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181 Millionen Inder mehr

Frauenaktivistinnen besorgt über Geschlechterproporz

Von Hilmar König *

Indiens Generalregistrator C. Chandramouli gab vorige Woche die ersten vorläufigen Resultate der Volkszählung »Census 2011« bekannt. In den zehn Jahren seit der vorangegangenen Zählung wuchs die Nation um 181 Millionen auf 1,21 Milliarden Bürger. Das sind 17,5 Prozent der Weltbevölkerung. Allein der Unionsstaat Uttar Pradesh hat etwa so viele Bewohner wie Deutschland, Frankreich und Großbritannien zusammen.

Suraj Kumar aus dem Unionsstaat Bihar ist 13 Jahre alt. Jeden Tag säubert er die Abteile im »Mahananda-Express« New Delhi – New Jalpaiguri. Schweigend kehrt er mit einem Besen aus Reisstroh den Unrat der Passagiere zusammen, klaubt ihn mit seinen Fingern auf und steckt ihn in einen Sack. Manchmal spendiert ihm jemand ein paar Brotfladen, manchmal ein Rupienstück und manchmal versetzt ihm ein Fahrgast, der sich gestört fühlt, einen Tritt.

Gewöhnlich unterhält sich niemand mit Suraj Kumar. Deshalb blickt er erstaunt auf, als ich ihn nach seinem Namen frage. Gleich darauf staune ich, als er fragt: »Darf ich meinen Namen selber in Ihr Notizbuch schreiben?« Ab und an, so erzählt Suraj bereitwillig, besucht er eine Schule. Säuberlich schreibt er seinen Namen in lateinischen Druckbuchstaben nieder. Der Junge kann auch Englisch und Hindi lesen. Und wie steht’s mit dem Rechnen? »Kann ich auch«, versichert er und besteht die Probe: »Neun plus acht?« Suraj zählt mit Hilfe seiner Finger und antwortet richtig: »17«.

Der Junge gehört zu den 217 Millionen Indern, die seit 2001 Lesen und Schreiben gelernt haben. 74 Prozent der Bevölkerung sind jetzt Alphabeten. Bei den Männern wuchs ihr Anteil von 75 auf 82, bei den Frauen von 53,6 auf 65,5 Prozent. Immer noch frappierend ist die Differenz zwischen Männern und Frauen, obwohl letztere aufgeholt haben. In manchen Landesteilen sind die Unterschiede extrem, beispielsweise in Rajasthan, wo 80,5 Prozent der Männer und nur 52,7 Prozent der Frauen lesen und schreiben können. Der südliche Bundesstaat Kerala steht am besten da. In dieser Region sind 92 Prozent der Frauen schreib- und lesekundig. Schon in den 50er Jahren hatte hier eine linke Regierung für faire Bildungschancen gesorgt.

Die Regierung erwartet von der Alphabetisierung Impulse für weiteres Wachstum der Wirtschaftskraft. Kritiker aber meinen, die 74 Prozent Alphabeten sagten überhaupt nichts über den Grad der Bildung aus. Gefragt wurde lediglich, ob der Bürger lesen und schreiben kann und wie er es lernte. Ein Beweis dafür wurde nicht gefordert. Und die Grundrechenarten ließ man gänzlich unberücksichtigt.

Mit gemischten Gefühlen haben die Demografen die Ergebnisse zum Geschlechterverhältnis aufgenommen. Einerseits hat sich insgesamt das Verhältnis etwas verbessert: Auf 1000 Männer entfallen im Durchschnitt 940 Frauen; im Jahr 2001 waren es 933. Der Frauenanteil an der Bevölkerung beträgt damit 48,5 Prozent – der höchste seit Erlangen der Unabhängigkeit 1947. Andererseits ist der Geschlechterproporz in der Altersgruppe bis sechs Jahre alarmierend: 914 Mädchen auf 1000 Jungen. 2001 waren es noch 927 Mädchen.

»Sind wir wirklich eine Nation, die ihre weibliche Bevölkerung so sehr hasst, dass sie Mädchen tötet, bevor sie geboren sind? Obwohl wir wissen, was das Fehlen von Frauen für eine Gesellschaft bedeutet.« Empört schrieb das Urvasha Butalia, Chefin des feministischen Verlages »Zubaan«. Die Wahrheit sei, dass ein Land, das seine Frauen so abwertet, es nicht verdient, stolz auf sein Wirtschaftswachstum zu sein, wenn es offenbar auf »dem Massenmord seiner Mädchen beruht«. Es gebe im Unionsstaat Haryana, wo das Verhältnis gar 830 Frauen zu 1000 Männer ist, bereits Dörfer ganz ohne Frauen.

Die kommunistische Parlamentsabgeordnete Brinda Karat führte drei Gründe für diese »nationale Schande« an: Es existiere kein politisches Programm, in dem das gesellschaftliche Problem ernsthaft behandelt wird. Nach wie vor bestehe die Tradition einer krassen Bevorzugung männlicher Nachkommen, die bis zum Mord führt. Und das Gesetz, das vorgeburtliche Tests zur Feststellung des Geschlechts verbietet, werde nicht strikt genug durchgesetzt. Per Ultraschall lassen jene Bürger, die sich das finanziell leisten können, noch immer solche Tests machen. Im »negativen Fall«, also wenn es sich um einen weiblichen Fötus handelt, wird oft abgetrieben. Die weniger Betuchten »lösen« einen solchen Fall, indem sie die Neugeborene töten oder das Mädchen so vernachlässigen, dass es keine Überlebenschance hat.

Zufrieden hingegen sind die Experten damit, dass das Bevölkerungswachstum in den vergangenen zehn Jahren deutlich zurückgegangen ist, von 21,5 auf 17,6 Prozent im Jahrzehnt. »Die Daten zeigen«, so Professor Kulkarni von der Jawaharlal Nehru University in Delhi, »dass Indien sich in einer demografischen Übergangsphase befindet. Wir müssen uns nicht länger Sorgen um eine ›Bevölkerungsbombe‹ machen. Die Zahlen beginnen sich zu stabilisieren.« Freilich sind die Inder auch mit diesem geringeren Bevölkerungszuwachs dem »Weltmeister« China (1,34 Milliarden Einwohner) dicht auf den Fersen. Machen sie so weiter, haben sie den Nachbarn 2030 überholt.

Das komplette Resultat des »Census 2011« wird frühestens zum Jahresende vorliegen.

* Aus: Neues Deutschland, 6. April 2011


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