsche Gandhi-Experte verhehlt aber auch nicht: »Mahatmas Ideen sind in Indien nicht hinreichend umgesetzt.« Da denkt er an bewaffnete Konflikte in mehreren Landesteilen, gewaltsame soziale Kämpfe, an religiös motivierte Gewaltakte, an die oft brutale Diskriminierung von Dalits, für die sich Gandhi – er nannte sie »Harijans« (Kinder Gottes) – so sehr eingesetzt hatte. Rühes Hoffnung ruht auf »vielen Basisinitiativen, die sich auf ihn berufen, tolle Leute, damit beschäftigt, ein friedfertigeres, humaneres, umweltfreundlicheres Indien zu schaffen«.

Die UNO kann auch schnell reagieren

Christian Bartolf war als Vorsitzender des Gandhi-Informationszentrums voriges Jahr zu einer Regierungskonferenz am 30. Januar, dem Jahrestag der Ermordung Gandhis, nach Indien eingeladen. Offizielle Delegierte aus 90 Ländern und Abgesandte verschiedener Organisationen debattierten über »Frieden und Gewaltfreiheit – Gandhis Philosophie im 21. Jahrhundert«. Am Ende schlugen sie der UNO vor, den 2. Oktober, Gandhis Geburtstag, künftig als »Internationalen Tag der Gewaltfreiheit« zu begehen. Bartolf ist davon sehr angetan, wobei in der Hauptstadt der Atommacht Indien, wie er trocken feststellt, »ein einseitiger Verzicht auf Kernwaffen wie von Kasachstan oder Südafrika nicht thematisiert wurde«.

Die UNO reagierte schnell: Schon ein halbes Jahr später führte sie einen solchen Tag ein; am 2. Oktober 2007 wurde er zum ersten Mal begangen. Wie viele Gandhi-Freunde sehen Bartolf und Rühe hier eine Chance, Mahatmas Botschaft in die Welt zu tragen – am besten, wenn jeder Tag als Tag der Gewaltfreiheit gelebt würde. Unter diesem Gesichtspunkt richtete Rühe unter www.gandhiserve.de ein »Mahatma Gandhi Community Forum« ein – Raum für Gedankenaustausch über die »hochaktuellen Impulse« des indischen Denkers.

Kein Wunder, dass die beiden Berliner Gandhi-Experten auch am 60. Todestag in Sachen ihres Ideengebers unterwegs sind. Christian Bartolf geht zur Eröffnung der Ausstellung »Gandhis Weg zur Gewaltlosigkeit«, an der er mitwirkte, in das Berliner Anti-Kriegs-Museum. Peter Rühe fährt nach Amsterdam. Dort hebt sich der Vorhang für ein weiteres von der GandhiServe-Stiftung unterstütztes Projekt – ein Gandhi-Musical.

* Aus: Neues Deutschland, 29. Januar 2008


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